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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Sozialxsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten

offenbar ein wunder Punkt in der Arbeitsorganisation, der die alte organische
Harmonie des Leipziger Lebens arg aus dem Gleichgewichte bringt. Hier wäre
einmal eine Anpassung an norddeutsche Verhältniße am Platze und um so eher
durchzuführen, als die Arbeitszeit an sich dadurch kaum verkürzt würde. Und
jeder würde gewiß lieber von 8 bis 4 Uhr mit einer kleinen Frühstückspause
arbeiten als von 8 bis 12 und von 3 bis 7, wobei ihm der beste Teil des
Abends verloren geht.

Wäre der letzte Punkt nicht, so müßten wir bekennen, daß, wie der
Leipziger manches vom Franzosen hat, in seinem Gemeinwesen vieles auffallend
an englische Verhältnisse erinnert: die alte Kultur, die Physiognomie der um¬
gebenden Landschaft mit ihren Herrensitzen und Parks, der edle, anmutige
Typus der Mädchen, das frische, selbständige Wesen der Knaben, dann vor
allem, wie wir sahen, die Mischung von individuellem und sozialem Empfinden,
von Arbeitslust und äußerer Ruhe, von Wahrung alter Traditionen und An¬
eignung modernen Fortschritts, von Freiheits- und Ordnungssinn, das fried¬
liche Nebeneinander von altem Agrariertum, jüngeren Bürgertum und moderner
Industriekultur -- alles das findet man in Deutschland schwerlich wieder so
nahe beisammen, und darum ist es gewiß kein Zufall, vielmehr ein innerlich
tiefbegründetes Zusammentreffen, daß ein sonst echt märkischer Dichter, der eine
große Vorliebe für englisches Wesen hatte und selbst England bereist hat,
Theodor Fontane, zugleich (und noch in hohem Alter) eins der liebens¬
würdigsten Urteile über die Sachsen gefällt hat, und zwar im speziellen Hinblick
auf die Leipziger, unter denen er selbst längere Zeit gelebt hat. Vieles von
unsern Ausführungen gilt ja auch für die Sachsen überhaupt, aber die Leipziger
stellen doch gewiß den Sachsen in seiner höchsten Potenz dar. Darum gilt
Fontanes Urteil zunächst für die Leipziger, wenn er sagt: "Die Sachsen
bewegen sich zwischen dem sentimentalen und dem energischen Typus hin und
her. Doch ist der letztere häufiger, was ein Glück ist. Daß die Sachsen sind,
was sie sind, verdanken sie nicht ihrer Gemütlichkeit, sondern ihrer Energie.
Diese Energie hat einen Beisatz von Nervosität, ist aber trotzdem als Lebens¬
und Kraftäußerung größer als bei irgendeinem andern deutschen Stamm. Die
Sachsen sind überhaupt in ihrem ganzen Tun und Wesen noch lange nicht
überholt, wie man sichs hierzulande so vielfach einbildet, und das hat seinen
guten Grund. Sie find die Überlegnen, und ihre Kulturüberlegenheit wurzelt
in ihrer Bildungsüberlegenheit, die nicht vom neusten Datum, sondern fast
vierhundert Jahre alt ist. Der sächsische Großstadtbürger ist sehr bourgeoishaft,
der sächsische Adel sehr dünkelhaft, und der sächsische Hof ist katholisch, was doch
immerhin eine Scheidewand zieht, aber alle drei sind durch ihr hohes Bildungs¬
maß vor Fehlern geschützt, wie sie sich in andern deutschen Landen, ganz be¬
sonders aber in Altpreußen, sehr hochgradig vorfinden. Alles, was zur Ober¬
schicht der sächsischen Gesellschaft gehört, alle haben mitten im Kampf die neue
Zeit begriffen, während die tonangebenden Kreise der ostelbischen Provinzen die


Sozialxsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten

offenbar ein wunder Punkt in der Arbeitsorganisation, der die alte organische
Harmonie des Leipziger Lebens arg aus dem Gleichgewichte bringt. Hier wäre
einmal eine Anpassung an norddeutsche Verhältniße am Platze und um so eher
durchzuführen, als die Arbeitszeit an sich dadurch kaum verkürzt würde. Und
jeder würde gewiß lieber von 8 bis 4 Uhr mit einer kleinen Frühstückspause
arbeiten als von 8 bis 12 und von 3 bis 7, wobei ihm der beste Teil des
Abends verloren geht.

Wäre der letzte Punkt nicht, so müßten wir bekennen, daß, wie der
Leipziger manches vom Franzosen hat, in seinem Gemeinwesen vieles auffallend
an englische Verhältnisse erinnert: die alte Kultur, die Physiognomie der um¬
gebenden Landschaft mit ihren Herrensitzen und Parks, der edle, anmutige
Typus der Mädchen, das frische, selbständige Wesen der Knaben, dann vor
allem, wie wir sahen, die Mischung von individuellem und sozialem Empfinden,
von Arbeitslust und äußerer Ruhe, von Wahrung alter Traditionen und An¬
eignung modernen Fortschritts, von Freiheits- und Ordnungssinn, das fried¬
liche Nebeneinander von altem Agrariertum, jüngeren Bürgertum und moderner
Industriekultur — alles das findet man in Deutschland schwerlich wieder so
nahe beisammen, und darum ist es gewiß kein Zufall, vielmehr ein innerlich
tiefbegründetes Zusammentreffen, daß ein sonst echt märkischer Dichter, der eine
große Vorliebe für englisches Wesen hatte und selbst England bereist hat,
Theodor Fontane, zugleich (und noch in hohem Alter) eins der liebens¬
würdigsten Urteile über die Sachsen gefällt hat, und zwar im speziellen Hinblick
auf die Leipziger, unter denen er selbst längere Zeit gelebt hat. Vieles von
unsern Ausführungen gilt ja auch für die Sachsen überhaupt, aber die Leipziger
stellen doch gewiß den Sachsen in seiner höchsten Potenz dar. Darum gilt
Fontanes Urteil zunächst für die Leipziger, wenn er sagt: „Die Sachsen
bewegen sich zwischen dem sentimentalen und dem energischen Typus hin und
her. Doch ist der letztere häufiger, was ein Glück ist. Daß die Sachsen sind,
was sie sind, verdanken sie nicht ihrer Gemütlichkeit, sondern ihrer Energie.
Diese Energie hat einen Beisatz von Nervosität, ist aber trotzdem als Lebens¬
und Kraftäußerung größer als bei irgendeinem andern deutschen Stamm. Die
Sachsen sind überhaupt in ihrem ganzen Tun und Wesen noch lange nicht
überholt, wie man sichs hierzulande so vielfach einbildet, und das hat seinen
guten Grund. Sie find die Überlegnen, und ihre Kulturüberlegenheit wurzelt
in ihrer Bildungsüberlegenheit, die nicht vom neusten Datum, sondern fast
vierhundert Jahre alt ist. Der sächsische Großstadtbürger ist sehr bourgeoishaft,
der sächsische Adel sehr dünkelhaft, und der sächsische Hof ist katholisch, was doch
immerhin eine Scheidewand zieht, aber alle drei sind durch ihr hohes Bildungs¬
maß vor Fehlern geschützt, wie sie sich in andern deutschen Landen, ganz be¬
sonders aber in Altpreußen, sehr hochgradig vorfinden. Alles, was zur Ober¬
schicht der sächsischen Gesellschaft gehört, alle haben mitten im Kampf die neue
Zeit begriffen, während die tonangebenden Kreise der ostelbischen Provinzen die


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[0264] Sozialxsychologische Lindrücke aus deutschen Großstädten offenbar ein wunder Punkt in der Arbeitsorganisation, der die alte organische Harmonie des Leipziger Lebens arg aus dem Gleichgewichte bringt. Hier wäre einmal eine Anpassung an norddeutsche Verhältniße am Platze und um so eher durchzuführen, als die Arbeitszeit an sich dadurch kaum verkürzt würde. Und jeder würde gewiß lieber von 8 bis 4 Uhr mit einer kleinen Frühstückspause arbeiten als von 8 bis 12 und von 3 bis 7, wobei ihm der beste Teil des Abends verloren geht. Wäre der letzte Punkt nicht, so müßten wir bekennen, daß, wie der Leipziger manches vom Franzosen hat, in seinem Gemeinwesen vieles auffallend an englische Verhältnisse erinnert: die alte Kultur, die Physiognomie der um¬ gebenden Landschaft mit ihren Herrensitzen und Parks, der edle, anmutige Typus der Mädchen, das frische, selbständige Wesen der Knaben, dann vor allem, wie wir sahen, die Mischung von individuellem und sozialem Empfinden, von Arbeitslust und äußerer Ruhe, von Wahrung alter Traditionen und An¬ eignung modernen Fortschritts, von Freiheits- und Ordnungssinn, das fried¬ liche Nebeneinander von altem Agrariertum, jüngeren Bürgertum und moderner Industriekultur — alles das findet man in Deutschland schwerlich wieder so nahe beisammen, und darum ist es gewiß kein Zufall, vielmehr ein innerlich tiefbegründetes Zusammentreffen, daß ein sonst echt märkischer Dichter, der eine große Vorliebe für englisches Wesen hatte und selbst England bereist hat, Theodor Fontane, zugleich (und noch in hohem Alter) eins der liebens¬ würdigsten Urteile über die Sachsen gefällt hat, und zwar im speziellen Hinblick auf die Leipziger, unter denen er selbst längere Zeit gelebt hat. Vieles von unsern Ausführungen gilt ja auch für die Sachsen überhaupt, aber die Leipziger stellen doch gewiß den Sachsen in seiner höchsten Potenz dar. Darum gilt Fontanes Urteil zunächst für die Leipziger, wenn er sagt: „Die Sachsen bewegen sich zwischen dem sentimentalen und dem energischen Typus hin und her. Doch ist der letztere häufiger, was ein Glück ist. Daß die Sachsen sind, was sie sind, verdanken sie nicht ihrer Gemütlichkeit, sondern ihrer Energie. Diese Energie hat einen Beisatz von Nervosität, ist aber trotzdem als Lebens¬ und Kraftäußerung größer als bei irgendeinem andern deutschen Stamm. Die Sachsen sind überhaupt in ihrem ganzen Tun und Wesen noch lange nicht überholt, wie man sichs hierzulande so vielfach einbildet, und das hat seinen guten Grund. Sie find die Überlegnen, und ihre Kulturüberlegenheit wurzelt in ihrer Bildungsüberlegenheit, die nicht vom neusten Datum, sondern fast vierhundert Jahre alt ist. Der sächsische Großstadtbürger ist sehr bourgeoishaft, der sächsische Adel sehr dünkelhaft, und der sächsische Hof ist katholisch, was doch immerhin eine Scheidewand zieht, aber alle drei sind durch ihr hohes Bildungs¬ maß vor Fehlern geschützt, wie sie sich in andern deutschen Landen, ganz be¬ sonders aber in Altpreußen, sehr hochgradig vorfinden. Alles, was zur Ober¬ schicht der sächsischen Gesellschaft gehört, alle haben mitten im Kampf die neue Zeit begriffen, während die tonangebenden Kreise der ostelbischen Provinzen die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/264>, abgerufen am 17.06.2024.