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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr.

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strafrechtliche und soziale Betrachtungen

zuleuchten, ist eine der vornehmsten Aufgaben des Strafrichters. Ist es schon
schwer, sagen zu können, daß die Persönlichkeit, die wiederholt zu dem Gesetz
in Widerspruch getreten ist, unverbesserlich sei -- es stünde denn ein Zugehöriger
jener Kategorie von Menschen vor Gericht, die sich die Verbrechenstat zum
Inhalt ihres Lebens gemacht haben --, so ist es besonders schwierig, festzu¬
stellen, welches Maß der Willenskraft von dem Täter gerade in dem zur Unter¬
suchung, zur Aburteilung stehenden Falle hätte aufgewandt werden müssen,
um dem Verbrechen mit Erfolg zu begegnen. Den Berufsverbrecher wird die
Strafe -- möge sie noch so hoch bemessen werden -- nicht mehr bessern, er
muß möglichst lange hinter Schloß und Riegel gebracht werden, damit die
Menschheit, der Staat, solange es irgend geht, vor ihm bewahrt bleibe, aber
die unverhältnismäßig bemessene Strafe andrerseits kann den Menschen, der
wacker gekämpft hat und dennoch erlegen ist, wiederum so nachteilig beeinflussen,
daß die heilende Kraft des Strafmittels gänzlich verloren geht. Darum ist es
so ungemein wichtig, daß angesichts der Möglichkeit einer schweren Bestrafung
wider eine Person, die nicht zu den abgefeimten Verbrechern gehört, alles
zusammengetragen werde, was dazu dienen kann, festzustellen, mit welchem
Rüstzeug der Täter ins Leben getreten ist, ob er von Kindheit auf im Eltern^
Hause eine Stählung des Willens, eine Leitung des Wollens zum Guten und
Gesetzmäßigen erhalten hat, wie er sich weiterhin im Leben bewährt und in
schwierigen Lagen abgefunden hat. Wer von Hause aus zum Betteln angehalten
worden ist, den Segen der Arbeit nicht kennen gelernt und als Jüngling schon
ein vcigabondierendes Leben geführt hat, kann selten die Kraft des Willens
finden, die ihn befähigt, sich dem wohltätigen Zwange dauernder Arbeit zu
unterwerfen. Und so beruhen zum Beispiel viele Fälle der Fahnenflucht im
Heere darauf, daß der Soldat gerade wegen seiner ganzen Vergangenheit,
wegen des völligen Mangels an Willensstärke die geregelte Tätigkeit und die
Disziplin als ein unerträgliches Joch empfindet. Ein solcher Fahnenflüchtiger
wird meist trotz empfangner Strafe von neuem nach Rückkehr zur Truppe
fahnenflüchtig und scheut selbst das ihn erwartende Zuchthaus von mindestens
fünf Jahren nicht, um durch eine dritte Fahnenflucht den militärischen Zwang
gänzlich abzustreifen. Solche Menschen fordern in gewissem Grade das Mitleid
heraus, und das Auge wendet sich unwillkürlich dahin, wo die Vorbereitung
fürs Leben stattfindet, zum Elternhaus und zur Schule. Diese hat nicht viel
Macht, wenn jenes versagt. Darum meine ich, muß es eine soziale Aufgabe
sein, den Eltern, den für die Erziehung verantwortlichen Lenkern der Jugend
noch weit mehr, als es bisher geschieht, beizuspringen, wenn sie durch ihren
Beruf und durch ihre Vermögenslage behindert sind, ihre Kinder, ihre Pfleg¬
linge ausreichend zu überwache", zu beeinflussen und zu zügeln, sie zur Ver¬
antwortung zu ziehn, zu maßregeln und unter Umständen der Gewalt über die
Kinder zu entsetzen, wenn sie in sträflicher Weise die Überwachung, die Aufsicht
vernachlässigen, vielleicht sogar das Kind auf den Pfad des Müßigganges, des


strafrechtliche und soziale Betrachtungen

zuleuchten, ist eine der vornehmsten Aufgaben des Strafrichters. Ist es schon
schwer, sagen zu können, daß die Persönlichkeit, die wiederholt zu dem Gesetz
in Widerspruch getreten ist, unverbesserlich sei — es stünde denn ein Zugehöriger
jener Kategorie von Menschen vor Gericht, die sich die Verbrechenstat zum
Inhalt ihres Lebens gemacht haben —, so ist es besonders schwierig, festzu¬
stellen, welches Maß der Willenskraft von dem Täter gerade in dem zur Unter¬
suchung, zur Aburteilung stehenden Falle hätte aufgewandt werden müssen,
um dem Verbrechen mit Erfolg zu begegnen. Den Berufsverbrecher wird die
Strafe — möge sie noch so hoch bemessen werden — nicht mehr bessern, er
muß möglichst lange hinter Schloß und Riegel gebracht werden, damit die
Menschheit, der Staat, solange es irgend geht, vor ihm bewahrt bleibe, aber
die unverhältnismäßig bemessene Strafe andrerseits kann den Menschen, der
wacker gekämpft hat und dennoch erlegen ist, wiederum so nachteilig beeinflussen,
daß die heilende Kraft des Strafmittels gänzlich verloren geht. Darum ist es
so ungemein wichtig, daß angesichts der Möglichkeit einer schweren Bestrafung
wider eine Person, die nicht zu den abgefeimten Verbrechern gehört, alles
zusammengetragen werde, was dazu dienen kann, festzustellen, mit welchem
Rüstzeug der Täter ins Leben getreten ist, ob er von Kindheit auf im Eltern^
Hause eine Stählung des Willens, eine Leitung des Wollens zum Guten und
Gesetzmäßigen erhalten hat, wie er sich weiterhin im Leben bewährt und in
schwierigen Lagen abgefunden hat. Wer von Hause aus zum Betteln angehalten
worden ist, den Segen der Arbeit nicht kennen gelernt und als Jüngling schon
ein vcigabondierendes Leben geführt hat, kann selten die Kraft des Willens
finden, die ihn befähigt, sich dem wohltätigen Zwange dauernder Arbeit zu
unterwerfen. Und so beruhen zum Beispiel viele Fälle der Fahnenflucht im
Heere darauf, daß der Soldat gerade wegen seiner ganzen Vergangenheit,
wegen des völligen Mangels an Willensstärke die geregelte Tätigkeit und die
Disziplin als ein unerträgliches Joch empfindet. Ein solcher Fahnenflüchtiger
wird meist trotz empfangner Strafe von neuem nach Rückkehr zur Truppe
fahnenflüchtig und scheut selbst das ihn erwartende Zuchthaus von mindestens
fünf Jahren nicht, um durch eine dritte Fahnenflucht den militärischen Zwang
gänzlich abzustreifen. Solche Menschen fordern in gewissem Grade das Mitleid
heraus, und das Auge wendet sich unwillkürlich dahin, wo die Vorbereitung
fürs Leben stattfindet, zum Elternhaus und zur Schule. Diese hat nicht viel
Macht, wenn jenes versagt. Darum meine ich, muß es eine soziale Aufgabe
sein, den Eltern, den für die Erziehung verantwortlichen Lenkern der Jugend
noch weit mehr, als es bisher geschieht, beizuspringen, wenn sie durch ihren
Beruf und durch ihre Vermögenslage behindert sind, ihre Kinder, ihre Pfleg¬
linge ausreichend zu überwache», zu beeinflussen und zu zügeln, sie zur Ver¬
antwortung zu ziehn, zu maßregeln und unter Umständen der Gewalt über die
Kinder zu entsetzen, wenn sie in sträflicher Weise die Überwachung, die Aufsicht
vernachlässigen, vielleicht sogar das Kind auf den Pfad des Müßigganges, des


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[0536] strafrechtliche und soziale Betrachtungen zuleuchten, ist eine der vornehmsten Aufgaben des Strafrichters. Ist es schon schwer, sagen zu können, daß die Persönlichkeit, die wiederholt zu dem Gesetz in Widerspruch getreten ist, unverbesserlich sei — es stünde denn ein Zugehöriger jener Kategorie von Menschen vor Gericht, die sich die Verbrechenstat zum Inhalt ihres Lebens gemacht haben —, so ist es besonders schwierig, festzu¬ stellen, welches Maß der Willenskraft von dem Täter gerade in dem zur Unter¬ suchung, zur Aburteilung stehenden Falle hätte aufgewandt werden müssen, um dem Verbrechen mit Erfolg zu begegnen. Den Berufsverbrecher wird die Strafe — möge sie noch so hoch bemessen werden — nicht mehr bessern, er muß möglichst lange hinter Schloß und Riegel gebracht werden, damit die Menschheit, der Staat, solange es irgend geht, vor ihm bewahrt bleibe, aber die unverhältnismäßig bemessene Strafe andrerseits kann den Menschen, der wacker gekämpft hat und dennoch erlegen ist, wiederum so nachteilig beeinflussen, daß die heilende Kraft des Strafmittels gänzlich verloren geht. Darum ist es so ungemein wichtig, daß angesichts der Möglichkeit einer schweren Bestrafung wider eine Person, die nicht zu den abgefeimten Verbrechern gehört, alles zusammengetragen werde, was dazu dienen kann, festzustellen, mit welchem Rüstzeug der Täter ins Leben getreten ist, ob er von Kindheit auf im Eltern^ Hause eine Stählung des Willens, eine Leitung des Wollens zum Guten und Gesetzmäßigen erhalten hat, wie er sich weiterhin im Leben bewährt und in schwierigen Lagen abgefunden hat. Wer von Hause aus zum Betteln angehalten worden ist, den Segen der Arbeit nicht kennen gelernt und als Jüngling schon ein vcigabondierendes Leben geführt hat, kann selten die Kraft des Willens finden, die ihn befähigt, sich dem wohltätigen Zwange dauernder Arbeit zu unterwerfen. Und so beruhen zum Beispiel viele Fälle der Fahnenflucht im Heere darauf, daß der Soldat gerade wegen seiner ganzen Vergangenheit, wegen des völligen Mangels an Willensstärke die geregelte Tätigkeit und die Disziplin als ein unerträgliches Joch empfindet. Ein solcher Fahnenflüchtiger wird meist trotz empfangner Strafe von neuem nach Rückkehr zur Truppe fahnenflüchtig und scheut selbst das ihn erwartende Zuchthaus von mindestens fünf Jahren nicht, um durch eine dritte Fahnenflucht den militärischen Zwang gänzlich abzustreifen. Solche Menschen fordern in gewissem Grade das Mitleid heraus, und das Auge wendet sich unwillkürlich dahin, wo die Vorbereitung fürs Leben stattfindet, zum Elternhaus und zur Schule. Diese hat nicht viel Macht, wenn jenes versagt. Darum meine ich, muß es eine soziale Aufgabe sein, den Eltern, den für die Erziehung verantwortlichen Lenkern der Jugend noch weit mehr, als es bisher geschieht, beizuspringen, wenn sie durch ihren Beruf und durch ihre Vermögenslage behindert sind, ihre Kinder, ihre Pfleg¬ linge ausreichend zu überwache», zu beeinflussen und zu zügeln, sie zur Ver¬ antwortung zu ziehn, zu maßregeln und unter Umständen der Gewalt über die Kinder zu entsetzen, wenn sie in sträflicher Weise die Überwachung, die Aufsicht vernachlässigen, vielleicht sogar das Kind auf den Pfad des Müßigganges, des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_310410/536>, abgerufen am 21.05.2024.