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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr.

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Neue Romane und Novellen

Raabes doch wirklich nicht schwer zugänglichen "Hungerpastor" (von den großen
andern Romanen schweige ich schon) binnen ebensoviel Jahrzehnten, wird sich
nicht über die Generation stellen dürfen, die einst die wesentlich ungefährlichere
Marlitt verschlang.

Und trotz alledem ist nicht nur eine Hebung des Interesses für den Roman,
sondern auch eine Hebung seines durchschnittlichen Stils zu verzeichnen. Auch
der bloße Unterhaltungsroman ist zweifellos viel besser geworden, als er war,
und zum Beispiel ein Buch wie "Eine von zuvielen" von Liesbet Dill (Stutt¬
gart und Leipzig. Deutsche Verlagsanstalt) wäre früher weit mehr aufgefallen,
während es heute im Strome mitgeht. Die Geschichte der armen Offiziers¬
tochter, die nichts gelernt hat und sich nun traurig genug als Gesellschafterin
durchs Leben stößt, wird mit der an Liesbet Dill bekannten Kunst guter
Charakteristik der Personen und des Milieus erzählt. Freilich gelingt es ihr
nie, sich mit ihrem Stoff aufzuschwingen und ihn über den auf die Dauer
kleinlich wirkenden Druck durch eine weitere Perspektive zu erheben. Wir be¬
kommen schließlich die Neigung, nicht mehr Geschick und Milieu als lastend
zu empfinden, sondern geraten in eine recht kriegerische Stimmung gegen die
Heldin des Buchs hinein, deren Misere (das ist das rechte Wort) denn doch
oft genug durch ein Wort zu beenden wäre. Das Buch ist ohne innere Not¬
wendigkeit und könnte im Grunde schon viel früher schließen, als es geschieht,
ebenso freilich auch in gleicher Weise noch eine Weile fortgeführt werden.
Dasselbe Thema behandelt, und zwar mit dem Wunsch, es mit sozialen Ideen
allgemeingültiger hinauszuführen, Bernhard von Burgdorff in dem Roman
"Wir alten Familien" (Dresden, Heinrich Minden); ihm aber haftet noch eine
gewisse dilettantische Ungelenkheit der Sprache an, die sein Buch ungleich
gestaltet und es hinter dem Gewollten zurückbleiben läßt.

Adeline Gräfin zu Rantzcm hat denselben sozialen Reformier wie Burg¬
dorff, aber zugleich ein ganz andres Temperament, sehr viel mehr Dichtergaben
und einen schürfern Blick für die Darstellung des einzelnen Menschen. Ihr
Roman "Hans Kamp" (Berlin, Martin Warneck) ist noch in den meisten Dingen
ganz aufüngerhaft, Typen werden unverbunden nebeneinander gestellt, die
Umgebungen stark nach der Schablone gezeichnet. Aber hier freilich auch schon
steckt viel leidenschaftliches Temperament, das dann in dem neuen Roman "Ein
unmöglicher Mensch" (ebenfalls bei Warneck) lodernd emporschlägt. Diese Gräfin
Sibhlle, die eine soziale Neformatorin ist und ihren Gatten wie ihren Sohn
Zu gleicher Gesinnung erzieht, ist eine imposante Gestalt, ein menschlich und
künstlerisch gleich durchgearbeiteter Charakter, an dem kaum hier und da etwas
fehlt. Man braucht sich nicht nur an dem hohen sittlichen Idealismus dieses
durch und durch christlichen Buches zu erfreuen, sondern man empfindet diese
starke und leuchtende Gesinnung als etwas nicht aufgepfropftes oder tendenziös
hmemgebrachtes, sondern als einen Lebensstrom, der aus der Schriftstellerin
in ihre Heldin übergegangen ist. Die sittliche Revolution, die Sibylle erhofft,!>>


Grenzboten I 1908 ^
Neue Romane und Novellen

Raabes doch wirklich nicht schwer zugänglichen „Hungerpastor" (von den großen
andern Romanen schweige ich schon) binnen ebensoviel Jahrzehnten, wird sich
nicht über die Generation stellen dürfen, die einst die wesentlich ungefährlichere
Marlitt verschlang.

Und trotz alledem ist nicht nur eine Hebung des Interesses für den Roman,
sondern auch eine Hebung seines durchschnittlichen Stils zu verzeichnen. Auch
der bloße Unterhaltungsroman ist zweifellos viel besser geworden, als er war,
und zum Beispiel ein Buch wie „Eine von zuvielen" von Liesbet Dill (Stutt¬
gart und Leipzig. Deutsche Verlagsanstalt) wäre früher weit mehr aufgefallen,
während es heute im Strome mitgeht. Die Geschichte der armen Offiziers¬
tochter, die nichts gelernt hat und sich nun traurig genug als Gesellschafterin
durchs Leben stößt, wird mit der an Liesbet Dill bekannten Kunst guter
Charakteristik der Personen und des Milieus erzählt. Freilich gelingt es ihr
nie, sich mit ihrem Stoff aufzuschwingen und ihn über den auf die Dauer
kleinlich wirkenden Druck durch eine weitere Perspektive zu erheben. Wir be¬
kommen schließlich die Neigung, nicht mehr Geschick und Milieu als lastend
zu empfinden, sondern geraten in eine recht kriegerische Stimmung gegen die
Heldin des Buchs hinein, deren Misere (das ist das rechte Wort) denn doch
oft genug durch ein Wort zu beenden wäre. Das Buch ist ohne innere Not¬
wendigkeit und könnte im Grunde schon viel früher schließen, als es geschieht,
ebenso freilich auch in gleicher Weise noch eine Weile fortgeführt werden.
Dasselbe Thema behandelt, und zwar mit dem Wunsch, es mit sozialen Ideen
allgemeingültiger hinauszuführen, Bernhard von Burgdorff in dem Roman
„Wir alten Familien" (Dresden, Heinrich Minden); ihm aber haftet noch eine
gewisse dilettantische Ungelenkheit der Sprache an, die sein Buch ungleich
gestaltet und es hinter dem Gewollten zurückbleiben läßt.

Adeline Gräfin zu Rantzcm hat denselben sozialen Reformier wie Burg¬
dorff, aber zugleich ein ganz andres Temperament, sehr viel mehr Dichtergaben
und einen schürfern Blick für die Darstellung des einzelnen Menschen. Ihr
Roman „Hans Kamp" (Berlin, Martin Warneck) ist noch in den meisten Dingen
ganz aufüngerhaft, Typen werden unverbunden nebeneinander gestellt, die
Umgebungen stark nach der Schablone gezeichnet. Aber hier freilich auch schon
steckt viel leidenschaftliches Temperament, das dann in dem neuen Roman „Ein
unmöglicher Mensch" (ebenfalls bei Warneck) lodernd emporschlägt. Diese Gräfin
Sibhlle, die eine soziale Neformatorin ist und ihren Gatten wie ihren Sohn
Zu gleicher Gesinnung erzieht, ist eine imposante Gestalt, ein menschlich und
künstlerisch gleich durchgearbeiteter Charakter, an dem kaum hier und da etwas
fehlt. Man braucht sich nicht nur an dem hohen sittlichen Idealismus dieses
durch und durch christlichen Buches zu erfreuen, sondern man empfindet diese
starke und leuchtende Gesinnung als etwas nicht aufgepfropftes oder tendenziös
hmemgebrachtes, sondern als einen Lebensstrom, der aus der Schriftstellerin
in ihre Heldin übergegangen ist. Die sittliche Revolution, die Sibylle erhofft,!>>


Grenzboten I 1908 ^
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[0137] Neue Romane und Novellen Raabes doch wirklich nicht schwer zugänglichen „Hungerpastor" (von den großen andern Romanen schweige ich schon) binnen ebensoviel Jahrzehnten, wird sich nicht über die Generation stellen dürfen, die einst die wesentlich ungefährlichere Marlitt verschlang. Und trotz alledem ist nicht nur eine Hebung des Interesses für den Roman, sondern auch eine Hebung seines durchschnittlichen Stils zu verzeichnen. Auch der bloße Unterhaltungsroman ist zweifellos viel besser geworden, als er war, und zum Beispiel ein Buch wie „Eine von zuvielen" von Liesbet Dill (Stutt¬ gart und Leipzig. Deutsche Verlagsanstalt) wäre früher weit mehr aufgefallen, während es heute im Strome mitgeht. Die Geschichte der armen Offiziers¬ tochter, die nichts gelernt hat und sich nun traurig genug als Gesellschafterin durchs Leben stößt, wird mit der an Liesbet Dill bekannten Kunst guter Charakteristik der Personen und des Milieus erzählt. Freilich gelingt es ihr nie, sich mit ihrem Stoff aufzuschwingen und ihn über den auf die Dauer kleinlich wirkenden Druck durch eine weitere Perspektive zu erheben. Wir be¬ kommen schließlich die Neigung, nicht mehr Geschick und Milieu als lastend zu empfinden, sondern geraten in eine recht kriegerische Stimmung gegen die Heldin des Buchs hinein, deren Misere (das ist das rechte Wort) denn doch oft genug durch ein Wort zu beenden wäre. Das Buch ist ohne innere Not¬ wendigkeit und könnte im Grunde schon viel früher schließen, als es geschieht, ebenso freilich auch in gleicher Weise noch eine Weile fortgeführt werden. Dasselbe Thema behandelt, und zwar mit dem Wunsch, es mit sozialen Ideen allgemeingültiger hinauszuführen, Bernhard von Burgdorff in dem Roman „Wir alten Familien" (Dresden, Heinrich Minden); ihm aber haftet noch eine gewisse dilettantische Ungelenkheit der Sprache an, die sein Buch ungleich gestaltet und es hinter dem Gewollten zurückbleiben läßt. Adeline Gräfin zu Rantzcm hat denselben sozialen Reformier wie Burg¬ dorff, aber zugleich ein ganz andres Temperament, sehr viel mehr Dichtergaben und einen schürfern Blick für die Darstellung des einzelnen Menschen. Ihr Roman „Hans Kamp" (Berlin, Martin Warneck) ist noch in den meisten Dingen ganz aufüngerhaft, Typen werden unverbunden nebeneinander gestellt, die Umgebungen stark nach der Schablone gezeichnet. Aber hier freilich auch schon steckt viel leidenschaftliches Temperament, das dann in dem neuen Roman „Ein unmöglicher Mensch" (ebenfalls bei Warneck) lodernd emporschlägt. Diese Gräfin Sibhlle, die eine soziale Neformatorin ist und ihren Gatten wie ihren Sohn Zu gleicher Gesinnung erzieht, ist eine imposante Gestalt, ein menschlich und künstlerisch gleich durchgearbeiteter Charakter, an dem kaum hier und da etwas fehlt. Man braucht sich nicht nur an dem hohen sittlichen Idealismus dieses durch und durch christlichen Buches zu erfreuen, sondern man empfindet diese starke und leuchtende Gesinnung als etwas nicht aufgepfropftes oder tendenziös hmemgebrachtes, sondern als einen Lebensstrom, der aus der Schriftstellerin in ihre Heldin übergegangen ist. Die sittliche Revolution, die Sibylle erhofft,!>> Grenzboten I 1908 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311080/137>, abgerufen am 22.05.2024.