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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Österreichischer Neuliberalismus

darum bekämpft werden, weil er die Industrie in Fesseln schlagen wolle. Mit
welchen Mitteln der Klerus das versuche, wird nicht gesagt; daß die moderne
Industrie unterm Schutzzoll und nicht bei der 8p6vwo1eZ nation, sondern in
einem Volke von Analphabeten entstanden ist, wurde oben erwähnt, und was
den Feudalismus betrifft, so existiert er als Institution in Österreich so wenig
mehr wie bei uns, als Gesinnung aber überall, wo es reiche und mächtige
Leute gibt, und wenn Feudalismus weiter nichts bedeuten soll als großen Besitz
(große Kapitalien als Familieneigentum werden zuletzt immer in Grundbesitz
investiert), so gibt es keine feudaleren Staaten als England mit seinen Landlords
und Nordamerika mit seinen Bonanzafarms und seinen Trustmagnaten. Zudem
sind, wie Charmatz selbst gelegentlich bemerkt, die österreichischen, namentlich die
böhmischen Magnaten allesamt zugleich Großindustrielle.

Was Charmatz will, das ist die Großindustrie, und Liberalismus nennt
ers. Warum denn der Sache eine falsche Etikette aufkleben, da er doch selbst
einmal ruft: Name ist Schall und Rauch? Darum, weil er eine mächtige Partei
will, beim allgemeinen gleichen Stimmrecht aber gar keine Großindustriellen-
Partei möglich ist, geschweige denn eine mächtige. Hätten die Herren das "Pri¬
vilegienparlament" zu einer berufstündischen Volksvertretung fortgebildet, von
der es schon den Keim enthielt, so hätten sie jetzt, was sie wollen: die Gro߬
industrie würde darin ihre angemessene Vertretung haben; die Arbeiter wären eben¬
falls vertreten, aber sie könnten auch bei vollständiger Industrialisierung Öster¬
reichs niemals so stark werden, daß sie die übrigen Stände zu majorisieren
vermöchten. Im Privilegienparlament, meint Charmatz, seien die Parteiführer
wahre Verwandlungskünstler gewesen, bei den Wahlen hätten sie jedem jedes
versprochen. Das müssen sie im jetzigen Parlament noch viel mehr sein. So¬
lange die Parlamentsparteien nicht sind, was sie der Natur der Sache nach
sein sollen: Vertretungen von Interessengruppen, von Bcrufständen, deren viel¬
fach widersprechende Interessen im Parlament unter Leitung der Regierung
ihren Ausgleich zu finden haben, so lange sind die Parteiführer aufs Lügen
angewiesen, und nirgends müssen sie ärger lügen, als wo das allgemeine gleiche
Wahlrecht gilt. Wie könnte bei diesem auf ehrliche Weise eine Vertretung der
Großindustrie zustande kommen, da doch die Großindustriellen eines Wahlkreises
mit allen ihren Beamten zusammen nicht den zehnten Teil der Wähler aus¬
machen? Soll ihr Kandidat durchkommen, so muß er das Blaue vom Himmel
herunterlügen, um aus Lohnarbeitern, Bauern, Kleinbürgern, Weichenstellern,
Briefträgern und andern solchen Leuten die erforderliche Zahl zusammenzubringen.
Es ist ja möglich, daß im großen und ganzen und auf die Dauer die Blüte
der Großindustrie das Wohl des gesamten Volkes bedeutet -- möglicherweise
auch nicht, wer weiß das so genau? -- aber hier und jetzt kollidiert meist das
Interesse des Herrn Kommerzienrath mit den Interessen sehr vieler, wo nicht
der meisten Kreisinsassen. Das Wohl der industriellen Lohnarbeiter hängt ganz
gewiß vom Gedeihen der Industrie ab, das sieht jeder verstündige Lohnarbeiter


Österreichischer Neuliberalismus

darum bekämpft werden, weil er die Industrie in Fesseln schlagen wolle. Mit
welchen Mitteln der Klerus das versuche, wird nicht gesagt; daß die moderne
Industrie unterm Schutzzoll und nicht bei der 8p6vwo1eZ nation, sondern in
einem Volke von Analphabeten entstanden ist, wurde oben erwähnt, und was
den Feudalismus betrifft, so existiert er als Institution in Österreich so wenig
mehr wie bei uns, als Gesinnung aber überall, wo es reiche und mächtige
Leute gibt, und wenn Feudalismus weiter nichts bedeuten soll als großen Besitz
(große Kapitalien als Familieneigentum werden zuletzt immer in Grundbesitz
investiert), so gibt es keine feudaleren Staaten als England mit seinen Landlords
und Nordamerika mit seinen Bonanzafarms und seinen Trustmagnaten. Zudem
sind, wie Charmatz selbst gelegentlich bemerkt, die österreichischen, namentlich die
böhmischen Magnaten allesamt zugleich Großindustrielle.

Was Charmatz will, das ist die Großindustrie, und Liberalismus nennt
ers. Warum denn der Sache eine falsche Etikette aufkleben, da er doch selbst
einmal ruft: Name ist Schall und Rauch? Darum, weil er eine mächtige Partei
will, beim allgemeinen gleichen Stimmrecht aber gar keine Großindustriellen-
Partei möglich ist, geschweige denn eine mächtige. Hätten die Herren das „Pri¬
vilegienparlament" zu einer berufstündischen Volksvertretung fortgebildet, von
der es schon den Keim enthielt, so hätten sie jetzt, was sie wollen: die Gro߬
industrie würde darin ihre angemessene Vertretung haben; die Arbeiter wären eben¬
falls vertreten, aber sie könnten auch bei vollständiger Industrialisierung Öster¬
reichs niemals so stark werden, daß sie die übrigen Stände zu majorisieren
vermöchten. Im Privilegienparlament, meint Charmatz, seien die Parteiführer
wahre Verwandlungskünstler gewesen, bei den Wahlen hätten sie jedem jedes
versprochen. Das müssen sie im jetzigen Parlament noch viel mehr sein. So¬
lange die Parlamentsparteien nicht sind, was sie der Natur der Sache nach
sein sollen: Vertretungen von Interessengruppen, von Bcrufständen, deren viel¬
fach widersprechende Interessen im Parlament unter Leitung der Regierung
ihren Ausgleich zu finden haben, so lange sind die Parteiführer aufs Lügen
angewiesen, und nirgends müssen sie ärger lügen, als wo das allgemeine gleiche
Wahlrecht gilt. Wie könnte bei diesem auf ehrliche Weise eine Vertretung der
Großindustrie zustande kommen, da doch die Großindustriellen eines Wahlkreises
mit allen ihren Beamten zusammen nicht den zehnten Teil der Wähler aus¬
machen? Soll ihr Kandidat durchkommen, so muß er das Blaue vom Himmel
herunterlügen, um aus Lohnarbeitern, Bauern, Kleinbürgern, Weichenstellern,
Briefträgern und andern solchen Leuten die erforderliche Zahl zusammenzubringen.
Es ist ja möglich, daß im großen und ganzen und auf die Dauer die Blüte
der Großindustrie das Wohl des gesamten Volkes bedeutet — möglicherweise
auch nicht, wer weiß das so genau? — aber hier und jetzt kollidiert meist das
Interesse des Herrn Kommerzienrath mit den Interessen sehr vieler, wo nicht
der meisten Kreisinsassen. Das Wohl der industriellen Lohnarbeiter hängt ganz
gewiß vom Gedeihen der Industrie ab, das sieht jeder verstündige Lohnarbeiter


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[0635] Österreichischer Neuliberalismus darum bekämpft werden, weil er die Industrie in Fesseln schlagen wolle. Mit welchen Mitteln der Klerus das versuche, wird nicht gesagt; daß die moderne Industrie unterm Schutzzoll und nicht bei der 8p6vwo1eZ nation, sondern in einem Volke von Analphabeten entstanden ist, wurde oben erwähnt, und was den Feudalismus betrifft, so existiert er als Institution in Österreich so wenig mehr wie bei uns, als Gesinnung aber überall, wo es reiche und mächtige Leute gibt, und wenn Feudalismus weiter nichts bedeuten soll als großen Besitz (große Kapitalien als Familieneigentum werden zuletzt immer in Grundbesitz investiert), so gibt es keine feudaleren Staaten als England mit seinen Landlords und Nordamerika mit seinen Bonanzafarms und seinen Trustmagnaten. Zudem sind, wie Charmatz selbst gelegentlich bemerkt, die österreichischen, namentlich die böhmischen Magnaten allesamt zugleich Großindustrielle. Was Charmatz will, das ist die Großindustrie, und Liberalismus nennt ers. Warum denn der Sache eine falsche Etikette aufkleben, da er doch selbst einmal ruft: Name ist Schall und Rauch? Darum, weil er eine mächtige Partei will, beim allgemeinen gleichen Stimmrecht aber gar keine Großindustriellen- Partei möglich ist, geschweige denn eine mächtige. Hätten die Herren das „Pri¬ vilegienparlament" zu einer berufstündischen Volksvertretung fortgebildet, von der es schon den Keim enthielt, so hätten sie jetzt, was sie wollen: die Gro߬ industrie würde darin ihre angemessene Vertretung haben; die Arbeiter wären eben¬ falls vertreten, aber sie könnten auch bei vollständiger Industrialisierung Öster¬ reichs niemals so stark werden, daß sie die übrigen Stände zu majorisieren vermöchten. Im Privilegienparlament, meint Charmatz, seien die Parteiführer wahre Verwandlungskünstler gewesen, bei den Wahlen hätten sie jedem jedes versprochen. Das müssen sie im jetzigen Parlament noch viel mehr sein. So¬ lange die Parlamentsparteien nicht sind, was sie der Natur der Sache nach sein sollen: Vertretungen von Interessengruppen, von Bcrufständen, deren viel¬ fach widersprechende Interessen im Parlament unter Leitung der Regierung ihren Ausgleich zu finden haben, so lange sind die Parteiführer aufs Lügen angewiesen, und nirgends müssen sie ärger lügen, als wo das allgemeine gleiche Wahlrecht gilt. Wie könnte bei diesem auf ehrliche Weise eine Vertretung der Großindustrie zustande kommen, da doch die Großindustriellen eines Wahlkreises mit allen ihren Beamten zusammen nicht den zehnten Teil der Wähler aus¬ machen? Soll ihr Kandidat durchkommen, so muß er das Blaue vom Himmel herunterlügen, um aus Lohnarbeitern, Bauern, Kleinbürgern, Weichenstellern, Briefträgern und andern solchen Leuten die erforderliche Zahl zusammenzubringen. Es ist ja möglich, daß im großen und ganzen und auf die Dauer die Blüte der Großindustrie das Wohl des gesamten Volkes bedeutet — möglicherweise auch nicht, wer weiß das so genau? — aber hier und jetzt kollidiert meist das Interesse des Herrn Kommerzienrath mit den Interessen sehr vieler, wo nicht der meisten Kreisinsassen. Das Wohl der industriellen Lohnarbeiter hängt ganz gewiß vom Gedeihen der Industrie ab, das sieht jeder verstündige Lohnarbeiter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/635>, abgerufen am 17.06.2024.