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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Die öffentliche Brandmarkung des Beleidigten

Und nun geht das gerichtliche Verfahren seinen Gang: in der breiten
Öffentlichkeit spielt sich tage- und wochenlang die Beweisaufnahme uuter den
Augen eines Zuhörer- und Zuschauerkreises ab, dem es auf die Erforschung
der Wahrheit meist am allerwenigsten ankommt. Und die Persönlichkeit des
Klägers, wenn er nicht das Glück hat, der Öffentlichkeit keinerlei Interesse zu
bieten, wird von der Presse zum Gegenstande von Erörterungen gemacht, und
von einem Teil der Presse wenigstens um so lieber und geflissentlicher, je
höher er im Leben steht. Der Angeklagte und seine Rechtsbeistande bemühen
sich, müssen sich und dürfen sich bemühen, die nun einmal ausgesprochne Ver¬
dächtigung und Ehrenkränkung als gerechtfertigt nachzuweisen, den Beweis der
Wahrheit zu führen. Das Gesetz läßt ihnen in dieser Hinsicht den weitesten
Spielraum: und wie sie sich innerhalb dieses Spielraums bewegen, welche
Mittel sie wählen wollen, die Ansicht des Gerichts für sich zu gewinnen, das
ist und bleibt im wesentlichen ihrem Geschmack, ihrem Geschick, ihrem größern
oder geringern Taktgefühl, ihrer größern oder geringern forensischen Ver¬
schlagenheit überlassen. Das Gericht kann korrigierend eingreifen durch die
Geschäftsleitung des Vorsitzenden, durch Ablehnung von Beweisanträgen; und
der Vorsitzende wird sich im allgemeinen bemühen müssen, den Gang der
Sache nach Möglichkeit auf den zur Erörterung stehenden Fall zu beschränken.
Aber auch in dieser Hinsicht sind die Grenzen nur bei außerordentlicher
Sicherheit in der Prozeßleitung, bei sehr raschem und scharfem Überblick über
das gesamte Bild der Beweisaufnahme richtig zu ziehen: man kann in einer
Menge scheinbarer Nebenpunkte wichtige Momente für die Sachwürdigung, man
kann im Entwickeln des ganzen Bildes der Persönlichkeit, in der Festlegung
einzelner Züge aus der Vergangenheit der Beteiligten wertvolle Aufschlüsse
über die Bedeutung des vorliegenden Falles finden; und es darf anerkannt
werden, daß es auch dem tüchtigsten Prozeßleiter mitten im Kampfe der
Parteien schwer werden kann, in jedem Augenblick genau zu übersehn, was
für das schließliche Ergebnis von Bedeutung sein wird, und was über diesen
Rahmen hinaus in das Gebiet der Befriedigung des Sensationsbedürfnisses
der Öffentlichkeit übergreift. Und schließlich schwebt auch über dem Verhand¬
lungsleiter und dem Gerichtshof das Damoklesschwert der unzulässigen Be¬
schränkung der Verteidigung und der Ablehnung wegen Verdachts der Be¬
fangenheit.

Und so ergießt sich der Strom der Beweisaufnahme in der breitesten
Flut, in neuerer Zeit erfahrungsgemäß weniger über den Angeklagten als über
den Privatklüger, weniger über den Beleidiger als über den Beleidigten. Und
die Augen und Ohren Tausender, die die Gcrichtssäle füllen, die die Proze߬
berichte der Tagespresse verschlingen, sehen und hören natürlich am meisten
das, was an Jnteressanten und sensationellen zutage gefördert wird -- und
sie tun es, je intimer es ist, je mehr es in die Einzelheiten eines der breiten
Masse immer am verständlichsten bleibenden Klatsches ausartet, um so lieber


Die öffentliche Brandmarkung des Beleidigten

Und nun geht das gerichtliche Verfahren seinen Gang: in der breiten
Öffentlichkeit spielt sich tage- und wochenlang die Beweisaufnahme uuter den
Augen eines Zuhörer- und Zuschauerkreises ab, dem es auf die Erforschung
der Wahrheit meist am allerwenigsten ankommt. Und die Persönlichkeit des
Klägers, wenn er nicht das Glück hat, der Öffentlichkeit keinerlei Interesse zu
bieten, wird von der Presse zum Gegenstande von Erörterungen gemacht, und
von einem Teil der Presse wenigstens um so lieber und geflissentlicher, je
höher er im Leben steht. Der Angeklagte und seine Rechtsbeistande bemühen
sich, müssen sich und dürfen sich bemühen, die nun einmal ausgesprochne Ver¬
dächtigung und Ehrenkränkung als gerechtfertigt nachzuweisen, den Beweis der
Wahrheit zu führen. Das Gesetz läßt ihnen in dieser Hinsicht den weitesten
Spielraum: und wie sie sich innerhalb dieses Spielraums bewegen, welche
Mittel sie wählen wollen, die Ansicht des Gerichts für sich zu gewinnen, das
ist und bleibt im wesentlichen ihrem Geschmack, ihrem Geschick, ihrem größern
oder geringern Taktgefühl, ihrer größern oder geringern forensischen Ver¬
schlagenheit überlassen. Das Gericht kann korrigierend eingreifen durch die
Geschäftsleitung des Vorsitzenden, durch Ablehnung von Beweisanträgen; und
der Vorsitzende wird sich im allgemeinen bemühen müssen, den Gang der
Sache nach Möglichkeit auf den zur Erörterung stehenden Fall zu beschränken.
Aber auch in dieser Hinsicht sind die Grenzen nur bei außerordentlicher
Sicherheit in der Prozeßleitung, bei sehr raschem und scharfem Überblick über
das gesamte Bild der Beweisaufnahme richtig zu ziehen: man kann in einer
Menge scheinbarer Nebenpunkte wichtige Momente für die Sachwürdigung, man
kann im Entwickeln des ganzen Bildes der Persönlichkeit, in der Festlegung
einzelner Züge aus der Vergangenheit der Beteiligten wertvolle Aufschlüsse
über die Bedeutung des vorliegenden Falles finden; und es darf anerkannt
werden, daß es auch dem tüchtigsten Prozeßleiter mitten im Kampfe der
Parteien schwer werden kann, in jedem Augenblick genau zu übersehn, was
für das schließliche Ergebnis von Bedeutung sein wird, und was über diesen
Rahmen hinaus in das Gebiet der Befriedigung des Sensationsbedürfnisses
der Öffentlichkeit übergreift. Und schließlich schwebt auch über dem Verhand¬
lungsleiter und dem Gerichtshof das Damoklesschwert der unzulässigen Be¬
schränkung der Verteidigung und der Ablehnung wegen Verdachts der Be¬
fangenheit.

Und so ergießt sich der Strom der Beweisaufnahme in der breitesten
Flut, in neuerer Zeit erfahrungsgemäß weniger über den Angeklagten als über
den Privatklüger, weniger über den Beleidiger als über den Beleidigten. Und
die Augen und Ohren Tausender, die die Gcrichtssäle füllen, die die Proze߬
berichte der Tagespresse verschlingen, sehen und hören natürlich am meisten
das, was an Jnteressanten und sensationellen zutage gefördert wird — und
sie tun es, je intimer es ist, je mehr es in die Einzelheiten eines der breiten
Masse immer am verständlichsten bleibenden Klatsches ausartet, um so lieber


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[0511] Die öffentliche Brandmarkung des Beleidigten Und nun geht das gerichtliche Verfahren seinen Gang: in der breiten Öffentlichkeit spielt sich tage- und wochenlang die Beweisaufnahme uuter den Augen eines Zuhörer- und Zuschauerkreises ab, dem es auf die Erforschung der Wahrheit meist am allerwenigsten ankommt. Und die Persönlichkeit des Klägers, wenn er nicht das Glück hat, der Öffentlichkeit keinerlei Interesse zu bieten, wird von der Presse zum Gegenstande von Erörterungen gemacht, und von einem Teil der Presse wenigstens um so lieber und geflissentlicher, je höher er im Leben steht. Der Angeklagte und seine Rechtsbeistande bemühen sich, müssen sich und dürfen sich bemühen, die nun einmal ausgesprochne Ver¬ dächtigung und Ehrenkränkung als gerechtfertigt nachzuweisen, den Beweis der Wahrheit zu führen. Das Gesetz läßt ihnen in dieser Hinsicht den weitesten Spielraum: und wie sie sich innerhalb dieses Spielraums bewegen, welche Mittel sie wählen wollen, die Ansicht des Gerichts für sich zu gewinnen, das ist und bleibt im wesentlichen ihrem Geschmack, ihrem Geschick, ihrem größern oder geringern Taktgefühl, ihrer größern oder geringern forensischen Ver¬ schlagenheit überlassen. Das Gericht kann korrigierend eingreifen durch die Geschäftsleitung des Vorsitzenden, durch Ablehnung von Beweisanträgen; und der Vorsitzende wird sich im allgemeinen bemühen müssen, den Gang der Sache nach Möglichkeit auf den zur Erörterung stehenden Fall zu beschränken. Aber auch in dieser Hinsicht sind die Grenzen nur bei außerordentlicher Sicherheit in der Prozeßleitung, bei sehr raschem und scharfem Überblick über das gesamte Bild der Beweisaufnahme richtig zu ziehen: man kann in einer Menge scheinbarer Nebenpunkte wichtige Momente für die Sachwürdigung, man kann im Entwickeln des ganzen Bildes der Persönlichkeit, in der Festlegung einzelner Züge aus der Vergangenheit der Beteiligten wertvolle Aufschlüsse über die Bedeutung des vorliegenden Falles finden; und es darf anerkannt werden, daß es auch dem tüchtigsten Prozeßleiter mitten im Kampfe der Parteien schwer werden kann, in jedem Augenblick genau zu übersehn, was für das schließliche Ergebnis von Bedeutung sein wird, und was über diesen Rahmen hinaus in das Gebiet der Befriedigung des Sensationsbedürfnisses der Öffentlichkeit übergreift. Und schließlich schwebt auch über dem Verhand¬ lungsleiter und dem Gerichtshof das Damoklesschwert der unzulässigen Be¬ schränkung der Verteidigung und der Ablehnung wegen Verdachts der Be¬ fangenheit. Und so ergießt sich der Strom der Beweisaufnahme in der breitesten Flut, in neuerer Zeit erfahrungsgemäß weniger über den Angeklagten als über den Privatklüger, weniger über den Beleidiger als über den Beleidigten. Und die Augen und Ohren Tausender, die die Gcrichtssäle füllen, die die Proze߬ berichte der Tagespresse verschlingen, sehen und hören natürlich am meisten das, was an Jnteressanten und sensationellen zutage gefördert wird — und sie tun es, je intimer es ist, je mehr es in die Einzelheiten eines der breiten Masse immer am verständlichsten bleibenden Klatsches ausartet, um so lieber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/511>, abgerufen am 09.06.2024.