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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Fürsorgeerziehung

Wird er nicht unter allen Umstünden eine Pflichtverletzung darin finden dürfen,
wenn ein vermögender Vater dem Sohne die Mittel zum Hochschulstudium
versagt, denn es ist möglich, daß der Vater die Anlagen und Aussichten des
Sohnes richtiger beurteilt als dieser selbst. Und es bedeutet nicht immer eine
Überschreitung der Grenzen der väterlichen Gewalt, wenn bei der Wahl der
Religion ein Druck ausgeübt wird. Das Gesetz, das dem Vierzehnjährigen die
Wahl der Konfession freistellt, meint nur die Wahl zwischen der katholischen
und der evangelischen Kirche. Heute gibt es aber auch Buddhisten, Theosophen,
allerhand abenteuerliche Sekten und die Heilsarmee. Vom Beitritt zu einer
solchen Gemeinschaft auch den schon erwachsnen Sohn zurückzuhalten, wird
jedem gewissenhaften und verständigen Vater als Pflicht erscheinen. (Kürzlich
erzählte man uns von einem jungen Manne, der als Theosoph ein Heiliger
nach indischem Muster werden will, und der seine Eltern unglücklich macht,
weil er bei keinem Beruf aushält; wahrscheinlich ist seine religiöse "Erleuchtung"
nur Vorwand der Faulheit.)

Bessere Hilfe als die verpflichteten Organe leistet dem Vormundschaftsrichter
bei seinem "Kampfe" (dessen Darstellung den Hauptteil des Buches ausmacht)
die freie Liebestätigkeit der Erziehungsvereine. Der Verfasser erklärt solche für
dringend notwendig, und zwar interkonfessionelle. "Gute Erziehungs- und
Fürsorgevereine ohne konfessionelle oder politische Nebenabsichten müssen nach
einem einheitlichen Plane das ganze Land mit einem Netz ihrer Orgamsatronen
überziehn." Hohes Lob wird dem Erziehuugsbeirat für schulentlassene Waisen
in Berlin gespendet, der jährlich nicht unter 1220 Waisen unterbringe und bei
der Berufswahl die körperliche Tüchtigkeit durch die Vereinsärzte (es werden
ihrer 130 beschäftigt) untersuchen lasse. Das Kammergericht hat die Benutzung
des Vereinsmaterials als Grundlage einer Entscheidung über Zwangserziehung
abgelehnt; uur die Aussagen von amtlichen Personen und Behörden kämen in
Betracht. 'Der Verfasser bedauert diese Ablehnung. Der Vormundschaftsrichter
müsse möglichst das Zusammenwirken aller Verpflichteten und aller freiwillig
Tätigen organisieren, möchten diese nun Vereine sein oder einzelne starke Per¬
sönlichkeiten, "deren Namen schon an sich ein Programm bedeute". Eine Auskunft
von einer solchen Persönlichkeit oder vom Berliner Erziehungsbeirat sei doch
sicherlich zuverlässiger als die von manchen amtlichen Personen, zum Beispiel
von einem ländlichen Polizeidiener. Einzelne Landgerichte bereiten, als Vor¬
mundschaftsgerichte zweiter Instanz, wie der Verfasser klagt, dem Vormund¬
schaftsrichter sogar noch größere Hindernisse als das Kammergericht mit seinen
einschränkenden Interpretationen. Als zweite Instanz über Angelegenheiten der
vorbeugenden Erziehung, meint er, "sollten überhaupt nur gewesene Vormund¬
schaftsrichter urteilen. Diese vermeiden es aber, soweit sie den direkten Verkehr
mit dem Volke lieben, sich aus der Selbständigkeit in den Zwang eines Kollegiums
zu begeben, wo sie mit verzweifelter Dialektik um Dinge kämpfen müssen, die
ihnen Herzenssache, manchem andern aber nur "Fälle" sind."


Fürsorgeerziehung

Wird er nicht unter allen Umstünden eine Pflichtverletzung darin finden dürfen,
wenn ein vermögender Vater dem Sohne die Mittel zum Hochschulstudium
versagt, denn es ist möglich, daß der Vater die Anlagen und Aussichten des
Sohnes richtiger beurteilt als dieser selbst. Und es bedeutet nicht immer eine
Überschreitung der Grenzen der väterlichen Gewalt, wenn bei der Wahl der
Religion ein Druck ausgeübt wird. Das Gesetz, das dem Vierzehnjährigen die
Wahl der Konfession freistellt, meint nur die Wahl zwischen der katholischen
und der evangelischen Kirche. Heute gibt es aber auch Buddhisten, Theosophen,
allerhand abenteuerliche Sekten und die Heilsarmee. Vom Beitritt zu einer
solchen Gemeinschaft auch den schon erwachsnen Sohn zurückzuhalten, wird
jedem gewissenhaften und verständigen Vater als Pflicht erscheinen. (Kürzlich
erzählte man uns von einem jungen Manne, der als Theosoph ein Heiliger
nach indischem Muster werden will, und der seine Eltern unglücklich macht,
weil er bei keinem Beruf aushält; wahrscheinlich ist seine religiöse „Erleuchtung"
nur Vorwand der Faulheit.)

Bessere Hilfe als die verpflichteten Organe leistet dem Vormundschaftsrichter
bei seinem „Kampfe" (dessen Darstellung den Hauptteil des Buches ausmacht)
die freie Liebestätigkeit der Erziehungsvereine. Der Verfasser erklärt solche für
dringend notwendig, und zwar interkonfessionelle. „Gute Erziehungs- und
Fürsorgevereine ohne konfessionelle oder politische Nebenabsichten müssen nach
einem einheitlichen Plane das ganze Land mit einem Netz ihrer Orgamsatronen
überziehn." Hohes Lob wird dem Erziehuugsbeirat für schulentlassene Waisen
in Berlin gespendet, der jährlich nicht unter 1220 Waisen unterbringe und bei
der Berufswahl die körperliche Tüchtigkeit durch die Vereinsärzte (es werden
ihrer 130 beschäftigt) untersuchen lasse. Das Kammergericht hat die Benutzung
des Vereinsmaterials als Grundlage einer Entscheidung über Zwangserziehung
abgelehnt; uur die Aussagen von amtlichen Personen und Behörden kämen in
Betracht. 'Der Verfasser bedauert diese Ablehnung. Der Vormundschaftsrichter
müsse möglichst das Zusammenwirken aller Verpflichteten und aller freiwillig
Tätigen organisieren, möchten diese nun Vereine sein oder einzelne starke Per¬
sönlichkeiten, „deren Namen schon an sich ein Programm bedeute". Eine Auskunft
von einer solchen Persönlichkeit oder vom Berliner Erziehungsbeirat sei doch
sicherlich zuverlässiger als die von manchen amtlichen Personen, zum Beispiel
von einem ländlichen Polizeidiener. Einzelne Landgerichte bereiten, als Vor¬
mundschaftsgerichte zweiter Instanz, wie der Verfasser klagt, dem Vormund¬
schaftsrichter sogar noch größere Hindernisse als das Kammergericht mit seinen
einschränkenden Interpretationen. Als zweite Instanz über Angelegenheiten der
vorbeugenden Erziehung, meint er, „sollten überhaupt nur gewesene Vormund¬
schaftsrichter urteilen. Diese vermeiden es aber, soweit sie den direkten Verkehr
mit dem Volke lieben, sich aus der Selbständigkeit in den Zwang eines Kollegiums
zu begeben, wo sie mit verzweifelter Dialektik um Dinge kämpfen müssen, die
ihnen Herzenssache, manchem andern aber nur »Fälle« sind."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/283>, abgerufen am 22.05.2024.