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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Politik in der Schule

Bilder in der Welt, und in diesem Sinne ist jeder Mensch ein Künstler, kann
jeder Mensch das Leben künstlerisch betrachten. Eine solche künstlerische Be¬
trachtung der Welt ist abgelöst von jeder schmerzlichen Beziehung, sie ist heiter
und macht heiter, und insofern ist die Heiterkeit der Kunst dem Ernst des
Lebens entgegengesetzt. Die künstlerische Betrachtung erkennt in dem grobsinn-
lichen Einzelfall eine allgemeine Idee, sie sieht die Dinge, wie ein alter
scholastischer Ausdruck sagt, suo sxeois astervitatis, d. h. als etwas Ewiges,
dauernd Wesenhaftes im Gegensatz zu der physischen Vergänglichkeit des
einzelnen sinnlichen Gegenstandes. Gewiß ist die Gabe der künstlerischen Be¬
trachtung bei den verschiednen Menschen in unendlich verschiednen Graden vor¬
handen; aber da ist sie bei jedem; und diese Gabe auszubilden gehört nicht
weniger zur Betätigung der eignen Persönlichkeit, zur Ausgestaltung des
Charakters als das unausgesetzte Wirken einer lebendigen Moral. Beides also,
der moralische Ernst und die künstlerische Heiterkeit, gehören zur Bildung eines
Charakters, zur Gründung einer Individualität, die den Menschen erst zum
Menschen macht: sie vermitteln die Erziehung.

Aber der Staat besteht aus vielen Persönlich ketten, die alle gleiche An¬
sprüche machen. Wie soll man die befriedigen? ^

Daraus ergibt sich die zweite Forderung: die Abbildung des richtigen
Verhältnisses der Menschen untereinander, sodaß sie Bürger werden können.
Als sich die ersten Menschen zusammenladen, mußten sie alsbald finden, daß
ein Zusammenleben nicht möglich war ohne eine gegenseitige Rücksichtnahme
der einzelnen Personen; es mußten gewisse Rechte anerkannt, gewisse Pflichten
verlangt werden. Und je mehr sich die erste Gesellschaft vergrößerte, um so
nötiger war es daß diese Rechte und Pflichten scharf abgegrenzt wurden. Die
ursprüngliche patriarchalische Autorität genügte nicht mehr, als sich die Gesell¬
schaft immer mehr ausdehnte, als sich Stämme. Geschlechter und Völker lostrennten
und ihre eignen Wege gingen oder auch miteinander in Kampf gerieten. Da mußten
an Stelle der ursprünglichen, einfachen Satzungen, die sich ganz von selbst heraus¬
gebildet hatten und ungeschrieben zu Recht bestanden, genauere, bestimmtere, den
jeweiligen Verhältnissen angepaßte Gesetze aufgestellt werden, bis denn im Laufe
der Jahrtausende allmählich das weitverzweigte Gebilde von Vorschriften der Ge¬
setze und Sitten entstanden ist. wie wir es heutzutage bei den Kulturvölkern finden.
Durch diese Vorschriften wird ein friedliches Nebeneinander- und Zusammen-
bestehn vieler Persönlichkeiten gewährleistet, ja überhaupt erst möglich gemacht.
Denn wie es für jeden einzelnen die höchste Aufgabe sein muß. mit sich selbst
in Frieden zu leben, d.h. ein Charakter zu sein, so muß es für die Mitglieder
einer Staatsgemeins'abäst das höchste Bestreben sein, untereinander in Frieden
zu leben, d. h. gute Bürger zu sein; und wie der einzelne für ein Vergehen an
sich selbst von seinem eignen Gewissen verfolgt wird, so werden die Bürger
durch Gesetz und Sitte in Schranken gehalten oder bestraft. Unendlich viel¬
gestaltig ist die menschliche Gesellschaft geworden, und je nach der geographischen


Politik in der Schule

Bilder in der Welt, und in diesem Sinne ist jeder Mensch ein Künstler, kann
jeder Mensch das Leben künstlerisch betrachten. Eine solche künstlerische Be¬
trachtung der Welt ist abgelöst von jeder schmerzlichen Beziehung, sie ist heiter
und macht heiter, und insofern ist die Heiterkeit der Kunst dem Ernst des
Lebens entgegengesetzt. Die künstlerische Betrachtung erkennt in dem grobsinn-
lichen Einzelfall eine allgemeine Idee, sie sieht die Dinge, wie ein alter
scholastischer Ausdruck sagt, suo sxeois astervitatis, d. h. als etwas Ewiges,
dauernd Wesenhaftes im Gegensatz zu der physischen Vergänglichkeit des
einzelnen sinnlichen Gegenstandes. Gewiß ist die Gabe der künstlerischen Be¬
trachtung bei den verschiednen Menschen in unendlich verschiednen Graden vor¬
handen; aber da ist sie bei jedem; und diese Gabe auszubilden gehört nicht
weniger zur Betätigung der eignen Persönlichkeit, zur Ausgestaltung des
Charakters als das unausgesetzte Wirken einer lebendigen Moral. Beides also,
der moralische Ernst und die künstlerische Heiterkeit, gehören zur Bildung eines
Charakters, zur Gründung einer Individualität, die den Menschen erst zum
Menschen macht: sie vermitteln die Erziehung.

Aber der Staat besteht aus vielen Persönlich ketten, die alle gleiche An¬
sprüche machen. Wie soll man die befriedigen? ^

Daraus ergibt sich die zweite Forderung: die Abbildung des richtigen
Verhältnisses der Menschen untereinander, sodaß sie Bürger werden können.
Als sich die ersten Menschen zusammenladen, mußten sie alsbald finden, daß
ein Zusammenleben nicht möglich war ohne eine gegenseitige Rücksichtnahme
der einzelnen Personen; es mußten gewisse Rechte anerkannt, gewisse Pflichten
verlangt werden. Und je mehr sich die erste Gesellschaft vergrößerte, um so
nötiger war es daß diese Rechte und Pflichten scharf abgegrenzt wurden. Die
ursprüngliche patriarchalische Autorität genügte nicht mehr, als sich die Gesell¬
schaft immer mehr ausdehnte, als sich Stämme. Geschlechter und Völker lostrennten
und ihre eignen Wege gingen oder auch miteinander in Kampf gerieten. Da mußten
an Stelle der ursprünglichen, einfachen Satzungen, die sich ganz von selbst heraus¬
gebildet hatten und ungeschrieben zu Recht bestanden, genauere, bestimmtere, den
jeweiligen Verhältnissen angepaßte Gesetze aufgestellt werden, bis denn im Laufe
der Jahrtausende allmählich das weitverzweigte Gebilde von Vorschriften der Ge¬
setze und Sitten entstanden ist. wie wir es heutzutage bei den Kulturvölkern finden.
Durch diese Vorschriften wird ein friedliches Nebeneinander- und Zusammen-
bestehn vieler Persönlichkeiten gewährleistet, ja überhaupt erst möglich gemacht.
Denn wie es für jeden einzelnen die höchste Aufgabe sein muß. mit sich selbst
in Frieden zu leben, d.h. ein Charakter zu sein, so muß es für die Mitglieder
einer Staatsgemeins'abäst das höchste Bestreben sein, untereinander in Frieden
zu leben, d. h. gute Bürger zu sein; und wie der einzelne für ein Vergehen an
sich selbst von seinem eignen Gewissen verfolgt wird, so werden die Bürger
durch Gesetz und Sitte in Schranken gehalten oder bestraft. Unendlich viel¬
gestaltig ist die menschliche Gesellschaft geworden, und je nach der geographischen


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[0183] Politik in der Schule Bilder in der Welt, und in diesem Sinne ist jeder Mensch ein Künstler, kann jeder Mensch das Leben künstlerisch betrachten. Eine solche künstlerische Be¬ trachtung der Welt ist abgelöst von jeder schmerzlichen Beziehung, sie ist heiter und macht heiter, und insofern ist die Heiterkeit der Kunst dem Ernst des Lebens entgegengesetzt. Die künstlerische Betrachtung erkennt in dem grobsinn- lichen Einzelfall eine allgemeine Idee, sie sieht die Dinge, wie ein alter scholastischer Ausdruck sagt, suo sxeois astervitatis, d. h. als etwas Ewiges, dauernd Wesenhaftes im Gegensatz zu der physischen Vergänglichkeit des einzelnen sinnlichen Gegenstandes. Gewiß ist die Gabe der künstlerischen Be¬ trachtung bei den verschiednen Menschen in unendlich verschiednen Graden vor¬ handen; aber da ist sie bei jedem; und diese Gabe auszubilden gehört nicht weniger zur Betätigung der eignen Persönlichkeit, zur Ausgestaltung des Charakters als das unausgesetzte Wirken einer lebendigen Moral. Beides also, der moralische Ernst und die künstlerische Heiterkeit, gehören zur Bildung eines Charakters, zur Gründung einer Individualität, die den Menschen erst zum Menschen macht: sie vermitteln die Erziehung. Aber der Staat besteht aus vielen Persönlich ketten, die alle gleiche An¬ sprüche machen. Wie soll man die befriedigen? ^ Daraus ergibt sich die zweite Forderung: die Abbildung des richtigen Verhältnisses der Menschen untereinander, sodaß sie Bürger werden können. Als sich die ersten Menschen zusammenladen, mußten sie alsbald finden, daß ein Zusammenleben nicht möglich war ohne eine gegenseitige Rücksichtnahme der einzelnen Personen; es mußten gewisse Rechte anerkannt, gewisse Pflichten verlangt werden. Und je mehr sich die erste Gesellschaft vergrößerte, um so nötiger war es daß diese Rechte und Pflichten scharf abgegrenzt wurden. Die ursprüngliche patriarchalische Autorität genügte nicht mehr, als sich die Gesell¬ schaft immer mehr ausdehnte, als sich Stämme. Geschlechter und Völker lostrennten und ihre eignen Wege gingen oder auch miteinander in Kampf gerieten. Da mußten an Stelle der ursprünglichen, einfachen Satzungen, die sich ganz von selbst heraus¬ gebildet hatten und ungeschrieben zu Recht bestanden, genauere, bestimmtere, den jeweiligen Verhältnissen angepaßte Gesetze aufgestellt werden, bis denn im Laufe der Jahrtausende allmählich das weitverzweigte Gebilde von Vorschriften der Ge¬ setze und Sitten entstanden ist. wie wir es heutzutage bei den Kulturvölkern finden. Durch diese Vorschriften wird ein friedliches Nebeneinander- und Zusammen- bestehn vieler Persönlichkeiten gewährleistet, ja überhaupt erst möglich gemacht. Denn wie es für jeden einzelnen die höchste Aufgabe sein muß. mit sich selbst in Frieden zu leben, d.h. ein Charakter zu sein, so muß es für die Mitglieder einer Staatsgemeins'abäst das höchste Bestreben sein, untereinander in Frieden zu leben, d. h. gute Bürger zu sein; und wie der einzelne für ein Vergehen an sich selbst von seinem eignen Gewissen verfolgt wird, so werden die Bürger durch Gesetz und Sitte in Schranken gehalten oder bestraft. Unendlich viel¬ gestaltig ist die menschliche Gesellschaft geworden, und je nach der geographischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/183>, abgerufen am 01.11.2024.