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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Hermann Weites "Spökenkiker"

als arbeitscheuer Landfahrer sein Leben beschlossen haben, wenn ein früherer
Schüler ihn nicht aus Dankbarkeit in sein Sanatorium und dann in sein Haus
und in seine Familie aufgenommen Hütte, um im Verein mit seiner Frau ihn
wieder zur Mäßigkeit und Enthaltsamkeit zu führen. Dieser wahre Menschen¬
freund veranlaßt auch die Niederschrift der Lebensbeichte, damit der Willens¬
schwäche durch strenge Selbsteinkehr sein edleres Ich wiederfinde und sich für
den Nest seines Lebens bewahre. Sie soll die Brücke zu einem gesegneten
Lebensabend schlagen. Darum darf nichts beschönigt werden, überall muß die
lauterste Wahrheit herrschen.

Mit Recht hofft Wette, daß der Leser zu der Erkenntnis geführt werde,
die Menschenseele lasse sich durch kein Leid der Welt gänzlich besiegen und finde
auch aus dem tiefsten Dunkel den Weg zum Lichte zurück. Geschickt weiß der
Dichter das Interesse für seinen Helden zu erwecken und zu erhalten, die
Spannung hält bis zum Schlüsse an. Befriedigt legt der Leser den Roman
aus der Hand, voll Dank gegen den Dichter, der seinem weichmütigen Helden
zum Schlüsse doch noch den Lorbeer des Siegers zuteil werden läßt. Einen
stimmungsvollen Abschluß bilden die letzten Worte, die der sterbende Spökenkiker
leise vor sich hinsingt: intsZer viwo sovlsrisaue xurus. Gern überträgt der
Leser diese Worte des Horaz auf den Verstorbnen, der sich durch seine Be¬
kenntnisse und durch sein Lebensende von aller Schuld gereinigt hat.

Die dichterische Gestaltungskraft Weites zeigt sich vor allem in der kunst¬
vollen Anordnung und Gruppierung seines mit feinstem Verständnis für psycho¬
logische Begründung ausgewählten Stoffes. Die sonnige Jugend des Spöken-
kikers leuchtet auch dem Leser ins Herz. Die Schilderung ist durchflochten
mit volkstümlichen Liedern, die die westfälische Eigenart erkennen lassen. Gern
erzählt Wette ferner von sinnigen altüberkommnen Volksbräuchen, die ihn der
Vater würdigen gelehrt hat. Als sich der Spökenkiker eben aufzuraffen vermag,
wird er gestärkt durch die wiederauflebende Erinnerung um alte Kinderspiele
seiner glücklichen Jugend. Um den Leser zum ruhigen ästhetischen Genusse der
Lebensbeichte zu führen, legt der Dichter an passenden Stellen, die sich zu
Ruhepunkten eignen, stimmungsvolle Lieder ein, bald solche, die er selbst ge¬
dichtet, bald solche aus westfälischen Volksmunde, und streut so über das Ganze
den Zauber der Volkspoesie. Bange Sorge bemächtigt sich der Seele des Lesers,
als der Spökenkiker seine Freude am Weingenuß in bacchisch begeisterten Lob-
gesüngen, wahren Dithyramben, auf den Weingott ausströmen läßt. Überall
vertiefen diese Liedereinlagen die Stimmung, die der Dichter beabsichtigt. Sie
wirken außerdem retardierend und nudum den Leser zur Selbsteinkchr. Ein¬
gestreute Denksprüche aus der klassischen Literatur des Altertums zeigen
gelegentlich das Allgemeingiltige der mitgeteilten Erwägungen des für die alten
Klassiker begeisterten Helden. Auch für kontrastierende Stellen ist gesorgt, in
die Erzählung früherer Erlebnisse mischt sich die Schilderung des augenblick¬
lichen Zustandes des zermürbten Greises. Aber auch das geschieht mit sicherer


Grenzboten IV 1907 47
Hermann Weites „Spökenkiker"

als arbeitscheuer Landfahrer sein Leben beschlossen haben, wenn ein früherer
Schüler ihn nicht aus Dankbarkeit in sein Sanatorium und dann in sein Haus
und in seine Familie aufgenommen Hütte, um im Verein mit seiner Frau ihn
wieder zur Mäßigkeit und Enthaltsamkeit zu führen. Dieser wahre Menschen¬
freund veranlaßt auch die Niederschrift der Lebensbeichte, damit der Willens¬
schwäche durch strenge Selbsteinkehr sein edleres Ich wiederfinde und sich für
den Nest seines Lebens bewahre. Sie soll die Brücke zu einem gesegneten
Lebensabend schlagen. Darum darf nichts beschönigt werden, überall muß die
lauterste Wahrheit herrschen.

Mit Recht hofft Wette, daß der Leser zu der Erkenntnis geführt werde,
die Menschenseele lasse sich durch kein Leid der Welt gänzlich besiegen und finde
auch aus dem tiefsten Dunkel den Weg zum Lichte zurück. Geschickt weiß der
Dichter das Interesse für seinen Helden zu erwecken und zu erhalten, die
Spannung hält bis zum Schlüsse an. Befriedigt legt der Leser den Roman
aus der Hand, voll Dank gegen den Dichter, der seinem weichmütigen Helden
zum Schlüsse doch noch den Lorbeer des Siegers zuteil werden läßt. Einen
stimmungsvollen Abschluß bilden die letzten Worte, die der sterbende Spökenkiker
leise vor sich hinsingt: intsZer viwo sovlsrisaue xurus. Gern überträgt der
Leser diese Worte des Horaz auf den Verstorbnen, der sich durch seine Be¬
kenntnisse und durch sein Lebensende von aller Schuld gereinigt hat.

Die dichterische Gestaltungskraft Weites zeigt sich vor allem in der kunst¬
vollen Anordnung und Gruppierung seines mit feinstem Verständnis für psycho¬
logische Begründung ausgewählten Stoffes. Die sonnige Jugend des Spöken-
kikers leuchtet auch dem Leser ins Herz. Die Schilderung ist durchflochten
mit volkstümlichen Liedern, die die westfälische Eigenart erkennen lassen. Gern
erzählt Wette ferner von sinnigen altüberkommnen Volksbräuchen, die ihn der
Vater würdigen gelehrt hat. Als sich der Spökenkiker eben aufzuraffen vermag,
wird er gestärkt durch die wiederauflebende Erinnerung um alte Kinderspiele
seiner glücklichen Jugend. Um den Leser zum ruhigen ästhetischen Genusse der
Lebensbeichte zu führen, legt der Dichter an passenden Stellen, die sich zu
Ruhepunkten eignen, stimmungsvolle Lieder ein, bald solche, die er selbst ge¬
dichtet, bald solche aus westfälischen Volksmunde, und streut so über das Ganze
den Zauber der Volkspoesie. Bange Sorge bemächtigt sich der Seele des Lesers,
als der Spökenkiker seine Freude am Weingenuß in bacchisch begeisterten Lob-
gesüngen, wahren Dithyramben, auf den Weingott ausströmen läßt. Überall
vertiefen diese Liedereinlagen die Stimmung, die der Dichter beabsichtigt. Sie
wirken außerdem retardierend und nudum den Leser zur Selbsteinkchr. Ein¬
gestreute Denksprüche aus der klassischen Literatur des Altertums zeigen
gelegentlich das Allgemeingiltige der mitgeteilten Erwägungen des für die alten
Klassiker begeisterten Helden. Auch für kontrastierende Stellen ist gesorgt, in
die Erzählung früherer Erlebnisse mischt sich die Schilderung des augenblick¬
lichen Zustandes des zermürbten Greises. Aber auch das geschieht mit sicherer


Grenzboten IV 1907 47
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[0369] Hermann Weites „Spökenkiker" als arbeitscheuer Landfahrer sein Leben beschlossen haben, wenn ein früherer Schüler ihn nicht aus Dankbarkeit in sein Sanatorium und dann in sein Haus und in seine Familie aufgenommen Hütte, um im Verein mit seiner Frau ihn wieder zur Mäßigkeit und Enthaltsamkeit zu führen. Dieser wahre Menschen¬ freund veranlaßt auch die Niederschrift der Lebensbeichte, damit der Willens¬ schwäche durch strenge Selbsteinkehr sein edleres Ich wiederfinde und sich für den Nest seines Lebens bewahre. Sie soll die Brücke zu einem gesegneten Lebensabend schlagen. Darum darf nichts beschönigt werden, überall muß die lauterste Wahrheit herrschen. Mit Recht hofft Wette, daß der Leser zu der Erkenntnis geführt werde, die Menschenseele lasse sich durch kein Leid der Welt gänzlich besiegen und finde auch aus dem tiefsten Dunkel den Weg zum Lichte zurück. Geschickt weiß der Dichter das Interesse für seinen Helden zu erwecken und zu erhalten, die Spannung hält bis zum Schlüsse an. Befriedigt legt der Leser den Roman aus der Hand, voll Dank gegen den Dichter, der seinem weichmütigen Helden zum Schlüsse doch noch den Lorbeer des Siegers zuteil werden läßt. Einen stimmungsvollen Abschluß bilden die letzten Worte, die der sterbende Spökenkiker leise vor sich hinsingt: intsZer viwo sovlsrisaue xurus. Gern überträgt der Leser diese Worte des Horaz auf den Verstorbnen, der sich durch seine Be¬ kenntnisse und durch sein Lebensende von aller Schuld gereinigt hat. Die dichterische Gestaltungskraft Weites zeigt sich vor allem in der kunst¬ vollen Anordnung und Gruppierung seines mit feinstem Verständnis für psycho¬ logische Begründung ausgewählten Stoffes. Die sonnige Jugend des Spöken- kikers leuchtet auch dem Leser ins Herz. Die Schilderung ist durchflochten mit volkstümlichen Liedern, die die westfälische Eigenart erkennen lassen. Gern erzählt Wette ferner von sinnigen altüberkommnen Volksbräuchen, die ihn der Vater würdigen gelehrt hat. Als sich der Spökenkiker eben aufzuraffen vermag, wird er gestärkt durch die wiederauflebende Erinnerung um alte Kinderspiele seiner glücklichen Jugend. Um den Leser zum ruhigen ästhetischen Genusse der Lebensbeichte zu führen, legt der Dichter an passenden Stellen, die sich zu Ruhepunkten eignen, stimmungsvolle Lieder ein, bald solche, die er selbst ge¬ dichtet, bald solche aus westfälischen Volksmunde, und streut so über das Ganze den Zauber der Volkspoesie. Bange Sorge bemächtigt sich der Seele des Lesers, als der Spökenkiker seine Freude am Weingenuß in bacchisch begeisterten Lob- gesüngen, wahren Dithyramben, auf den Weingott ausströmen läßt. Überall vertiefen diese Liedereinlagen die Stimmung, die der Dichter beabsichtigt. Sie wirken außerdem retardierend und nudum den Leser zur Selbsteinkchr. Ein¬ gestreute Denksprüche aus der klassischen Literatur des Altertums zeigen gelegentlich das Allgemeingiltige der mitgeteilten Erwägungen des für die alten Klassiker begeisterten Helden. Auch für kontrastierende Stellen ist gesorgt, in die Erzählung früherer Erlebnisse mischt sich die Schilderung des augenblick¬ lichen Zustandes des zermürbten Greises. Aber auch das geschieht mit sicherer Grenzboten IV 1907 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/369>, abgerufen am 17.06.2024.