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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Der Stand des Balkanproblems

vornehmlich in Sofia und Athen eine Eindämmung des Bandenunwesens er¬
wirken möchten, aber nicht erwirken werden. Die Bulgaren haben sich auch
das stärkste Heer auf dem Balkan geschaffen, und die unaufhörlichen Fahrten
des Fürsten Ferdinand an die europäischen Höfe beweisen, daß er deren wohl¬
wollende Gesinnung zu werten und weise in Rechnung zu stellen weiß. Vor
Bulgarien hat auch die Türkei den meisten Respekt, und sie hat sich bei den
jüngsten Verschärfungen ihrer Beziehung zu Bulgarien der an sich selbst
schwächern und nur im Augenblick durch den Rückhalt an Italien und Eng¬
land gewichtiger erscheinenden Kräfte Griechenlands und Serbiens gegen
Bulgarien zu bedienen gesucht und Chance gehabt. Griechenland und Serbien
sind heute effektiv schwach genug und entbehren viel zu sehr der moralischen
Autorität auf dem Balkan, als daß sie nicht jedes Mittel benutzen sollten,
durch das sie einen Schritt näher zur Erfüllung ihrer mazedonischen Wünsche
und zur eignen Hegemonie auf dem Balkan zu gelangen sich einbilden.

Die Großmächte haben natürlich nicht gegen alle diese "Faktoren" und
Bestrebungen dieselbe Unbefangenheit. Die Mächte haben zum Beispiel diver¬
gierende strategische Interessen, und es liegt auf der Hand, daß eine gute Be¬
ziehung zu Griechenland für die Position der Konkurrenten im östlichen Mittel¬
meer sehr wichtig ist. Es ist ferner klar, daß zum Beispiel Italien, das mit
Serbien (wie mit Bulgarien und Rumänien) seinen Handelsvertrag abgeschlossen
hat, besser über dieses ihm zudem durch Verwandtschaft der regierenden Häuser
nahe gebrachte Staatswesen denkt als Österreich, das mit Serbien auf dem
wirtschaftlichen Felde ernste Schwierigkeiten hat. Andrerseits aber sind sich
die Mächte doch klar darüber, daß sie sich in den mazedonischen Dingen schon
viel zu weit engagiert haben, um etwas andres zu wollen als den swws <zuo
oder nach dessen Unmöglichkeit eine nationalistische Gruppierung der balkanischen
Territorien unter dem Gedanken des Gleichgewichts der staatlichen Kräfte.
Als das Vorstadium zu dem etwaigen autonomen balkanischen Staatenbunde
werden die Firmatarmächte des Berliner Vertrages jetzt eine Rechts- und Ver¬
waltungsordnung in Mazedonien zu schaffen haben, die auf der nationalistischen
Determination und Einteilung des mazedonischen Territoriums beruht. Und
wie es schon mit den albanischen Distrikten geschehen ist, so wird es auch mit
den übrigen gehn: die Mächte werden sich -- und das ist in hohem Grade
durch das ethnographische Gemisch gerechtfertigt -- nicht sehr auf Historiker
und Ethnologen berufen, sondern die nationalistische Determination nach einem
sprachlichen oder einem andern leicht zu fassenden Kriterium geben und ihr
Augenmerk darauf richten, daß keine Nationalität eine zu große territoriale
Basis erhalte und sie sich allesamt auf der Karte hübsch gruppieren. Das
ergibt allerdings ein in vieler Hinsicht mangelhaftes Werk, aber immerhin
ein Werk, das den gegenwärtigen Zustand mindestens insofern verbessert, als
er den Banden den Existenzgrund nimmt und ihr Verschwinden ebenso ge¬
wärtigen läßt, wie die albanischen Banden nach dem Albaniens territorial-


Der Stand des Balkanproblems

vornehmlich in Sofia und Athen eine Eindämmung des Bandenunwesens er¬
wirken möchten, aber nicht erwirken werden. Die Bulgaren haben sich auch
das stärkste Heer auf dem Balkan geschaffen, und die unaufhörlichen Fahrten
des Fürsten Ferdinand an die europäischen Höfe beweisen, daß er deren wohl¬
wollende Gesinnung zu werten und weise in Rechnung zu stellen weiß. Vor
Bulgarien hat auch die Türkei den meisten Respekt, und sie hat sich bei den
jüngsten Verschärfungen ihrer Beziehung zu Bulgarien der an sich selbst
schwächern und nur im Augenblick durch den Rückhalt an Italien und Eng¬
land gewichtiger erscheinenden Kräfte Griechenlands und Serbiens gegen
Bulgarien zu bedienen gesucht und Chance gehabt. Griechenland und Serbien
sind heute effektiv schwach genug und entbehren viel zu sehr der moralischen
Autorität auf dem Balkan, als daß sie nicht jedes Mittel benutzen sollten,
durch das sie einen Schritt näher zur Erfüllung ihrer mazedonischen Wünsche
und zur eignen Hegemonie auf dem Balkan zu gelangen sich einbilden.

Die Großmächte haben natürlich nicht gegen alle diese „Faktoren" und
Bestrebungen dieselbe Unbefangenheit. Die Mächte haben zum Beispiel diver¬
gierende strategische Interessen, und es liegt auf der Hand, daß eine gute Be¬
ziehung zu Griechenland für die Position der Konkurrenten im östlichen Mittel¬
meer sehr wichtig ist. Es ist ferner klar, daß zum Beispiel Italien, das mit
Serbien (wie mit Bulgarien und Rumänien) seinen Handelsvertrag abgeschlossen
hat, besser über dieses ihm zudem durch Verwandtschaft der regierenden Häuser
nahe gebrachte Staatswesen denkt als Österreich, das mit Serbien auf dem
wirtschaftlichen Felde ernste Schwierigkeiten hat. Andrerseits aber sind sich
die Mächte doch klar darüber, daß sie sich in den mazedonischen Dingen schon
viel zu weit engagiert haben, um etwas andres zu wollen als den swws <zuo
oder nach dessen Unmöglichkeit eine nationalistische Gruppierung der balkanischen
Territorien unter dem Gedanken des Gleichgewichts der staatlichen Kräfte.
Als das Vorstadium zu dem etwaigen autonomen balkanischen Staatenbunde
werden die Firmatarmächte des Berliner Vertrages jetzt eine Rechts- und Ver¬
waltungsordnung in Mazedonien zu schaffen haben, die auf der nationalistischen
Determination und Einteilung des mazedonischen Territoriums beruht. Und
wie es schon mit den albanischen Distrikten geschehen ist, so wird es auch mit
den übrigen gehn: die Mächte werden sich — und das ist in hohem Grade
durch das ethnographische Gemisch gerechtfertigt — nicht sehr auf Historiker
und Ethnologen berufen, sondern die nationalistische Determination nach einem
sprachlichen oder einem andern leicht zu fassenden Kriterium geben und ihr
Augenmerk darauf richten, daß keine Nationalität eine zu große territoriale
Basis erhalte und sie sich allesamt auf der Karte hübsch gruppieren. Das
ergibt allerdings ein in vieler Hinsicht mangelhaftes Werk, aber immerhin
ein Werk, das den gegenwärtigen Zustand mindestens insofern verbessert, als
er den Banden den Existenzgrund nimmt und ihr Verschwinden ebenso ge¬
wärtigen läßt, wie die albanischen Banden nach dem Albaniens territorial-


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[0074] Der Stand des Balkanproblems vornehmlich in Sofia und Athen eine Eindämmung des Bandenunwesens er¬ wirken möchten, aber nicht erwirken werden. Die Bulgaren haben sich auch das stärkste Heer auf dem Balkan geschaffen, und die unaufhörlichen Fahrten des Fürsten Ferdinand an die europäischen Höfe beweisen, daß er deren wohl¬ wollende Gesinnung zu werten und weise in Rechnung zu stellen weiß. Vor Bulgarien hat auch die Türkei den meisten Respekt, und sie hat sich bei den jüngsten Verschärfungen ihrer Beziehung zu Bulgarien der an sich selbst schwächern und nur im Augenblick durch den Rückhalt an Italien und Eng¬ land gewichtiger erscheinenden Kräfte Griechenlands und Serbiens gegen Bulgarien zu bedienen gesucht und Chance gehabt. Griechenland und Serbien sind heute effektiv schwach genug und entbehren viel zu sehr der moralischen Autorität auf dem Balkan, als daß sie nicht jedes Mittel benutzen sollten, durch das sie einen Schritt näher zur Erfüllung ihrer mazedonischen Wünsche und zur eignen Hegemonie auf dem Balkan zu gelangen sich einbilden. Die Großmächte haben natürlich nicht gegen alle diese „Faktoren" und Bestrebungen dieselbe Unbefangenheit. Die Mächte haben zum Beispiel diver¬ gierende strategische Interessen, und es liegt auf der Hand, daß eine gute Be¬ ziehung zu Griechenland für die Position der Konkurrenten im östlichen Mittel¬ meer sehr wichtig ist. Es ist ferner klar, daß zum Beispiel Italien, das mit Serbien (wie mit Bulgarien und Rumänien) seinen Handelsvertrag abgeschlossen hat, besser über dieses ihm zudem durch Verwandtschaft der regierenden Häuser nahe gebrachte Staatswesen denkt als Österreich, das mit Serbien auf dem wirtschaftlichen Felde ernste Schwierigkeiten hat. Andrerseits aber sind sich die Mächte doch klar darüber, daß sie sich in den mazedonischen Dingen schon viel zu weit engagiert haben, um etwas andres zu wollen als den swws <zuo oder nach dessen Unmöglichkeit eine nationalistische Gruppierung der balkanischen Territorien unter dem Gedanken des Gleichgewichts der staatlichen Kräfte. Als das Vorstadium zu dem etwaigen autonomen balkanischen Staatenbunde werden die Firmatarmächte des Berliner Vertrages jetzt eine Rechts- und Ver¬ waltungsordnung in Mazedonien zu schaffen haben, die auf der nationalistischen Determination und Einteilung des mazedonischen Territoriums beruht. Und wie es schon mit den albanischen Distrikten geschehen ist, so wird es auch mit den übrigen gehn: die Mächte werden sich — und das ist in hohem Grade durch das ethnographische Gemisch gerechtfertigt — nicht sehr auf Historiker und Ethnologen berufen, sondern die nationalistische Determination nach einem sprachlichen oder einem andern leicht zu fassenden Kriterium geben und ihr Augenmerk darauf richten, daß keine Nationalität eine zu große territoriale Basis erhalte und sie sich allesamt auf der Karte hübsch gruppieren. Das ergibt allerdings ein in vieler Hinsicht mangelhaftes Werk, aber immerhin ein Werk, das den gegenwärtigen Zustand mindestens insofern verbessert, als er den Banden den Existenzgrund nimmt und ihr Verschwinden ebenso ge¬ wärtigen läßt, wie die albanischen Banden nach dem Albaniens territorial-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/74>, abgerufen am 10.06.2024.