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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Kaiser Karls Geisel

"Und bei mir frierst du?" fragt er nachdenklich. Die Leibwachen können
draußen bleiben. Die Kleine kann ruhig entfliehen, um ihre allumfassende Liebe
weiterzuüben.

So ist sie eine Zeit lang aus des Kaisers Augen, aber nicht aus seinem Sinn.
Seine Narretei blüht unheilbar weiter, wie er später erzählt. Er hat erkannt,
daß Gersuind eine Mission erfülle. Sie ist eine Gesandte des Schicksals. "Auf
uns liegt noch der sonderbare Fluch Gottes, der Eva wegen, unsrer Ahnfrau,
die immer noch zuweilen uns besucht, damit die Pein nicht sterbe unsers
Daseins, mit frischen Äpfeln und mit neuer Schuld", erklärt er der Oberin.
Er gesteht ihr, daß er sich in bittrer Reue verzehre, Gersuind verstoßen zu
haben. "Ihre Sucht, ihr wilder Trieb war mehr als einer Dirne Fürwitz,
war Zwang eines Dämons, war ein finstrer Dienst." Die Oberin soll die
Glorie der Unschuld, mit der Gersuind ihn narre, zerstören, sonst mache er
diese zum Gott des Frankenreichs. An der Leiche bricht er zusammen wie ein
im Erdbeben vibrierender Turm und hält dann dem gefallenen Engel, der mit
trotzigen Mienen, Gott gewissermaßen wegen seines Geschicks anklagend, vor
ihm liegt, eine übrigens' recht dunkle Leichenrede, in der er offenbart, was er
bisher verschwiegen hat, nämlich daß er Gersuind geliebt habe.

Es ist bekanntlich fast unmöglich, den Theatererfolg vorauszusehen. In
diesem Falle aber konnte kaum ein Zweifel bestehn. daß der größte Teil der
Zuschauer die Entrüstung Pipins teilen werde, die dieser dem Kanzler brieflich
darüber ausdrückt, daß eine stinkende Dirne den altersschwachen Kaiser am
Nasenring führe. Wie so viele Dramen Hauptmanns zeichnet auch dieses eine
pathologische Entartung. Gersuind ist eine hysterische Erotomanin, in der, wie
immer bei diesen Personen, die moralischen Gefühle gänzlich verkümmert sind.
Eine solche Figur findet vielleicht im Leben Mitleid und Nachsicht, niemals
auf der Bühne. Das Publikum besteht nicht aus Psychiatern und Ärzten, die
alles verzeihen, weil sie alles verstehn. Es stellt sich, und mit Recht, auf den
moralischen und soziologischen Standpunkt und empfindet nicht bloß derartige
Figuren als gefährlich und verabscheuungswürdig, sondern es hegt ähnliche
Gefühle auch für den, der solche Wesen, wie Karl es tut, mit einem Glorien¬
schein umgibt. Nur wenige werden sich in die Seele dieses Greises hineinver¬
setzen, dem ein Johannistrieb den Intellekt so umnebelt hat, daß er da fast
eine Heilige sieht, wo sich sogar Jünglinge wie Rorico mit Widerwillen und
Entsetzen abwenden. Unter der Jungfrau der Erzählung des Sebastians Erizzo
kann man sich eine liebwerte Jungfrau vorstellen, die des Ringes unter ihrer
Zunge gar nicht bedurft Hütte, um den Kaiser zu bezaubern. Das durch und
durch perverse, lüsterne, lauernde und verlogne Geschöpf, das Hauptmann ge¬
zeichnet hat, setzt jeden, der sich in sie verliebt, unter das Sympathie- ja unter
das Achtungsniveau hinab, dessen dramatische Hauptfiguren unbedingt bedürfen.
Es ist das erstemal, daß Hauptmann in diesen Fehler verfallen ist. Hätte er
es noch bei einigen Liebschaften mit Hofleuten gelassen, so wäre schon dies


Kaiser Karls Geisel

„Und bei mir frierst du?" fragt er nachdenklich. Die Leibwachen können
draußen bleiben. Die Kleine kann ruhig entfliehen, um ihre allumfassende Liebe
weiterzuüben.

So ist sie eine Zeit lang aus des Kaisers Augen, aber nicht aus seinem Sinn.
Seine Narretei blüht unheilbar weiter, wie er später erzählt. Er hat erkannt,
daß Gersuind eine Mission erfülle. Sie ist eine Gesandte des Schicksals. „Auf
uns liegt noch der sonderbare Fluch Gottes, der Eva wegen, unsrer Ahnfrau,
die immer noch zuweilen uns besucht, damit die Pein nicht sterbe unsers
Daseins, mit frischen Äpfeln und mit neuer Schuld", erklärt er der Oberin.
Er gesteht ihr, daß er sich in bittrer Reue verzehre, Gersuind verstoßen zu
haben. „Ihre Sucht, ihr wilder Trieb war mehr als einer Dirne Fürwitz,
war Zwang eines Dämons, war ein finstrer Dienst." Die Oberin soll die
Glorie der Unschuld, mit der Gersuind ihn narre, zerstören, sonst mache er
diese zum Gott des Frankenreichs. An der Leiche bricht er zusammen wie ein
im Erdbeben vibrierender Turm und hält dann dem gefallenen Engel, der mit
trotzigen Mienen, Gott gewissermaßen wegen seines Geschicks anklagend, vor
ihm liegt, eine übrigens' recht dunkle Leichenrede, in der er offenbart, was er
bisher verschwiegen hat, nämlich daß er Gersuind geliebt habe.

Es ist bekanntlich fast unmöglich, den Theatererfolg vorauszusehen. In
diesem Falle aber konnte kaum ein Zweifel bestehn. daß der größte Teil der
Zuschauer die Entrüstung Pipins teilen werde, die dieser dem Kanzler brieflich
darüber ausdrückt, daß eine stinkende Dirne den altersschwachen Kaiser am
Nasenring führe. Wie so viele Dramen Hauptmanns zeichnet auch dieses eine
pathologische Entartung. Gersuind ist eine hysterische Erotomanin, in der, wie
immer bei diesen Personen, die moralischen Gefühle gänzlich verkümmert sind.
Eine solche Figur findet vielleicht im Leben Mitleid und Nachsicht, niemals
auf der Bühne. Das Publikum besteht nicht aus Psychiatern und Ärzten, die
alles verzeihen, weil sie alles verstehn. Es stellt sich, und mit Recht, auf den
moralischen und soziologischen Standpunkt und empfindet nicht bloß derartige
Figuren als gefährlich und verabscheuungswürdig, sondern es hegt ähnliche
Gefühle auch für den, der solche Wesen, wie Karl es tut, mit einem Glorien¬
schein umgibt. Nur wenige werden sich in die Seele dieses Greises hineinver¬
setzen, dem ein Johannistrieb den Intellekt so umnebelt hat, daß er da fast
eine Heilige sieht, wo sich sogar Jünglinge wie Rorico mit Widerwillen und
Entsetzen abwenden. Unter der Jungfrau der Erzählung des Sebastians Erizzo
kann man sich eine liebwerte Jungfrau vorstellen, die des Ringes unter ihrer
Zunge gar nicht bedurft Hütte, um den Kaiser zu bezaubern. Das durch und
durch perverse, lüsterne, lauernde und verlogne Geschöpf, das Hauptmann ge¬
zeichnet hat, setzt jeden, der sich in sie verliebt, unter das Sympathie- ja unter
das Achtungsniveau hinab, dessen dramatische Hauptfiguren unbedingt bedürfen.
Es ist das erstemal, daß Hauptmann in diesen Fehler verfallen ist. Hätte er
es noch bei einigen Liebschaften mit Hofleuten gelassen, so wäre schon dies


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[0287] Kaiser Karls Geisel „Und bei mir frierst du?" fragt er nachdenklich. Die Leibwachen können draußen bleiben. Die Kleine kann ruhig entfliehen, um ihre allumfassende Liebe weiterzuüben. So ist sie eine Zeit lang aus des Kaisers Augen, aber nicht aus seinem Sinn. Seine Narretei blüht unheilbar weiter, wie er später erzählt. Er hat erkannt, daß Gersuind eine Mission erfülle. Sie ist eine Gesandte des Schicksals. „Auf uns liegt noch der sonderbare Fluch Gottes, der Eva wegen, unsrer Ahnfrau, die immer noch zuweilen uns besucht, damit die Pein nicht sterbe unsers Daseins, mit frischen Äpfeln und mit neuer Schuld", erklärt er der Oberin. Er gesteht ihr, daß er sich in bittrer Reue verzehre, Gersuind verstoßen zu haben. „Ihre Sucht, ihr wilder Trieb war mehr als einer Dirne Fürwitz, war Zwang eines Dämons, war ein finstrer Dienst." Die Oberin soll die Glorie der Unschuld, mit der Gersuind ihn narre, zerstören, sonst mache er diese zum Gott des Frankenreichs. An der Leiche bricht er zusammen wie ein im Erdbeben vibrierender Turm und hält dann dem gefallenen Engel, der mit trotzigen Mienen, Gott gewissermaßen wegen seines Geschicks anklagend, vor ihm liegt, eine übrigens' recht dunkle Leichenrede, in der er offenbart, was er bisher verschwiegen hat, nämlich daß er Gersuind geliebt habe. Es ist bekanntlich fast unmöglich, den Theatererfolg vorauszusehen. In diesem Falle aber konnte kaum ein Zweifel bestehn. daß der größte Teil der Zuschauer die Entrüstung Pipins teilen werde, die dieser dem Kanzler brieflich darüber ausdrückt, daß eine stinkende Dirne den altersschwachen Kaiser am Nasenring führe. Wie so viele Dramen Hauptmanns zeichnet auch dieses eine pathologische Entartung. Gersuind ist eine hysterische Erotomanin, in der, wie immer bei diesen Personen, die moralischen Gefühle gänzlich verkümmert sind. Eine solche Figur findet vielleicht im Leben Mitleid und Nachsicht, niemals auf der Bühne. Das Publikum besteht nicht aus Psychiatern und Ärzten, die alles verzeihen, weil sie alles verstehn. Es stellt sich, und mit Recht, auf den moralischen und soziologischen Standpunkt und empfindet nicht bloß derartige Figuren als gefährlich und verabscheuungswürdig, sondern es hegt ähnliche Gefühle auch für den, der solche Wesen, wie Karl es tut, mit einem Glorien¬ schein umgibt. Nur wenige werden sich in die Seele dieses Greises hineinver¬ setzen, dem ein Johannistrieb den Intellekt so umnebelt hat, daß er da fast eine Heilige sieht, wo sich sogar Jünglinge wie Rorico mit Widerwillen und Entsetzen abwenden. Unter der Jungfrau der Erzählung des Sebastians Erizzo kann man sich eine liebwerte Jungfrau vorstellen, die des Ringes unter ihrer Zunge gar nicht bedurft Hütte, um den Kaiser zu bezaubern. Das durch und durch perverse, lüsterne, lauernde und verlogne Geschöpf, das Hauptmann ge¬ zeichnet hat, setzt jeden, der sich in sie verliebt, unter das Sympathie- ja unter das Achtungsniveau hinab, dessen dramatische Hauptfiguren unbedingt bedürfen. Es ist das erstemal, daß Hauptmann in diesen Fehler verfallen ist. Hätte er es noch bei einigen Liebschaften mit Hofleuten gelassen, so wäre schon dies

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/287>, abgerufen am 22.05.2024.