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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Politik in der Schule

fortzubilden -- hin und her schwanken. Es sind die eigentlich schwachen
Charaktere.

Da haben Sie recht, und das sind auch für die Erziehung die schwierigsten.
"Sei, was du bist", das ist das oberste Gebot der individualistischen Ethik.
So gewiß es ist, daß jeder natürliche Anlagen mit auf die Welt bringt, und
das Temperament angeboren ist, ein bestimmtes Quantum von Willenskraft
jedem zugemessen ist. ebenso gewiß ist es auch, daß Verhältnisse und Erziehung
einen außerordentlichen Einfluß auf die Charakterbildung gewinnen können;
und das Bewußtsein der Verantwortlichkeit allein schon beweist die Veränderungs¬
fähigkeit der natürlichen Anlagen. Ein jeder spielt sein eignes Instrument;
dieses Instrument wird ihm von der Natur geliefert. Es kommt nun darauf
an. daß er auf diesem Instrument spielen lernt. Deswegen gibt es auch nur
da. wo alle Spieler gut geübt haben, eine reine Sinfonie, und da. wo es
nicht der Fall ist. Disharmonie. Also: "Sei, was du bist" bedeutet so viel
als: Bilde deine dir von der Natur verliehenen Kräfte so gut aus, wie es
geht; spiele aber uur auf deinem Instrument; tu. was du tun mußt, aber tue
es so gut, wie du kannst, tue es so. daß dir dem eignes Gewissen keine Vor¬
würfe macht; denn das Gewissen ist der unerbittliche Rächer für die Sünde
gegen dein eignes Wesen. Damit ist aber nicht gesagt, daß sich ein Charakter
darin zeigt, daß er für andre Individualitäten kein Verständnis hat und
seine nur für die richtige hält. Im Gegenteil, eine derartige Unduldsamkeit
ist nicht nur ein Zeichen von mangelhafter Bildung - das ist ste unter allen
Umständen -. sondern auch oft ein Zeichen schwächlicher, neidischer, boshafter
Gesinnung, die die laute Stimme des eignen Gewissens trotzig und brutal zu
vergewaltigen sucht. Nur arger Unverstand oder böswillige Absicht kann in
einer solchen Karikatur des Egoismus den Charakter erkennen. Wer sich mit
sich selbst ernst und wahrhaftig beschäftigt, der findet bei sich selbst so viele
Mängel, daß er, wenn er nicht unehrlich sem will, auch bei andern milde
urteilen wird. Gerade je klarer und kräftiger die eigne Individualität ausge¬
bildet ist. um so mehr muß das Individuum die Berechtigung andrer Indi¬
vidualitäten anerkennen; er muß wenigstens versuchen, sie zu verstehn. Ver¬
steh" ist nicht Billiger -- das beste Verständnis und die schärfste Mißbilligung
vertragen sich sehr' gut miteinander -, Verstehen ist auch nicht Verzeihen,
wie Madame Stael will; aber freilich der Weg zur Verzeihung. Gerade die
Rücksicht auf uns selbst, die Wucht unsrer eignen Persönlichkeit muß und wird
uns bewahren, gegen den, der anders ist als wir selbst, in kindischem Trotz
oder böswilliger Feindseligkeit anzurennen. Und das ist der Ernst des Lebens,
die Arbeit an uns selbst; ja sie ist die Voraussetzung und Grundlage für alle
andern Arbeiten und Leistungen. Und hier ist es, wo sich Schule und Familie
die Hand reichen müssen, um das Werk der Vorbereitung für diesen schweren
Kampf zustande zu bringen. Eltern und Lehrer können nur die Unterweisung
in der Waffenführung geben, den Zögling immer und immer wieder darauf


Grenzboten II 1808 ^
Politik in der Schule

fortzubilden — hin und her schwanken. Es sind die eigentlich schwachen
Charaktere.

Da haben Sie recht, und das sind auch für die Erziehung die schwierigsten.
„Sei, was du bist", das ist das oberste Gebot der individualistischen Ethik.
So gewiß es ist, daß jeder natürliche Anlagen mit auf die Welt bringt, und
das Temperament angeboren ist, ein bestimmtes Quantum von Willenskraft
jedem zugemessen ist. ebenso gewiß ist es auch, daß Verhältnisse und Erziehung
einen außerordentlichen Einfluß auf die Charakterbildung gewinnen können;
und das Bewußtsein der Verantwortlichkeit allein schon beweist die Veränderungs¬
fähigkeit der natürlichen Anlagen. Ein jeder spielt sein eignes Instrument;
dieses Instrument wird ihm von der Natur geliefert. Es kommt nun darauf
an. daß er auf diesem Instrument spielen lernt. Deswegen gibt es auch nur
da. wo alle Spieler gut geübt haben, eine reine Sinfonie, und da. wo es
nicht der Fall ist. Disharmonie. Also: „Sei, was du bist" bedeutet so viel
als: Bilde deine dir von der Natur verliehenen Kräfte so gut aus, wie es
geht; spiele aber uur auf deinem Instrument; tu. was du tun mußt, aber tue
es so gut, wie du kannst, tue es so. daß dir dem eignes Gewissen keine Vor¬
würfe macht; denn das Gewissen ist der unerbittliche Rächer für die Sünde
gegen dein eignes Wesen. Damit ist aber nicht gesagt, daß sich ein Charakter
darin zeigt, daß er für andre Individualitäten kein Verständnis hat und
seine nur für die richtige hält. Im Gegenteil, eine derartige Unduldsamkeit
ist nicht nur ein Zeichen von mangelhafter Bildung - das ist ste unter allen
Umständen -. sondern auch oft ein Zeichen schwächlicher, neidischer, boshafter
Gesinnung, die die laute Stimme des eignen Gewissens trotzig und brutal zu
vergewaltigen sucht. Nur arger Unverstand oder böswillige Absicht kann in
einer solchen Karikatur des Egoismus den Charakter erkennen. Wer sich mit
sich selbst ernst und wahrhaftig beschäftigt, der findet bei sich selbst so viele
Mängel, daß er, wenn er nicht unehrlich sem will, auch bei andern milde
urteilen wird. Gerade je klarer und kräftiger die eigne Individualität ausge¬
bildet ist. um so mehr muß das Individuum die Berechtigung andrer Indi¬
vidualitäten anerkennen; er muß wenigstens versuchen, sie zu verstehn. Ver¬
steh» ist nicht Billiger — das beste Verständnis und die schärfste Mißbilligung
vertragen sich sehr' gut miteinander -, Verstehen ist auch nicht Verzeihen,
wie Madame Stael will; aber freilich der Weg zur Verzeihung. Gerade die
Rücksicht auf uns selbst, die Wucht unsrer eignen Persönlichkeit muß und wird
uns bewahren, gegen den, der anders ist als wir selbst, in kindischem Trotz
oder böswilliger Feindseligkeit anzurennen. Und das ist der Ernst des Lebens,
die Arbeit an uns selbst; ja sie ist die Voraussetzung und Grundlage für alle
andern Arbeiten und Leistungen. Und hier ist es, wo sich Schule und Familie
die Hand reichen müssen, um das Werk der Vorbereitung für diesen schweren
Kampf zustande zu bringen. Eltern und Lehrer können nur die Unterweisung
in der Waffenführung geben, den Zögling immer und immer wieder darauf


Grenzboten II 1808 ^
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[0181] Politik in der Schule fortzubilden — hin und her schwanken. Es sind die eigentlich schwachen Charaktere. Da haben Sie recht, und das sind auch für die Erziehung die schwierigsten. „Sei, was du bist", das ist das oberste Gebot der individualistischen Ethik. So gewiß es ist, daß jeder natürliche Anlagen mit auf die Welt bringt, und das Temperament angeboren ist, ein bestimmtes Quantum von Willenskraft jedem zugemessen ist. ebenso gewiß ist es auch, daß Verhältnisse und Erziehung einen außerordentlichen Einfluß auf die Charakterbildung gewinnen können; und das Bewußtsein der Verantwortlichkeit allein schon beweist die Veränderungs¬ fähigkeit der natürlichen Anlagen. Ein jeder spielt sein eignes Instrument; dieses Instrument wird ihm von der Natur geliefert. Es kommt nun darauf an. daß er auf diesem Instrument spielen lernt. Deswegen gibt es auch nur da. wo alle Spieler gut geübt haben, eine reine Sinfonie, und da. wo es nicht der Fall ist. Disharmonie. Also: „Sei, was du bist" bedeutet so viel als: Bilde deine dir von der Natur verliehenen Kräfte so gut aus, wie es geht; spiele aber uur auf deinem Instrument; tu. was du tun mußt, aber tue es so gut, wie du kannst, tue es so. daß dir dem eignes Gewissen keine Vor¬ würfe macht; denn das Gewissen ist der unerbittliche Rächer für die Sünde gegen dein eignes Wesen. Damit ist aber nicht gesagt, daß sich ein Charakter darin zeigt, daß er für andre Individualitäten kein Verständnis hat und seine nur für die richtige hält. Im Gegenteil, eine derartige Unduldsamkeit ist nicht nur ein Zeichen von mangelhafter Bildung - das ist ste unter allen Umständen -. sondern auch oft ein Zeichen schwächlicher, neidischer, boshafter Gesinnung, die die laute Stimme des eignen Gewissens trotzig und brutal zu vergewaltigen sucht. Nur arger Unverstand oder böswillige Absicht kann in einer solchen Karikatur des Egoismus den Charakter erkennen. Wer sich mit sich selbst ernst und wahrhaftig beschäftigt, der findet bei sich selbst so viele Mängel, daß er, wenn er nicht unehrlich sem will, auch bei andern milde urteilen wird. Gerade je klarer und kräftiger die eigne Individualität ausge¬ bildet ist. um so mehr muß das Individuum die Berechtigung andrer Indi¬ vidualitäten anerkennen; er muß wenigstens versuchen, sie zu verstehn. Ver¬ steh» ist nicht Billiger — das beste Verständnis und die schärfste Mißbilligung vertragen sich sehr' gut miteinander -, Verstehen ist auch nicht Verzeihen, wie Madame Stael will; aber freilich der Weg zur Verzeihung. Gerade die Rücksicht auf uns selbst, die Wucht unsrer eignen Persönlichkeit muß und wird uns bewahren, gegen den, der anders ist als wir selbst, in kindischem Trotz oder böswilliger Feindseligkeit anzurennen. Und das ist der Ernst des Lebens, die Arbeit an uns selbst; ja sie ist die Voraussetzung und Grundlage für alle andern Arbeiten und Leistungen. Und hier ist es, wo sich Schule und Familie die Hand reichen müssen, um das Werk der Vorbereitung für diesen schweren Kampf zustande zu bringen. Eltern und Lehrer können nur die Unterweisung in der Waffenführung geben, den Zögling immer und immer wieder darauf Grenzboten II 1808 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/181>, abgerufen am 01.11.2024.