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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Astatische Probleme

korrigiert, daß sie den feindlichen Heerführer mit Gold bestachen. So erkaufte
Peter der Große, auf den Rat seiner aus der Hefe des Volkes von ihm er¬
wählten Gemahlin Katharina, von den Türken, die sein Heer eingeschlossen
hatten, den Frieden vom Pruth.

Das Hauptverdienst der Russen ist ihre kaninchenartige Fruchtbarkeit:
uumoro xolleut. Wirth führt den überzeugenden Nachweis, daß die Menge
der Russen meist zu gering bewertet wird. Die Bevölkerung des ganzen Reiches
wird immer nach dem Zensus von 1897 angegeben, obwohl dieser längst über¬
holt ist; die Anzahl der Russen wird selbst in einheimischen Veröffentlichungen
nur auf 65, in deutschen auf 70 bis 80 Millionen Seelen geschätzt. Ungeheuer
war die Vermehrung im neunzehnten Jahrhundert. Die gesamte Bevölkerung
des russischen Reiches, zu deren Vermehrung allerdings auch das wachsende
Areal beitrug, belief sich auf:

1724 .....14 Millionen
17K3.....19
1782 . .... 28
1796.....36
I8l2 ..... 41
183S.....60
18S8...... ?4
1897 ..... 129 " (nach Kowalski)
1905 . , . etwa 143
1908 ... " 148

Die Russen im ganzen Reich, Kleinrussen eingerechnet, schätzt Wirth auf
94 Millionen. Es stehn:

94 Millionen Russen gegen 49 Millionen Nichtrussen
102 " Slawen " 41 " Nichtslawen
109 " Arier " 34 " Nichwrier

Die Polen und andern Slawen in Nußland werden auf etwa 8 Millionen
geschätzt.

Die Menge der Russen hat sie nicht vor Niederlagen geschützt. Mit
feinem politischem Verständnis weist aber Wirth darauf hin, daß man die un¬
geheure passive Widerstandskraft immer in Rechnung stellen muß. Bei Zorn¬
dorf und bei Borodino konnten die größten Feldherren Europas den Russen
keine vernichtende Niederlage beibringen. Ähnlich war es bei Liaoyang. Der
Anfang russischer Schwäche in der Weltpolitik liegt nach Dr. Wirths Ansicht,
die sicher viel für sich hat, in der beginnenden Emanzipation im Innern.
Zur Selbstverwaltung sei das Zarenreich, sei das russische Volk seiner An¬
lage, seiner gesellschaftlichen Schichtung, seiner Bildung nach unreif. Die
gegenwärtigen Unruhen könnten also höchstens zu einer Verschärfung der
Militärdespotie führen. Was aber dem Reiche den Hals brechen würde, das


Grenzboten II 1908 3
Astatische Probleme

korrigiert, daß sie den feindlichen Heerführer mit Gold bestachen. So erkaufte
Peter der Große, auf den Rat seiner aus der Hefe des Volkes von ihm er¬
wählten Gemahlin Katharina, von den Türken, die sein Heer eingeschlossen
hatten, den Frieden vom Pruth.

Das Hauptverdienst der Russen ist ihre kaninchenartige Fruchtbarkeit:
uumoro xolleut. Wirth führt den überzeugenden Nachweis, daß die Menge
der Russen meist zu gering bewertet wird. Die Bevölkerung des ganzen Reiches
wird immer nach dem Zensus von 1897 angegeben, obwohl dieser längst über¬
holt ist; die Anzahl der Russen wird selbst in einheimischen Veröffentlichungen
nur auf 65, in deutschen auf 70 bis 80 Millionen Seelen geschätzt. Ungeheuer
war die Vermehrung im neunzehnten Jahrhundert. Die gesamte Bevölkerung
des russischen Reiches, zu deren Vermehrung allerdings auch das wachsende
Areal beitrug, belief sich auf:

1724 .....14 Millionen
17K3.....19
1782 . .... 28
1796.....36
I8l2 ..... 41
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1897 ..... 129 „ (nach Kowalski)
1905 . , . etwa 143
1908 ... „ 148

Die Russen im ganzen Reich, Kleinrussen eingerechnet, schätzt Wirth auf
94 Millionen. Es stehn:

94 Millionen Russen gegen 49 Millionen Nichtrussen
102 „ Slawen „ 41 „ Nichtslawen
109 „ Arier „ 34 „ Nichwrier

Die Polen und andern Slawen in Nußland werden auf etwa 8 Millionen
geschätzt.

Die Menge der Russen hat sie nicht vor Niederlagen geschützt. Mit
feinem politischem Verständnis weist aber Wirth darauf hin, daß man die un¬
geheure passive Widerstandskraft immer in Rechnung stellen muß. Bei Zorn¬
dorf und bei Borodino konnten die größten Feldherren Europas den Russen
keine vernichtende Niederlage beibringen. Ähnlich war es bei Liaoyang. Der
Anfang russischer Schwäche in der Weltpolitik liegt nach Dr. Wirths Ansicht,
die sicher viel für sich hat, in der beginnenden Emanzipation im Innern.
Zur Selbstverwaltung sei das Zarenreich, sei das russische Volk seiner An¬
lage, seiner gesellschaftlichen Schichtung, seiner Bildung nach unreif. Die
gegenwärtigen Unruhen könnten also höchstens zu einer Verschärfung der
Militärdespotie führen. Was aber dem Reiche den Hals brechen würde, das


Grenzboten II 1908 3
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[0025] Astatische Probleme korrigiert, daß sie den feindlichen Heerführer mit Gold bestachen. So erkaufte Peter der Große, auf den Rat seiner aus der Hefe des Volkes von ihm er¬ wählten Gemahlin Katharina, von den Türken, die sein Heer eingeschlossen hatten, den Frieden vom Pruth. Das Hauptverdienst der Russen ist ihre kaninchenartige Fruchtbarkeit: uumoro xolleut. Wirth führt den überzeugenden Nachweis, daß die Menge der Russen meist zu gering bewertet wird. Die Bevölkerung des ganzen Reiches wird immer nach dem Zensus von 1897 angegeben, obwohl dieser längst über¬ holt ist; die Anzahl der Russen wird selbst in einheimischen Veröffentlichungen nur auf 65, in deutschen auf 70 bis 80 Millionen Seelen geschätzt. Ungeheuer war die Vermehrung im neunzehnten Jahrhundert. Die gesamte Bevölkerung des russischen Reiches, zu deren Vermehrung allerdings auch das wachsende Areal beitrug, belief sich auf: 1724 .....14 Millionen 17K3.....19 1782 . .... 28 1796.....36 I8l2 ..... 41 183S.....60 18S8...... ?4 1897 ..... 129 „ (nach Kowalski) 1905 . , . etwa 143 1908 ... „ 148 Die Russen im ganzen Reich, Kleinrussen eingerechnet, schätzt Wirth auf 94 Millionen. Es stehn: 94 Millionen Russen gegen 49 Millionen Nichtrussen 102 „ Slawen „ 41 „ Nichtslawen 109 „ Arier „ 34 „ Nichwrier Die Polen und andern Slawen in Nußland werden auf etwa 8 Millionen geschätzt. Die Menge der Russen hat sie nicht vor Niederlagen geschützt. Mit feinem politischem Verständnis weist aber Wirth darauf hin, daß man die un¬ geheure passive Widerstandskraft immer in Rechnung stellen muß. Bei Zorn¬ dorf und bei Borodino konnten die größten Feldherren Europas den Russen keine vernichtende Niederlage beibringen. Ähnlich war es bei Liaoyang. Der Anfang russischer Schwäche in der Weltpolitik liegt nach Dr. Wirths Ansicht, die sicher viel für sich hat, in der beginnenden Emanzipation im Innern. Zur Selbstverwaltung sei das Zarenreich, sei das russische Volk seiner An¬ lage, seiner gesellschaftlichen Schichtung, seiner Bildung nach unreif. Die gegenwärtigen Unruhen könnten also höchstens zu einer Verschärfung der Militärdespotie führen. Was aber dem Reiche den Hals brechen würde, das Grenzboten II 1908 3

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/25>, abgerufen am 15.05.2024.