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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Goethe und die Boisseree

der Gegensatz, worin man sich zu den Klassikern fühlte, besonders bestimmt zum
Ausdruck. Denn worin schwelgten die Romantiker lieber als in großen und
tönenden Worten von der Religion, die ihnen geradezu zu einem Wcchselbegriff
mit Poesie geworden war! Die Religion, muß man hinzusetzen, im katholischen
Sinne, denn nur so gilt sie ihnen als vollbürtig. Es ist bekannt genug, daß
sich viele ans ihren Reihen in den Schoß der Alleinseligmachenden geflüchtet
haben. Und auch wo der Übertritt nicht erfolgte, war doch die innere Zu¬
stimmung vorhanden. Man braucht als Zeugnis dafür nur den Aufsatz von
Novalis "Die Christenheit oder Europa" zu nennen, dessen Aufnahme in die
Hören Schiller im Einvernehmen mit Goethe wegen seines die katholische Kirche
unbedingt verherrlichenden Tones ablehnte, ja woran Schlegel in dem Glaubens¬
eifer des Konvertiten, der am liebsten alles, was ihm teuer war, unter den
Flügeln der großen Mutter geborgen wissen wollte, die Legende knüpfen
konnte, auch dieser Freund sei mit ihm denselben Weg gegangen. Schlegel hatte
mit Dorothea den verhängnisvollen Schritt vollzogen, als er im Begriff stand,
Köln zu verlassen, um in Wien einen neuen Schauplatz seiner Tätigkeit zu
suchen. Am 16. April überraschten die beiden ihre Freunde mit der Nachricht
ihres eben erfolgten Übertritts. Sulpiz schreibt darüber die charakteristischen
Worte: "Es war eine große Überraschung für uns. Wir kannten zwar die
entschiedn? Neigung, welche Schlegel für den katholischen Glauben gefaßt hatte,
seit langer Zeit und sahen voraus, daß er seine Überzeugung einmal öffentlich
bekennen werde, und freuten uns, ihn mit unsrer eignen religiösen Gesinnung in
Übereinstimmung zu wissen, aber in diesem Augenblicke, wo der Übertritt, der reine
Gewissenssache war, so leicht den Schein äußerer Absicht haben und dadurch
das widerwärtigste Ärgernis erregen konnte, war es uns schwer, die Ausfüh¬
rung eines so wichtigen Schrittes zu begreifen." So schrieb der Freund; Ferner¬
stehende haben damals gleich die Berechnung durchschaut, die darauf hinaus¬
ging, sich durch den Religionswechsel in Wien die Tür zu einer glänzendem
Laufbahn zu öffnen. Der Erfolg zeigte, daß Schlegel ein geschickter Rechen¬
meister gewesen war. Sulpiz bedürfte eines Übertritts nicht, aber er war doch
ein Schüler Schlegels und mußte mit Recht von Goethe als ein vertrauter
Gesinnungsgenosse des romantischen Führers betrachtet werden.

Sulpiz, geboren am 3. August 1733, war der vorjüngstc Sohn einer
kinderreichen, sehr wohlhabenden und angesehenen Kölner Kaufmannsfamilie.
Er hatte noch einen drei Jahre jüngern Bruder Melchior, der später der treuste
Lebensgeführte und Arbeitsgenosse des ältern wurde. Wie man sich bei den
berühmten Brüdern Grimm Jakob nicht ohne Wilhelm und umgekehrt denken
kann, so existiert hier Sulpiz nicht ohne Melchior und dieser nicht ohne jenen.
Der bedeutendere, tatkräftigere, erfolgreichere war Sulpiz, aber man kann sich
dessen ganzes Dasein doch nicht vorstellen, ohne das rührende Bild des bescheidnen
stillern Bruders daneben, der doch auch tüchtig war und seine besondern Ver¬
dienste hatte, wie er denn den im Anfange des vorigen Jahrhunderts von dem


Goethe und die Boisseree

der Gegensatz, worin man sich zu den Klassikern fühlte, besonders bestimmt zum
Ausdruck. Denn worin schwelgten die Romantiker lieber als in großen und
tönenden Worten von der Religion, die ihnen geradezu zu einem Wcchselbegriff
mit Poesie geworden war! Die Religion, muß man hinzusetzen, im katholischen
Sinne, denn nur so gilt sie ihnen als vollbürtig. Es ist bekannt genug, daß
sich viele ans ihren Reihen in den Schoß der Alleinseligmachenden geflüchtet
haben. Und auch wo der Übertritt nicht erfolgte, war doch die innere Zu¬
stimmung vorhanden. Man braucht als Zeugnis dafür nur den Aufsatz von
Novalis „Die Christenheit oder Europa" zu nennen, dessen Aufnahme in die
Hören Schiller im Einvernehmen mit Goethe wegen seines die katholische Kirche
unbedingt verherrlichenden Tones ablehnte, ja woran Schlegel in dem Glaubens¬
eifer des Konvertiten, der am liebsten alles, was ihm teuer war, unter den
Flügeln der großen Mutter geborgen wissen wollte, die Legende knüpfen
konnte, auch dieser Freund sei mit ihm denselben Weg gegangen. Schlegel hatte
mit Dorothea den verhängnisvollen Schritt vollzogen, als er im Begriff stand,
Köln zu verlassen, um in Wien einen neuen Schauplatz seiner Tätigkeit zu
suchen. Am 16. April überraschten die beiden ihre Freunde mit der Nachricht
ihres eben erfolgten Übertritts. Sulpiz schreibt darüber die charakteristischen
Worte: „Es war eine große Überraschung für uns. Wir kannten zwar die
entschiedn? Neigung, welche Schlegel für den katholischen Glauben gefaßt hatte,
seit langer Zeit und sahen voraus, daß er seine Überzeugung einmal öffentlich
bekennen werde, und freuten uns, ihn mit unsrer eignen religiösen Gesinnung in
Übereinstimmung zu wissen, aber in diesem Augenblicke, wo der Übertritt, der reine
Gewissenssache war, so leicht den Schein äußerer Absicht haben und dadurch
das widerwärtigste Ärgernis erregen konnte, war es uns schwer, die Ausfüh¬
rung eines so wichtigen Schrittes zu begreifen." So schrieb der Freund; Ferner¬
stehende haben damals gleich die Berechnung durchschaut, die darauf hinaus¬
ging, sich durch den Religionswechsel in Wien die Tür zu einer glänzendem
Laufbahn zu öffnen. Der Erfolg zeigte, daß Schlegel ein geschickter Rechen¬
meister gewesen war. Sulpiz bedürfte eines Übertritts nicht, aber er war doch
ein Schüler Schlegels und mußte mit Recht von Goethe als ein vertrauter
Gesinnungsgenosse des romantischen Führers betrachtet werden.

Sulpiz, geboren am 3. August 1733, war der vorjüngstc Sohn einer
kinderreichen, sehr wohlhabenden und angesehenen Kölner Kaufmannsfamilie.
Er hatte noch einen drei Jahre jüngern Bruder Melchior, der später der treuste
Lebensgeführte und Arbeitsgenosse des ältern wurde. Wie man sich bei den
berühmten Brüdern Grimm Jakob nicht ohne Wilhelm und umgekehrt denken
kann, so existiert hier Sulpiz nicht ohne Melchior und dieser nicht ohne jenen.
Der bedeutendere, tatkräftigere, erfolgreichere war Sulpiz, aber man kann sich
dessen ganzes Dasein doch nicht vorstellen, ohne das rührende Bild des bescheidnen
stillern Bruders daneben, der doch auch tüchtig war und seine besondern Ver¬
dienste hatte, wie er denn den im Anfange des vorigen Jahrhunderts von dem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/43>, abgerufen am 17.06.2024.