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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Russische Briefe

mit polnischen Bauern zu tun. Den Grundstock der Bevölkerung bilden dort
die Weiß- und Kleinrussen. Unter solchen Bedingungen war die Aufgabe
der Entnationalisierung viel leichter. Die russische Politik hat die Kulturent¬
wicklung des Gebiets fast um ein halbes Jahrhundert aufgehalten. Wie früher
liegt aber das Kulturübergewicht auch jetzt noch auf der Seite der Besiegten.*)
Die Polen haben aufgehört, sich als die Herren des Gebiets und das Gebiet
selbst als ein polnisches zu bezeichnen. Wenigstens, so sei Dmowski hinzu¬
gefügt, in der Öffentlichkeit. Daraus darf jedoch nicht gefolgert werden, daß
das russische Leben und die russische Arbeit irgend etwas Positives geschaffen
oder den Eckstein für neue Grundlagen gelegt hätte. Nach wie vor hat das
Gebiet den Charakter eines eroberten und zu einem großen Teile desorgani¬
sierten Landes. Somit ist das Problem der Ausrottung des Polentums in
Preußisch-Polen, in Litauen und in Westrußland noch ungelöst geblieben." Der
einzige Ausweg aus der gegenwärtigen Lage sei folgender: die Russen und
Deutschen müßten sich mit dem Vorhandensein der polnischen Kultur in den
genannten Gebieten abfinden und sich bemühen, sie mit der staatlichen Or-
ganisation in Einklang zu bringen durch Befriedigung ihrer Bedürfnisse und
gesetzlichen Bestrebungen.

Jawohl, Herr Dmowski, der "gesetzlichen", genau so, wie es der preußische
Staat getan hat, bis die Polen ihn zwangen, zu erkennen, daß neben den
gesetzlichen auch ungesetzliche, nämlich staatsfeindliche Ziele vorhanden sind.
Was nun die Lösung des zweiten Problems anlangt, so meint Herr Dmowski,
weder sei Galizien Österreich noch Polen Nußland unumgänglich notwendig.
Der von Österreich erwählte Weg habe zur Folge gehabt, daß Österreich
während der ganzen Zeit seit 1863 nicht nur keinerlei Unannehmlichkeiten in
der Polenfrage gehabt habe, sondern daß die polnischen Politiker stets eine aus¬
gleichende Rolle gespielt hätten. Die Verwaltungsform Rußlands in Polen
könne als militärische Okkupation gekennzeichnet werden. Deshalb stelle sich
dieser Teil der Polenfrage als eine offne Frage dar. Der Staat, der im
Besitz des Zartums Polen ist, wisse nicht, was er mit ihm anfangen soll:
einerseits habe er keine Möglichkeit, es in ein russisches Gebiet zu verwandeln,
und andrerseits wolle er nicht zulassen, daß es ein polnisches Land bleibe.

Bedeutungsvoll seien die Beziehungen Deutschlands zum Zartum Polen.
Für Preußen habe es keinen Wert, die Zahl seiner Polen zu vermehren, so¬
lange die Germanisierung von Preußisch-Polen nicht klappt. Sobald sie
aber ihrem Abschluß nahe käme, würde vor Deutschland die Frage
einer neuen Teilung Polens erstes". Bis dahin sei Preußen sehr
interessiert daran, daß das polnische Leben im Zartum Polen keine schnellen
Kulturfortschritte macht und dadurch seine Kraft mehrt. . .

Schließlich behauptet Dmowski: "Darum hat Preußen, obwohl es von
allen Teilungsmächten den kleinsten Teil der frühern "Rzecz pospolita"



") Vgl. meine Angaben im ersten Bande der "Zukunft Polens".
Russische Briefe

mit polnischen Bauern zu tun. Den Grundstock der Bevölkerung bilden dort
die Weiß- und Kleinrussen. Unter solchen Bedingungen war die Aufgabe
der Entnationalisierung viel leichter. Die russische Politik hat die Kulturent¬
wicklung des Gebiets fast um ein halbes Jahrhundert aufgehalten. Wie früher
liegt aber das Kulturübergewicht auch jetzt noch auf der Seite der Besiegten.*)
Die Polen haben aufgehört, sich als die Herren des Gebiets und das Gebiet
selbst als ein polnisches zu bezeichnen. Wenigstens, so sei Dmowski hinzu¬
gefügt, in der Öffentlichkeit. Daraus darf jedoch nicht gefolgert werden, daß
das russische Leben und die russische Arbeit irgend etwas Positives geschaffen
oder den Eckstein für neue Grundlagen gelegt hätte. Nach wie vor hat das
Gebiet den Charakter eines eroberten und zu einem großen Teile desorgani¬
sierten Landes. Somit ist das Problem der Ausrottung des Polentums in
Preußisch-Polen, in Litauen und in Westrußland noch ungelöst geblieben." Der
einzige Ausweg aus der gegenwärtigen Lage sei folgender: die Russen und
Deutschen müßten sich mit dem Vorhandensein der polnischen Kultur in den
genannten Gebieten abfinden und sich bemühen, sie mit der staatlichen Or-
ganisation in Einklang zu bringen durch Befriedigung ihrer Bedürfnisse und
gesetzlichen Bestrebungen.

Jawohl, Herr Dmowski, der „gesetzlichen", genau so, wie es der preußische
Staat getan hat, bis die Polen ihn zwangen, zu erkennen, daß neben den
gesetzlichen auch ungesetzliche, nämlich staatsfeindliche Ziele vorhanden sind.
Was nun die Lösung des zweiten Problems anlangt, so meint Herr Dmowski,
weder sei Galizien Österreich noch Polen Nußland unumgänglich notwendig.
Der von Österreich erwählte Weg habe zur Folge gehabt, daß Österreich
während der ganzen Zeit seit 1863 nicht nur keinerlei Unannehmlichkeiten in
der Polenfrage gehabt habe, sondern daß die polnischen Politiker stets eine aus¬
gleichende Rolle gespielt hätten. Die Verwaltungsform Rußlands in Polen
könne als militärische Okkupation gekennzeichnet werden. Deshalb stelle sich
dieser Teil der Polenfrage als eine offne Frage dar. Der Staat, der im
Besitz des Zartums Polen ist, wisse nicht, was er mit ihm anfangen soll:
einerseits habe er keine Möglichkeit, es in ein russisches Gebiet zu verwandeln,
und andrerseits wolle er nicht zulassen, daß es ein polnisches Land bleibe.

Bedeutungsvoll seien die Beziehungen Deutschlands zum Zartum Polen.
Für Preußen habe es keinen Wert, die Zahl seiner Polen zu vermehren, so¬
lange die Germanisierung von Preußisch-Polen nicht klappt. Sobald sie
aber ihrem Abschluß nahe käme, würde vor Deutschland die Frage
einer neuen Teilung Polens erstes«. Bis dahin sei Preußen sehr
interessiert daran, daß das polnische Leben im Zartum Polen keine schnellen
Kulturfortschritte macht und dadurch seine Kraft mehrt. . .

Schließlich behauptet Dmowski: „Darum hat Preußen, obwohl es von
allen Teilungsmächten den kleinsten Teil der frühern »Rzecz pospolita«



") Vgl. meine Angaben im ersten Bande der „Zukunft Polens".
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[0463] Russische Briefe mit polnischen Bauern zu tun. Den Grundstock der Bevölkerung bilden dort die Weiß- und Kleinrussen. Unter solchen Bedingungen war die Aufgabe der Entnationalisierung viel leichter. Die russische Politik hat die Kulturent¬ wicklung des Gebiets fast um ein halbes Jahrhundert aufgehalten. Wie früher liegt aber das Kulturübergewicht auch jetzt noch auf der Seite der Besiegten.*) Die Polen haben aufgehört, sich als die Herren des Gebiets und das Gebiet selbst als ein polnisches zu bezeichnen. Wenigstens, so sei Dmowski hinzu¬ gefügt, in der Öffentlichkeit. Daraus darf jedoch nicht gefolgert werden, daß das russische Leben und die russische Arbeit irgend etwas Positives geschaffen oder den Eckstein für neue Grundlagen gelegt hätte. Nach wie vor hat das Gebiet den Charakter eines eroberten und zu einem großen Teile desorgani¬ sierten Landes. Somit ist das Problem der Ausrottung des Polentums in Preußisch-Polen, in Litauen und in Westrußland noch ungelöst geblieben." Der einzige Ausweg aus der gegenwärtigen Lage sei folgender: die Russen und Deutschen müßten sich mit dem Vorhandensein der polnischen Kultur in den genannten Gebieten abfinden und sich bemühen, sie mit der staatlichen Or- ganisation in Einklang zu bringen durch Befriedigung ihrer Bedürfnisse und gesetzlichen Bestrebungen. Jawohl, Herr Dmowski, der „gesetzlichen", genau so, wie es der preußische Staat getan hat, bis die Polen ihn zwangen, zu erkennen, daß neben den gesetzlichen auch ungesetzliche, nämlich staatsfeindliche Ziele vorhanden sind. Was nun die Lösung des zweiten Problems anlangt, so meint Herr Dmowski, weder sei Galizien Österreich noch Polen Nußland unumgänglich notwendig. Der von Österreich erwählte Weg habe zur Folge gehabt, daß Österreich während der ganzen Zeit seit 1863 nicht nur keinerlei Unannehmlichkeiten in der Polenfrage gehabt habe, sondern daß die polnischen Politiker stets eine aus¬ gleichende Rolle gespielt hätten. Die Verwaltungsform Rußlands in Polen könne als militärische Okkupation gekennzeichnet werden. Deshalb stelle sich dieser Teil der Polenfrage als eine offne Frage dar. Der Staat, der im Besitz des Zartums Polen ist, wisse nicht, was er mit ihm anfangen soll: einerseits habe er keine Möglichkeit, es in ein russisches Gebiet zu verwandeln, und andrerseits wolle er nicht zulassen, daß es ein polnisches Land bleibe. Bedeutungsvoll seien die Beziehungen Deutschlands zum Zartum Polen. Für Preußen habe es keinen Wert, die Zahl seiner Polen zu vermehren, so¬ lange die Germanisierung von Preußisch-Polen nicht klappt. Sobald sie aber ihrem Abschluß nahe käme, würde vor Deutschland die Frage einer neuen Teilung Polens erstes«. Bis dahin sei Preußen sehr interessiert daran, daß das polnische Leben im Zartum Polen keine schnellen Kulturfortschritte macht und dadurch seine Kraft mehrt. . . Schließlich behauptet Dmowski: „Darum hat Preußen, obwohl es von allen Teilungsmächten den kleinsten Teil der frühern »Rzecz pospolita« ") Vgl. meine Angaben im ersten Bande der „Zukunft Polens".

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/463>, abgerufen am 22.05.2024.