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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Russische Briefe

Haltungen begegnete, mußte zu dem Glauben kommen, daß die polnische
Sache in Rußland vollständig unterlegen sei, usw. Der Leser findet Einzel¬
heiten über die Russifizierung im ersten Bande meines soeben im Verlage von
Fr. Wilh. Grunow erschienenen Buches "Die Zukunft Polens". Ich brauche
darum die Ausführungen Dmowskis nicht zu wiederholen, sondern darf nur
seine zutreffende Auffassung hervorheben, daß die Ergebnisse der Russe -
fizierungspolitik gleich Null geblieben sind, wenn auch die amtlichen Angaben
von jährlich wachsenden Erfolgen sprechen.

"In Preußen, so meint Dmowski, wurde das System einer planmäßigen
Germanisierung der polnischen Lande fast vom ersten Tage der Teilung
Polens an mit nur kurzen Abweichungen durchgeführt." Wie bekannt, ist
diese Angabe falsch. Denn Preußen hat bis zum Jahre 1886 gesäumt, ehe
es zu einer aggressiven Polenpolitik überging.

In Deutschland stand zwar der Negierung ein mächtiges Werkzeug zur
Verfügung, dessen sich die Nüssen niemals bedienen konnten, die Kolonisation
der polnischen Lande, die im Laufe von mehreren Jahrhunderten langsam
durchgeführt werden konnte. Die an Preußen gelangten polnischen Lande
hatten darum schon zur Zeit der Teilung Polens eine bedeutende Zahl deutscher
Bewohner, Posen gegen 20 Prozent, das sogenannte "Königliche Preußen"
ungefähr 50 Prozent. Die Kolonisation nahm ihren Fortgang, und bis zu
den 1870 er Jahren gab es im Großherzogtum Posen schon gegen 45 Prozent
Deutsche. Diese Zahl, meint Dmowski, sei zu hoch gegriffen. Damals sei
das polnische Selbstbewußtsein noch nicht genügend entwickelt gewesen, und
"ein Teil der Polen habe sich selbst für Deutsche gehalten". Angesichts der
allgemeinen Lage wagte die öffentliche Meinung der Polen nicht an der Tat¬
sache zu zweifeln, daß die völlige Germanisierung von Preußisch-Polen nur
eine Frage der Zeit sei.

"Späterhin trat in der durch das gleiche Übergewicht des Deutschtums
bedingten natürlichen Zunahme der Germanisation ein Stillstand und dann
ein Rückgang ein. Das geschah, als Bismarck zur Kräftigung des deutschen
Übergewichts den Kulturkampf in den Vordergrund rückte, und als späterhin
eine Reihe von Maßregeln ergriffen wurde, die nach Dmowskis Meinung die
Polen zu einer niedern Kategorie von Bürgern machen sollte. Das hob
und schürfte das nationale Selbstbewußtsein sowie die nationale Energie und
gab der polnischen Kultur ein moralisches und rechtliches Übergewicht über die
deutsche Kultur (!). Die polnische Kultur begann die deutsche unaufhörlich
zu besiegen. Im gegenwärtigen Augenblick ist das natürliche Übergewicht der
deutschen Kultur unwiderruflich verloren gegangen (!).

Österreich betrat einen andern Weg, als es Galizien der Verwaltung der
Polen überließ. Dadurch büßte die polnische Frage innerhalb dieses Reichs
den staatsfeindlichen Charakter ein, den sie in den andern Staaten angenommen
hat. Die Polen, die in Österreich-Ungarn leitende Posten einnahmen, waren
vor allem österreichische Staatsmänner. Ihre Politik diente immer der Groß-


Russische Briefe

Haltungen begegnete, mußte zu dem Glauben kommen, daß die polnische
Sache in Rußland vollständig unterlegen sei, usw. Der Leser findet Einzel¬
heiten über die Russifizierung im ersten Bande meines soeben im Verlage von
Fr. Wilh. Grunow erschienenen Buches „Die Zukunft Polens". Ich brauche
darum die Ausführungen Dmowskis nicht zu wiederholen, sondern darf nur
seine zutreffende Auffassung hervorheben, daß die Ergebnisse der Russe -
fizierungspolitik gleich Null geblieben sind, wenn auch die amtlichen Angaben
von jährlich wachsenden Erfolgen sprechen.

„In Preußen, so meint Dmowski, wurde das System einer planmäßigen
Germanisierung der polnischen Lande fast vom ersten Tage der Teilung
Polens an mit nur kurzen Abweichungen durchgeführt." Wie bekannt, ist
diese Angabe falsch. Denn Preußen hat bis zum Jahre 1886 gesäumt, ehe
es zu einer aggressiven Polenpolitik überging.

In Deutschland stand zwar der Negierung ein mächtiges Werkzeug zur
Verfügung, dessen sich die Nüssen niemals bedienen konnten, die Kolonisation
der polnischen Lande, die im Laufe von mehreren Jahrhunderten langsam
durchgeführt werden konnte. Die an Preußen gelangten polnischen Lande
hatten darum schon zur Zeit der Teilung Polens eine bedeutende Zahl deutscher
Bewohner, Posen gegen 20 Prozent, das sogenannte „Königliche Preußen"
ungefähr 50 Prozent. Die Kolonisation nahm ihren Fortgang, und bis zu
den 1870 er Jahren gab es im Großherzogtum Posen schon gegen 45 Prozent
Deutsche. Diese Zahl, meint Dmowski, sei zu hoch gegriffen. Damals sei
das polnische Selbstbewußtsein noch nicht genügend entwickelt gewesen, und
„ein Teil der Polen habe sich selbst für Deutsche gehalten". Angesichts der
allgemeinen Lage wagte die öffentliche Meinung der Polen nicht an der Tat¬
sache zu zweifeln, daß die völlige Germanisierung von Preußisch-Polen nur
eine Frage der Zeit sei.

„Späterhin trat in der durch das gleiche Übergewicht des Deutschtums
bedingten natürlichen Zunahme der Germanisation ein Stillstand und dann
ein Rückgang ein. Das geschah, als Bismarck zur Kräftigung des deutschen
Übergewichts den Kulturkampf in den Vordergrund rückte, und als späterhin
eine Reihe von Maßregeln ergriffen wurde, die nach Dmowskis Meinung die
Polen zu einer niedern Kategorie von Bürgern machen sollte. Das hob
und schürfte das nationale Selbstbewußtsein sowie die nationale Energie und
gab der polnischen Kultur ein moralisches und rechtliches Übergewicht über die
deutsche Kultur (!). Die polnische Kultur begann die deutsche unaufhörlich
zu besiegen. Im gegenwärtigen Augenblick ist das natürliche Übergewicht der
deutschen Kultur unwiderruflich verloren gegangen (!).

Österreich betrat einen andern Weg, als es Galizien der Verwaltung der
Polen überließ. Dadurch büßte die polnische Frage innerhalb dieses Reichs
den staatsfeindlichen Charakter ein, den sie in den andern Staaten angenommen
hat. Die Polen, die in Österreich-Ungarn leitende Posten einnahmen, waren
vor allem österreichische Staatsmänner. Ihre Politik diente immer der Groß-


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[0458] Russische Briefe Haltungen begegnete, mußte zu dem Glauben kommen, daß die polnische Sache in Rußland vollständig unterlegen sei, usw. Der Leser findet Einzel¬ heiten über die Russifizierung im ersten Bande meines soeben im Verlage von Fr. Wilh. Grunow erschienenen Buches „Die Zukunft Polens". Ich brauche darum die Ausführungen Dmowskis nicht zu wiederholen, sondern darf nur seine zutreffende Auffassung hervorheben, daß die Ergebnisse der Russe - fizierungspolitik gleich Null geblieben sind, wenn auch die amtlichen Angaben von jährlich wachsenden Erfolgen sprechen. „In Preußen, so meint Dmowski, wurde das System einer planmäßigen Germanisierung der polnischen Lande fast vom ersten Tage der Teilung Polens an mit nur kurzen Abweichungen durchgeführt." Wie bekannt, ist diese Angabe falsch. Denn Preußen hat bis zum Jahre 1886 gesäumt, ehe es zu einer aggressiven Polenpolitik überging. In Deutschland stand zwar der Negierung ein mächtiges Werkzeug zur Verfügung, dessen sich die Nüssen niemals bedienen konnten, die Kolonisation der polnischen Lande, die im Laufe von mehreren Jahrhunderten langsam durchgeführt werden konnte. Die an Preußen gelangten polnischen Lande hatten darum schon zur Zeit der Teilung Polens eine bedeutende Zahl deutscher Bewohner, Posen gegen 20 Prozent, das sogenannte „Königliche Preußen" ungefähr 50 Prozent. Die Kolonisation nahm ihren Fortgang, und bis zu den 1870 er Jahren gab es im Großherzogtum Posen schon gegen 45 Prozent Deutsche. Diese Zahl, meint Dmowski, sei zu hoch gegriffen. Damals sei das polnische Selbstbewußtsein noch nicht genügend entwickelt gewesen, und „ein Teil der Polen habe sich selbst für Deutsche gehalten". Angesichts der allgemeinen Lage wagte die öffentliche Meinung der Polen nicht an der Tat¬ sache zu zweifeln, daß die völlige Germanisierung von Preußisch-Polen nur eine Frage der Zeit sei. „Späterhin trat in der durch das gleiche Übergewicht des Deutschtums bedingten natürlichen Zunahme der Germanisation ein Stillstand und dann ein Rückgang ein. Das geschah, als Bismarck zur Kräftigung des deutschen Übergewichts den Kulturkampf in den Vordergrund rückte, und als späterhin eine Reihe von Maßregeln ergriffen wurde, die nach Dmowskis Meinung die Polen zu einer niedern Kategorie von Bürgern machen sollte. Das hob und schürfte das nationale Selbstbewußtsein sowie die nationale Energie und gab der polnischen Kultur ein moralisches und rechtliches Übergewicht über die deutsche Kultur (!). Die polnische Kultur begann die deutsche unaufhörlich zu besiegen. Im gegenwärtigen Augenblick ist das natürliche Übergewicht der deutschen Kultur unwiderruflich verloren gegangen (!). Österreich betrat einen andern Weg, als es Galizien der Verwaltung der Polen überließ. Dadurch büßte die polnische Frage innerhalb dieses Reichs den staatsfeindlichen Charakter ein, den sie in den andern Staaten angenommen hat. Die Polen, die in Österreich-Ungarn leitende Posten einnahmen, waren vor allem österreichische Staatsmänner. Ihre Politik diente immer der Groß-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/458>, abgerufen am 22.05.2024.