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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Die asiatische Linwimdrung

Für die weißen Nationen mit ihrer stetig wachsenden Industrie , ihrem
wachsenden Nohmaterialbedarf ist ti< Erschließung weiterer Absatzmärkte für
ihre Waren eine Lebensfrage, und die nach vielen Hunderten von Millionen
zählenden Völker des Ostens als Abnehmer zu haben, ist eine Sache von der
größten Bedeutung. Heute kauft Indien mehr von England als irgend ein
andrer Teil des Reiches. Die Gesamtabnahme Asiens von den Weißen Na¬
tionen wird auf 2 bis 4 Milliarden jährlich geschätzt. Dieser Handel aber ist
noch in den ersten Anfängen, die einfachen Bedürfnisse steigen, mehr und mehr
gewöhnt man sich an europäische Erzeugnisse und läßt einheimische Industrien
verkümmern. Der Wettbewerb um diesen Handel mit dem Osten wird fort¬
während schärfer; es liegt nahe, daß man, um sich die Abnehmer geneigt zu
machen, um Konzessionen zu erringen, andre wichtige Interessen opfern muß.
Wenn Japan. China und Indien ihrerseits die Öffnung der Länder des Pazifischen
Ozeans für die Masfeneinwandrung ihrer Völker fordern, so liegt die Be¬
fürchtung vor, daß das industrielle Mutterland geneigt ist, dem eignen Augen¬
blicksinteresse folgend, diesem Drängen nachzugeben. Hier liegt die Gefahr für
die Kolonialländer, deren Erhaltung als pries MM's oountriss der Zukunft
von viel größerer Wichtigkeit ist.

Auch Asien braucht Raum zum Abfließen für seine stetig wachsenden Be¬
völkerungsmassen. Die Hemmungen, die Krieg, ansteckende Krankheiten und
Hungersnöte in der Bevölkerungszunahme bewirkten, werden immer geringer;
die Bevölkerung Südindiens verdoppelt sich in 88^ Jahren, der kultivierte
Boden wächst aber nur um etwa acht Prozent in der Dekade, so muß eine Abwan¬
derung stattfinden, und die Völker Asiens drängen gegen die Schranken, die die
westlichen Nationen errichtet haben. Wie lange werden diese standhalten?

Noch andre Dinge verwickeln die Frage. Erstens ist England durch einen
Allianzvertrag mit der asiatischen Macht verbunden, die selbst geeignet ist, die
Führung in dieser Bewegung zu übernehmen. Weiter ist es selbst die Be¬
herrscherin von 300 Millionen indischer Völkerschaften, die sich gegen die
englische Bevormundung aufzulehnen beginnen und andrerseits auf die ihnen
zugesicherten Rechte als britische Neichsuntertanen pochen. In den großen
Tochterstaaten selbst sind Anschauungen und wirtschaftliche Bedürfnisse in den
verschiednen Teilen verschieden. Die dünn bevölkerten Staaten an der pazifischen
Küste der Union und Kanadas bedürfen für eine Reihe von Jahren billiger
Arbeitskräfte, um die großen Kulturaufgaben zu lösen, die die Besiedlung und
die Erschließung im Großen allein ermöglichen. Für die Bahngesellschaften,
vornehmlich die großen Transkontinentalbahnen, für den Kanalbau, Farmer,
Sägemühlen und andre mehr sind billige Arbeitskräfte eine Frage des Seins
oder Nichtseins. Das Angebot an europäischen Arbeitskräften steht in keinem
Verhältnis zu der Nachfrage, und unter den heutigen Verhältnissen können
nur asiatische Arbeitskräfte helfen, wenn die Entwicklung nicht ins Stocken ge¬
raten soll. Das Verbleiben der Asiaten im Lande aber ist nichts weniger als


Die asiatische Linwimdrung

Für die weißen Nationen mit ihrer stetig wachsenden Industrie , ihrem
wachsenden Nohmaterialbedarf ist ti< Erschließung weiterer Absatzmärkte für
ihre Waren eine Lebensfrage, und die nach vielen Hunderten von Millionen
zählenden Völker des Ostens als Abnehmer zu haben, ist eine Sache von der
größten Bedeutung. Heute kauft Indien mehr von England als irgend ein
andrer Teil des Reiches. Die Gesamtabnahme Asiens von den Weißen Na¬
tionen wird auf 2 bis 4 Milliarden jährlich geschätzt. Dieser Handel aber ist
noch in den ersten Anfängen, die einfachen Bedürfnisse steigen, mehr und mehr
gewöhnt man sich an europäische Erzeugnisse und läßt einheimische Industrien
verkümmern. Der Wettbewerb um diesen Handel mit dem Osten wird fort¬
während schärfer; es liegt nahe, daß man, um sich die Abnehmer geneigt zu
machen, um Konzessionen zu erringen, andre wichtige Interessen opfern muß.
Wenn Japan. China und Indien ihrerseits die Öffnung der Länder des Pazifischen
Ozeans für die Masfeneinwandrung ihrer Völker fordern, so liegt die Be¬
fürchtung vor, daß das industrielle Mutterland geneigt ist, dem eignen Augen¬
blicksinteresse folgend, diesem Drängen nachzugeben. Hier liegt die Gefahr für
die Kolonialländer, deren Erhaltung als pries MM's oountriss der Zukunft
von viel größerer Wichtigkeit ist.

Auch Asien braucht Raum zum Abfließen für seine stetig wachsenden Be¬
völkerungsmassen. Die Hemmungen, die Krieg, ansteckende Krankheiten und
Hungersnöte in der Bevölkerungszunahme bewirkten, werden immer geringer;
die Bevölkerung Südindiens verdoppelt sich in 88^ Jahren, der kultivierte
Boden wächst aber nur um etwa acht Prozent in der Dekade, so muß eine Abwan¬
derung stattfinden, und die Völker Asiens drängen gegen die Schranken, die die
westlichen Nationen errichtet haben. Wie lange werden diese standhalten?

Noch andre Dinge verwickeln die Frage. Erstens ist England durch einen
Allianzvertrag mit der asiatischen Macht verbunden, die selbst geeignet ist, die
Führung in dieser Bewegung zu übernehmen. Weiter ist es selbst die Be¬
herrscherin von 300 Millionen indischer Völkerschaften, die sich gegen die
englische Bevormundung aufzulehnen beginnen und andrerseits auf die ihnen
zugesicherten Rechte als britische Neichsuntertanen pochen. In den großen
Tochterstaaten selbst sind Anschauungen und wirtschaftliche Bedürfnisse in den
verschiednen Teilen verschieden. Die dünn bevölkerten Staaten an der pazifischen
Küste der Union und Kanadas bedürfen für eine Reihe von Jahren billiger
Arbeitskräfte, um die großen Kulturaufgaben zu lösen, die die Besiedlung und
die Erschließung im Großen allein ermöglichen. Für die Bahngesellschaften,
vornehmlich die großen Transkontinentalbahnen, für den Kanalbau, Farmer,
Sägemühlen und andre mehr sind billige Arbeitskräfte eine Frage des Seins
oder Nichtseins. Das Angebot an europäischen Arbeitskräften steht in keinem
Verhältnis zu der Nachfrage, und unter den heutigen Verhältnissen können
nur asiatische Arbeitskräfte helfen, wenn die Entwicklung nicht ins Stocken ge¬
raten soll. Das Verbleiben der Asiaten im Lande aber ist nichts weniger als


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[0118] Die asiatische Linwimdrung Für die weißen Nationen mit ihrer stetig wachsenden Industrie , ihrem wachsenden Nohmaterialbedarf ist ti< Erschließung weiterer Absatzmärkte für ihre Waren eine Lebensfrage, und die nach vielen Hunderten von Millionen zählenden Völker des Ostens als Abnehmer zu haben, ist eine Sache von der größten Bedeutung. Heute kauft Indien mehr von England als irgend ein andrer Teil des Reiches. Die Gesamtabnahme Asiens von den Weißen Na¬ tionen wird auf 2 bis 4 Milliarden jährlich geschätzt. Dieser Handel aber ist noch in den ersten Anfängen, die einfachen Bedürfnisse steigen, mehr und mehr gewöhnt man sich an europäische Erzeugnisse und läßt einheimische Industrien verkümmern. Der Wettbewerb um diesen Handel mit dem Osten wird fort¬ während schärfer; es liegt nahe, daß man, um sich die Abnehmer geneigt zu machen, um Konzessionen zu erringen, andre wichtige Interessen opfern muß. Wenn Japan. China und Indien ihrerseits die Öffnung der Länder des Pazifischen Ozeans für die Masfeneinwandrung ihrer Völker fordern, so liegt die Be¬ fürchtung vor, daß das industrielle Mutterland geneigt ist, dem eignen Augen¬ blicksinteresse folgend, diesem Drängen nachzugeben. Hier liegt die Gefahr für die Kolonialländer, deren Erhaltung als pries MM's oountriss der Zukunft von viel größerer Wichtigkeit ist. Auch Asien braucht Raum zum Abfließen für seine stetig wachsenden Be¬ völkerungsmassen. Die Hemmungen, die Krieg, ansteckende Krankheiten und Hungersnöte in der Bevölkerungszunahme bewirkten, werden immer geringer; die Bevölkerung Südindiens verdoppelt sich in 88^ Jahren, der kultivierte Boden wächst aber nur um etwa acht Prozent in der Dekade, so muß eine Abwan¬ derung stattfinden, und die Völker Asiens drängen gegen die Schranken, die die westlichen Nationen errichtet haben. Wie lange werden diese standhalten? Noch andre Dinge verwickeln die Frage. Erstens ist England durch einen Allianzvertrag mit der asiatischen Macht verbunden, die selbst geeignet ist, die Führung in dieser Bewegung zu übernehmen. Weiter ist es selbst die Be¬ herrscherin von 300 Millionen indischer Völkerschaften, die sich gegen die englische Bevormundung aufzulehnen beginnen und andrerseits auf die ihnen zugesicherten Rechte als britische Neichsuntertanen pochen. In den großen Tochterstaaten selbst sind Anschauungen und wirtschaftliche Bedürfnisse in den verschiednen Teilen verschieden. Die dünn bevölkerten Staaten an der pazifischen Küste der Union und Kanadas bedürfen für eine Reihe von Jahren billiger Arbeitskräfte, um die großen Kulturaufgaben zu lösen, die die Besiedlung und die Erschließung im Großen allein ermöglichen. Für die Bahngesellschaften, vornehmlich die großen Transkontinentalbahnen, für den Kanalbau, Farmer, Sägemühlen und andre mehr sind billige Arbeitskräfte eine Frage des Seins oder Nichtseins. Das Angebot an europäischen Arbeitskräften steht in keinem Verhältnis zu der Nachfrage, und unter den heutigen Verhältnissen können nur asiatische Arbeitskräfte helfen, wenn die Entwicklung nicht ins Stocken ge¬ raten soll. Das Verbleiben der Asiaten im Lande aber ist nichts weniger als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/118>, abgerufen am 22.05.2024.