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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Sozialxsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten

sammenstöße der Straßenbahnwagen vermieden werden,*) an die Konstruktion
der Leichenwagen, die diese mit der Trauerkutsche vereinigt, was doch nichts
Pietätverletzendes hat, an die Anlage vieler Wohnungstüren, die mit einer
vergitterten, von innen zu öffnenden Glasscheibe versehen sind, wodurch man
auf sichre und doch nicht verletzende Weise mit dem Außenstehenden verkehren
kann, ehe man öffnet. Leider scheint diese so praktische Einrichtung in den
neuern Häusern mehr und mehr abzukommen, und das leidige Guckloch an seine
Stelle zu treten.

Die schöne Wechselwirkung, wie man sie zwischen Gemüt und Verstand,
Geduld und Energie, Höflichkeit und Bestimmtheit im Wesen des Leipzigers
beobachtet, zeigt sich auch da. wo es sich um Vereinigung des individuellen
und des sozialen Prinzips handelt, in den kommunalen Einrichtungen und
Privaten Wohltütigkeitsstiftungen sowie sonstigen Bestrebungen, die darauf gerichtet
sind, neben den materiellen auch ideellen Interessen zu dienen. Gerade die Her¬
stellung des möglichsten Gleichgewichts zwischen diesen beiden Extremen ist
ja das höchste Ziel aller Vcrwaltungskunst und aller sozialen Fürsorge. Einige
Beispiele, zunächst aus der Verwaltung, mögen das erläutern, möglichst wieder
im Hinblick auf andre Großstädte. Da ist zunächst die Art der Besteuerung.
In Berlin besteht die Bestimmung, daß sich jemand, der weniger als 3000 Mark
Einkommen hat, nicht selbst einschätzen darf, sondern von eigens dazu bestellten
Privatleuten, die ihm ins Haus kommen, einer Art gerichtlichen Verhörs unter¬
zogen wird, wobei er diesen ihm ganz unbekannten Leuten seine ganzen Ver¬
mögensverhältnisse offenbaren muß. Dieses bevormundende und demütigende
System kennt man in der alten Bürgerstadt Leipzig nicht; hier schätzt sich jeder,
auch der Arbeiter, selbst ein, wobei er sich nur zu einer wahrheitsgetreuer
Beantwortung sämtlicher schriftlich an ihn gerichteter Fragen verpflichtet. Ich
meine, nur so ist es eines freien Bürgers würdig, während jenes System ihn
zu einem Hörigen macht, der keiner eignen Verantwortung fähig ist. Es kenn¬
zeichnet dieses Beispiel gut die verschiedne Schätzung der Persönlichkeit in einem
von polizeilichem und einem von bürgerlichem Geiste beseelten Gemeinwesen.
Auch sonst bringt man in Leipzig dem Einzelnen mehr Vertrauen entgegen.
So ist z. B. der Zutritt zum Lesesaal der Universitätsbibliothek jedem ohne
Formalitüten zugänglich, nur daß er sich in ein dort aufliegendes Buch einzu¬
tragen hat. Auch in der Art der Benutzung der für den Lesesaal bestellten
Bücher kommt im möglichsten Umfang das Selbstbedienungssystem zur Anwen¬
dung. Mes im Schulwesen scheint die Bureaukratisierung nicht so weit vor¬
geschritten zu sein wie z. B. in preußischen Großstädten (wenn ich auch manche
Klagen darüber aus Volksschullehrerkreisen zu hören bekam). So ist z. B. den



*) Anbringung eines viereckigen Glaskastens in den Leitungsdrähten, mit grünen und
roten Scheiben, auf deren jeder das Wort "Halt" steht. Je nachdem dieses Signal in oder
außer Kraft treten soll, wird der Kasten durch die Kontaktstange des vorbeifahrenden Wagens
erleuchtet oder verdunkelt.
Sozialxsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten

sammenstöße der Straßenbahnwagen vermieden werden,*) an die Konstruktion
der Leichenwagen, die diese mit der Trauerkutsche vereinigt, was doch nichts
Pietätverletzendes hat, an die Anlage vieler Wohnungstüren, die mit einer
vergitterten, von innen zu öffnenden Glasscheibe versehen sind, wodurch man
auf sichre und doch nicht verletzende Weise mit dem Außenstehenden verkehren
kann, ehe man öffnet. Leider scheint diese so praktische Einrichtung in den
neuern Häusern mehr und mehr abzukommen, und das leidige Guckloch an seine
Stelle zu treten.

Die schöne Wechselwirkung, wie man sie zwischen Gemüt und Verstand,
Geduld und Energie, Höflichkeit und Bestimmtheit im Wesen des Leipzigers
beobachtet, zeigt sich auch da. wo es sich um Vereinigung des individuellen
und des sozialen Prinzips handelt, in den kommunalen Einrichtungen und
Privaten Wohltütigkeitsstiftungen sowie sonstigen Bestrebungen, die darauf gerichtet
sind, neben den materiellen auch ideellen Interessen zu dienen. Gerade die Her¬
stellung des möglichsten Gleichgewichts zwischen diesen beiden Extremen ist
ja das höchste Ziel aller Vcrwaltungskunst und aller sozialen Fürsorge. Einige
Beispiele, zunächst aus der Verwaltung, mögen das erläutern, möglichst wieder
im Hinblick auf andre Großstädte. Da ist zunächst die Art der Besteuerung.
In Berlin besteht die Bestimmung, daß sich jemand, der weniger als 3000 Mark
Einkommen hat, nicht selbst einschätzen darf, sondern von eigens dazu bestellten
Privatleuten, die ihm ins Haus kommen, einer Art gerichtlichen Verhörs unter¬
zogen wird, wobei er diesen ihm ganz unbekannten Leuten seine ganzen Ver¬
mögensverhältnisse offenbaren muß. Dieses bevormundende und demütigende
System kennt man in der alten Bürgerstadt Leipzig nicht; hier schätzt sich jeder,
auch der Arbeiter, selbst ein, wobei er sich nur zu einer wahrheitsgetreuer
Beantwortung sämtlicher schriftlich an ihn gerichteter Fragen verpflichtet. Ich
meine, nur so ist es eines freien Bürgers würdig, während jenes System ihn
zu einem Hörigen macht, der keiner eignen Verantwortung fähig ist. Es kenn¬
zeichnet dieses Beispiel gut die verschiedne Schätzung der Persönlichkeit in einem
von polizeilichem und einem von bürgerlichem Geiste beseelten Gemeinwesen.
Auch sonst bringt man in Leipzig dem Einzelnen mehr Vertrauen entgegen.
So ist z. B. der Zutritt zum Lesesaal der Universitätsbibliothek jedem ohne
Formalitüten zugänglich, nur daß er sich in ein dort aufliegendes Buch einzu¬
tragen hat. Auch in der Art der Benutzung der für den Lesesaal bestellten
Bücher kommt im möglichsten Umfang das Selbstbedienungssystem zur Anwen¬
dung. Mes im Schulwesen scheint die Bureaukratisierung nicht so weit vor¬
geschritten zu sein wie z. B. in preußischen Großstädten (wenn ich auch manche
Klagen darüber aus Volksschullehrerkreisen zu hören bekam). So ist z. B. den



*) Anbringung eines viereckigen Glaskastens in den Leitungsdrähten, mit grünen und
roten Scheiben, auf deren jeder das Wort „Halt" steht. Je nachdem dieses Signal in oder
außer Kraft treten soll, wird der Kasten durch die Kontaktstange des vorbeifahrenden Wagens
erleuchtet oder verdunkelt.
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[0257] Sozialxsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten sammenstöße der Straßenbahnwagen vermieden werden,*) an die Konstruktion der Leichenwagen, die diese mit der Trauerkutsche vereinigt, was doch nichts Pietätverletzendes hat, an die Anlage vieler Wohnungstüren, die mit einer vergitterten, von innen zu öffnenden Glasscheibe versehen sind, wodurch man auf sichre und doch nicht verletzende Weise mit dem Außenstehenden verkehren kann, ehe man öffnet. Leider scheint diese so praktische Einrichtung in den neuern Häusern mehr und mehr abzukommen, und das leidige Guckloch an seine Stelle zu treten. Die schöne Wechselwirkung, wie man sie zwischen Gemüt und Verstand, Geduld und Energie, Höflichkeit und Bestimmtheit im Wesen des Leipzigers beobachtet, zeigt sich auch da. wo es sich um Vereinigung des individuellen und des sozialen Prinzips handelt, in den kommunalen Einrichtungen und Privaten Wohltütigkeitsstiftungen sowie sonstigen Bestrebungen, die darauf gerichtet sind, neben den materiellen auch ideellen Interessen zu dienen. Gerade die Her¬ stellung des möglichsten Gleichgewichts zwischen diesen beiden Extremen ist ja das höchste Ziel aller Vcrwaltungskunst und aller sozialen Fürsorge. Einige Beispiele, zunächst aus der Verwaltung, mögen das erläutern, möglichst wieder im Hinblick auf andre Großstädte. Da ist zunächst die Art der Besteuerung. In Berlin besteht die Bestimmung, daß sich jemand, der weniger als 3000 Mark Einkommen hat, nicht selbst einschätzen darf, sondern von eigens dazu bestellten Privatleuten, die ihm ins Haus kommen, einer Art gerichtlichen Verhörs unter¬ zogen wird, wobei er diesen ihm ganz unbekannten Leuten seine ganzen Ver¬ mögensverhältnisse offenbaren muß. Dieses bevormundende und demütigende System kennt man in der alten Bürgerstadt Leipzig nicht; hier schätzt sich jeder, auch der Arbeiter, selbst ein, wobei er sich nur zu einer wahrheitsgetreuer Beantwortung sämtlicher schriftlich an ihn gerichteter Fragen verpflichtet. Ich meine, nur so ist es eines freien Bürgers würdig, während jenes System ihn zu einem Hörigen macht, der keiner eignen Verantwortung fähig ist. Es kenn¬ zeichnet dieses Beispiel gut die verschiedne Schätzung der Persönlichkeit in einem von polizeilichem und einem von bürgerlichem Geiste beseelten Gemeinwesen. Auch sonst bringt man in Leipzig dem Einzelnen mehr Vertrauen entgegen. So ist z. B. der Zutritt zum Lesesaal der Universitätsbibliothek jedem ohne Formalitüten zugänglich, nur daß er sich in ein dort aufliegendes Buch einzu¬ tragen hat. Auch in der Art der Benutzung der für den Lesesaal bestellten Bücher kommt im möglichsten Umfang das Selbstbedienungssystem zur Anwen¬ dung. Mes im Schulwesen scheint die Bureaukratisierung nicht so weit vor¬ geschritten zu sein wie z. B. in preußischen Großstädten (wenn ich auch manche Klagen darüber aus Volksschullehrerkreisen zu hören bekam). So ist z. B. den *) Anbringung eines viereckigen Glaskastens in den Leitungsdrähten, mit grünen und roten Scheiben, auf deren jeder das Wort „Halt" steht. Je nachdem dieses Signal in oder außer Kraft treten soll, wird der Kasten durch die Kontaktstange des vorbeifahrenden Wagens erleuchtet oder verdunkelt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/257>, abgerufen am 17.06.2024.