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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr.

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Nationale politische Erziehung

eignen Interessen zu entscheiden haben, wie sie einst den Römer auszeichnete
und heute den Engländer, davon ist der Deutsche noch weit entfernt. Und
bei der Schwerfälligkeit, die Schopenhauer als den Nationalcharakter des
Deutschen bezeichnet,' wird er diese Neigung zu verschwommner Gefühlspolitik
auch nicht überwinden, wenn er nicht systematisch erzogen wird zum Bewußt¬
sein eigner Würde und Kraft und zur Erkenntnis der eignen Interessen. Fürst
Bülow hat dem Deutschen vorgeworfen, daß er Scheuklappen trage. So ist
es leider, wie jeder Tag von neuem zeigt, und darum ist es nötig, alles daran
zu setzen, den Deutschen von seinen Scheuklappen zu befreien. Die Gründung
des Deutschen Reichs bedeutet nicht den Abschluß einer vielhundertjährigen
Entwicklung, sondern den Beginn unsers nationalen Lebens. Auf dem Wege,
den wir zurückzulegen haben, um der Welt das zu geben, was deutsche Arbeit
und deutscher Geist ihr zu geben vermögen, werden wir noch viele Gefahren
bestehen müssen. Scheuklappen können wir dazu nicht gebrauchen, deshalb
auf zum Kampfe gegen diese Scheuklappen durch Erziehung politisch denk¬
fähiger Staatsbürger!

Als der damalige Kolouialdirektor, jetzige Staatssekretär Dernburg es
unternahm, das deutsche Volk durch öffentliche Aussprachen über die Auf¬
gaben unsrer Kolonialpolitik aufzuklären, da sagte er am 21. Januar 1907
in München, er habe sich gefragt, wie es komme, daß man in Deutschland
so wenig von unsern Kolonien wisse, daß sich nur Mären verbreiteten von
Krieg und Greueln, daß man nur von Opfern und Zuschüssen höre, daß man
aber nicht wisse, wie unser kolonialer Besitz zustande gekommen sei, was er
für natürliche Hilfsquellen berge, was wir schon getan, ihn zu erschließen,
und was er schon jetzt biete. Die Antwort sei: es hat ja noch niemand
ernsthaft versucht, alle diese Dinge ins klare zu stellen. Der Kolonialdirektor
fuhr danach fort: "Und als ich mich weiter fragte, wer muß denn das tun,
wer muß diesen Versuch machen, da habe ich mir die Antwort gegeben: das
muß die Negierung tun, die für ihre Politik Verständnis sucht und ohne
solches Verständnis ihre Politik nicht durchführen kann." Die der Kolonial-
politik wenig günstige Stimmung sei in Deutschland entstanden, weil die Re¬
gierung das wichtigste versäumt habe, was eine kolonisierende Negierung tun
müsse, nämlich das Volk aufzuklären: "Das müssen wir jetzt ändern, wir
müssen die öffentliche Meinung umdrehen, wir müssen eintreten in einen
Kreuzzug der Erziehung zum kolonialen Verständnis."

Ein besseres Regierungsprogramm für die Fortführung unsrer Kolonial¬
politik kann es nicht geben; wenn danach verfahren wird, kann der Erfolg
nicht fehlen. Aber was der Staatssekretär hier von der Erziehung zu
kolonialen Verständnis gesagt hat, das gilt allgemein von der Erziehung zum
politischen Verständnis. Wenn der Deutsche bisher zu rechter Freude an
Kaiser und Reich noch nicht gekommen ist, wenn er nörgelt und verdrossen
abseits steht, statt sich zu freuen an dem, was wir erreicht haben, und tätig


Grenzboten IV 1907 H
Nationale politische Erziehung

eignen Interessen zu entscheiden haben, wie sie einst den Römer auszeichnete
und heute den Engländer, davon ist der Deutsche noch weit entfernt. Und
bei der Schwerfälligkeit, die Schopenhauer als den Nationalcharakter des
Deutschen bezeichnet,' wird er diese Neigung zu verschwommner Gefühlspolitik
auch nicht überwinden, wenn er nicht systematisch erzogen wird zum Bewußt¬
sein eigner Würde und Kraft und zur Erkenntnis der eignen Interessen. Fürst
Bülow hat dem Deutschen vorgeworfen, daß er Scheuklappen trage. So ist
es leider, wie jeder Tag von neuem zeigt, und darum ist es nötig, alles daran
zu setzen, den Deutschen von seinen Scheuklappen zu befreien. Die Gründung
des Deutschen Reichs bedeutet nicht den Abschluß einer vielhundertjährigen
Entwicklung, sondern den Beginn unsers nationalen Lebens. Auf dem Wege,
den wir zurückzulegen haben, um der Welt das zu geben, was deutsche Arbeit
und deutscher Geist ihr zu geben vermögen, werden wir noch viele Gefahren
bestehen müssen. Scheuklappen können wir dazu nicht gebrauchen, deshalb
auf zum Kampfe gegen diese Scheuklappen durch Erziehung politisch denk¬
fähiger Staatsbürger!

Als der damalige Kolouialdirektor, jetzige Staatssekretär Dernburg es
unternahm, das deutsche Volk durch öffentliche Aussprachen über die Auf¬
gaben unsrer Kolonialpolitik aufzuklären, da sagte er am 21. Januar 1907
in München, er habe sich gefragt, wie es komme, daß man in Deutschland
so wenig von unsern Kolonien wisse, daß sich nur Mären verbreiteten von
Krieg und Greueln, daß man nur von Opfern und Zuschüssen höre, daß man
aber nicht wisse, wie unser kolonialer Besitz zustande gekommen sei, was er
für natürliche Hilfsquellen berge, was wir schon getan, ihn zu erschließen,
und was er schon jetzt biete. Die Antwort sei: es hat ja noch niemand
ernsthaft versucht, alle diese Dinge ins klare zu stellen. Der Kolonialdirektor
fuhr danach fort: „Und als ich mich weiter fragte, wer muß denn das tun,
wer muß diesen Versuch machen, da habe ich mir die Antwort gegeben: das
muß die Negierung tun, die für ihre Politik Verständnis sucht und ohne
solches Verständnis ihre Politik nicht durchführen kann." Die der Kolonial-
politik wenig günstige Stimmung sei in Deutschland entstanden, weil die Re¬
gierung das wichtigste versäumt habe, was eine kolonisierende Negierung tun
müsse, nämlich das Volk aufzuklären: „Das müssen wir jetzt ändern, wir
müssen die öffentliche Meinung umdrehen, wir müssen eintreten in einen
Kreuzzug der Erziehung zum kolonialen Verständnis."

Ein besseres Regierungsprogramm für die Fortführung unsrer Kolonial¬
politik kann es nicht geben; wenn danach verfahren wird, kann der Erfolg
nicht fehlen. Aber was der Staatssekretär hier von der Erziehung zu
kolonialen Verständnis gesagt hat, das gilt allgemein von der Erziehung zum
politischen Verständnis. Wenn der Deutsche bisher zu rechter Freude an
Kaiser und Reich noch nicht gekommen ist, wenn er nörgelt und verdrossen
abseits steht, statt sich zu freuen an dem, was wir erreicht haben, und tätig


Grenzboten IV 1907 H
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[0089] Nationale politische Erziehung eignen Interessen zu entscheiden haben, wie sie einst den Römer auszeichnete und heute den Engländer, davon ist der Deutsche noch weit entfernt. Und bei der Schwerfälligkeit, die Schopenhauer als den Nationalcharakter des Deutschen bezeichnet,' wird er diese Neigung zu verschwommner Gefühlspolitik auch nicht überwinden, wenn er nicht systematisch erzogen wird zum Bewußt¬ sein eigner Würde und Kraft und zur Erkenntnis der eignen Interessen. Fürst Bülow hat dem Deutschen vorgeworfen, daß er Scheuklappen trage. So ist es leider, wie jeder Tag von neuem zeigt, und darum ist es nötig, alles daran zu setzen, den Deutschen von seinen Scheuklappen zu befreien. Die Gründung des Deutschen Reichs bedeutet nicht den Abschluß einer vielhundertjährigen Entwicklung, sondern den Beginn unsers nationalen Lebens. Auf dem Wege, den wir zurückzulegen haben, um der Welt das zu geben, was deutsche Arbeit und deutscher Geist ihr zu geben vermögen, werden wir noch viele Gefahren bestehen müssen. Scheuklappen können wir dazu nicht gebrauchen, deshalb auf zum Kampfe gegen diese Scheuklappen durch Erziehung politisch denk¬ fähiger Staatsbürger! Als der damalige Kolouialdirektor, jetzige Staatssekretär Dernburg es unternahm, das deutsche Volk durch öffentliche Aussprachen über die Auf¬ gaben unsrer Kolonialpolitik aufzuklären, da sagte er am 21. Januar 1907 in München, er habe sich gefragt, wie es komme, daß man in Deutschland so wenig von unsern Kolonien wisse, daß sich nur Mären verbreiteten von Krieg und Greueln, daß man nur von Opfern und Zuschüssen höre, daß man aber nicht wisse, wie unser kolonialer Besitz zustande gekommen sei, was er für natürliche Hilfsquellen berge, was wir schon getan, ihn zu erschließen, und was er schon jetzt biete. Die Antwort sei: es hat ja noch niemand ernsthaft versucht, alle diese Dinge ins klare zu stellen. Der Kolonialdirektor fuhr danach fort: „Und als ich mich weiter fragte, wer muß denn das tun, wer muß diesen Versuch machen, da habe ich mir die Antwort gegeben: das muß die Negierung tun, die für ihre Politik Verständnis sucht und ohne solches Verständnis ihre Politik nicht durchführen kann." Die der Kolonial- politik wenig günstige Stimmung sei in Deutschland entstanden, weil die Re¬ gierung das wichtigste versäumt habe, was eine kolonisierende Negierung tun müsse, nämlich das Volk aufzuklären: „Das müssen wir jetzt ändern, wir müssen die öffentliche Meinung umdrehen, wir müssen eintreten in einen Kreuzzug der Erziehung zum kolonialen Verständnis." Ein besseres Regierungsprogramm für die Fortführung unsrer Kolonial¬ politik kann es nicht geben; wenn danach verfahren wird, kann der Erfolg nicht fehlen. Aber was der Staatssekretär hier von der Erziehung zu kolonialen Verständnis gesagt hat, das gilt allgemein von der Erziehung zum politischen Verständnis. Wenn der Deutsche bisher zu rechter Freude an Kaiser und Reich noch nicht gekommen ist, wenn er nörgelt und verdrossen abseits steht, statt sich zu freuen an dem, was wir erreicht haben, und tätig Grenzboten IV 1907 H

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_303415/89>, abgerufen am 17.06.2024.