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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Über die Einseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung

Verantwortung aufbürdet und das für alle Beteiligten eine starke moralische
und gemütliche Belastung mit sich bringt, den heranwachsenden Jünglingen
und wohl auch Jungfrauen gegenüber auf sich nehmen. Die Gesundheits¬
fanatiker wollen es ja so haben. Und was wollen gar die deutschen Ingenieure?
Nachdem schon längst feststeht, daß die sachkundigen und erfahrnen Vertreter
des altklassischer Unterrichts an den deutschen Gymnasien in ihrer erdrückenden
Mehrheit das sogenannte Reformgymnasium, das nicht aus innern Bildungs¬
gedanken, sondern aus äußerlichen und oft nur vermeintlichen Bedürfnissen
des praktischen Lebens entstanden ist und Verbreitung gewonnen hat, als
unvereinbar betrachten mit den Aufgaben einer soliden humanistischen Bildung
und Erziehung, stellen sie das kecke Verlangen auf nach einem abermals
reformierten und potenzierter Reformgymnasium, mit Latein natürlich, denn
die Empfehlung des äußern Scheins möchte man doch nicht missen, aber mit
dreijährigem Latein! Und über das Griechische, das Rückgrat des Gymnasiums,
schweigen sie sich ganz aus. Und warum das? weil es für die Techniker
so besser sei. Darauf ist doch die einzige richtige Antwort, daß auch wir eine
Unterrichtskommission niedersetzen -- längst schon hätte diese Versammlung das
tun sollen --, um die Forderungen zu formulieren, die uns nun, nachdem
die Gleichheit der Berechtigungen nach allen Richtungen freie Bahn geschaffen
hat, unerläßlich erscheinen für ein Gymnasium, das keineswegs für die Be¬
dürfnisse der Philologen -- wer muß da nicht lachen? --, aber auch nicht
gerade nach den Anschauungen der Ingenieure zugeschnitten ist. Und der
Grundartikel dabei müßte sein: Einschränkung der Vielwisserei, Verbreiterung
und Verfestigung der altsprachlichen, geschichtlichen, philosophischen Grund¬
lage der Gymnasialbildung, kurzum eine klare und bewußte rückläufige Be¬
wegung, eine Reaktion, wenn Sie so wollen, aber eine solche, die allein uns
aus dem Chaos der Gegenwart erretten und einen wahren Fortschritt ver¬
bürgen kann.

Ich habe nur einige wenige mir besonders wichtig erscheinende und vor
andern am Herzen liegende Seiten der Schulreformbewegung in den Kreis
meiner Erörterungen gezogen. Wollte ich dem Stoffe auch nur in annähernder
Vollständigkeit gerecht werden, so müßte ich den doppelten und dreifachen
Raum in Anspruch nehmen. Ich bin mir bewußt, in den vorliegenden Zeilen
nichts Neues gesagt zu haben, ich hoffe aber dem, was die Herzen und die
Köpfe vieler deutscher Schulmänner bewegt, klaren und entschiednen Ausdruck
gegeben zu haben. Aber ich bin der Ansicht, es sei hohe, ja es sei die
höchste Zeit, daß wir uns gegen den geistigen Terrorismus -- anders kann
ich es eigentlich nicht bezeichnen -->, wie er gegen uns und unsre Sache
geübt wird, laut und einmütig zur Wehr setzen. Denn wir erfreuen uns nach
wie vor des stolzen Bewußtseins, daß unsre Schule im letzten Jahrhundert
unserm Volke gute Dienste geleistet hat; wir sind entschlossen, als Hüter der
uns anvertrauten Güter noch fernerhin auf dem Plane zu bleiben und nicht bloß


Über die Einseitigkeiten und Gefahren der Schulreformbewegung

Verantwortung aufbürdet und das für alle Beteiligten eine starke moralische
und gemütliche Belastung mit sich bringt, den heranwachsenden Jünglingen
und wohl auch Jungfrauen gegenüber auf sich nehmen. Die Gesundheits¬
fanatiker wollen es ja so haben. Und was wollen gar die deutschen Ingenieure?
Nachdem schon längst feststeht, daß die sachkundigen und erfahrnen Vertreter
des altklassischer Unterrichts an den deutschen Gymnasien in ihrer erdrückenden
Mehrheit das sogenannte Reformgymnasium, das nicht aus innern Bildungs¬
gedanken, sondern aus äußerlichen und oft nur vermeintlichen Bedürfnissen
des praktischen Lebens entstanden ist und Verbreitung gewonnen hat, als
unvereinbar betrachten mit den Aufgaben einer soliden humanistischen Bildung
und Erziehung, stellen sie das kecke Verlangen auf nach einem abermals
reformierten und potenzierter Reformgymnasium, mit Latein natürlich, denn
die Empfehlung des äußern Scheins möchte man doch nicht missen, aber mit
dreijährigem Latein! Und über das Griechische, das Rückgrat des Gymnasiums,
schweigen sie sich ganz aus. Und warum das? weil es für die Techniker
so besser sei. Darauf ist doch die einzige richtige Antwort, daß auch wir eine
Unterrichtskommission niedersetzen — längst schon hätte diese Versammlung das
tun sollen —, um die Forderungen zu formulieren, die uns nun, nachdem
die Gleichheit der Berechtigungen nach allen Richtungen freie Bahn geschaffen
hat, unerläßlich erscheinen für ein Gymnasium, das keineswegs für die Be¬
dürfnisse der Philologen — wer muß da nicht lachen? —, aber auch nicht
gerade nach den Anschauungen der Ingenieure zugeschnitten ist. Und der
Grundartikel dabei müßte sein: Einschränkung der Vielwisserei, Verbreiterung
und Verfestigung der altsprachlichen, geschichtlichen, philosophischen Grund¬
lage der Gymnasialbildung, kurzum eine klare und bewußte rückläufige Be¬
wegung, eine Reaktion, wenn Sie so wollen, aber eine solche, die allein uns
aus dem Chaos der Gegenwart erretten und einen wahren Fortschritt ver¬
bürgen kann.

Ich habe nur einige wenige mir besonders wichtig erscheinende und vor
andern am Herzen liegende Seiten der Schulreformbewegung in den Kreis
meiner Erörterungen gezogen. Wollte ich dem Stoffe auch nur in annähernder
Vollständigkeit gerecht werden, so müßte ich den doppelten und dreifachen
Raum in Anspruch nehmen. Ich bin mir bewußt, in den vorliegenden Zeilen
nichts Neues gesagt zu haben, ich hoffe aber dem, was die Herzen und die
Köpfe vieler deutscher Schulmänner bewegt, klaren und entschiednen Ausdruck
gegeben zu haben. Aber ich bin der Ansicht, es sei hohe, ja es sei die
höchste Zeit, daß wir uns gegen den geistigen Terrorismus — anders kann
ich es eigentlich nicht bezeichnen —>, wie er gegen uns und unsre Sache
geübt wird, laut und einmütig zur Wehr setzen. Denn wir erfreuen uns nach
wie vor des stolzen Bewußtseins, daß unsre Schule im letzten Jahrhundert
unserm Volke gute Dienste geleistet hat; wir sind entschlossen, als Hüter der
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/580>, abgerufen am 17.06.2024.