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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Die sozialdemokratische Bewegung i" England

dem festen Entschluß, dem Umsichgreifen der sozialistischen Irrlehren energisch
entgegenzuwirken. Sie sammelten ein Freikorps jugendlicher schlagfertiger
Redner und schickten diese in die Klubs und zu den Volksversammlungen auf
der Straße. Beide Parteien werden einer Gesetzesvorlage zustimmen, die
Alterspensionen gewährt, den kleinbäuerlichen Grundbesitz noch weiter ver¬
mehrt, den Ackerbau fördert, die Säuberung und die Verbesserung der Arbeiter¬
quartiere bezweckt, gegen die Hungerlöhne einschreitet, Schutzmaßregeln bei
gesundheitschüdlichen Betneben einführt und den höhern Schulunterricht für
Minderbemittelte erleichtert. Aber wenn auch ihr Marsch auf einen gemein¬
samen Feind gerichtet ist, ihre Taktik ist verschieden.

Die Liberalen möchten sich -- wie aus einer Rede Asquiths vom
20. Oktober hervorgeht -- gern den Anschein geben, als ob sie besonders von
der Berechtigung der sozialistischen Forderungen überzeugt wären; sie rühmen
es als ein gutes Zeichen der Zeit, daß "das soziale Gewissen erwacht sei".
Sie verkünden, das einzige Heil liege in der Befreiung des wirtschaftlichen
Lebens von allen lähmenden Eingriffen des Staates und der privilegierten
Gesellschaftsklassen, und sie allein hätten die Befähigung, dieses Prinzip zu
verwirklichen, da sie weder durch Sonderinteressen noch durch engherzigen
Kastengeist bestimmt würden. Sie schmeicheln der Arbeiterpartei, in der
Hoffung. sie auf ihre Seite herüberzuziehen, und wollen nicht merken, daß sie
allmählich zu deren Werkzeug werden.

Dem entgegen stellte Lord Milner auf einer Unionistenversammlung am
29. Oktober das Programm der Tones auf. Sie seien nicht nachsichtige,
sondern entschiedne Feinde der Sozialisten. Aber sie beanspruchten ebenfalls,
als Freunde einer gründlichen Sozialreform angesehen zu werden, die jedoch
nicht so leicht und ohne weiteres durchzuführen sei. Man habe vor allem die
Kosten zu bedenken und ferner, wer diese zu tragen habe. Belaste man mit
diesen die Reichen allein, so werde das zu allen Neuerungen und industriellen
Unternehmungen absolut notwendige Kapital aus dem Lande vertrieben werden.
Auf das ganze Volk müßten die vermehrten Staatslasten übertragen werden,
wie es sich bei einer demokratischen Verfassung, wie der englischen, gehört,
also auf möglichst viele Schultern, wodurch sie am wenigsten drückend würden,
und das geschähe am besten und sichersten durch eine Tarifreform, d. h. durch
Einführung des Schutzzolls, was außerdem den Vorteil habe, die einheimische
Fabriktätigkeit zu steigern, den Preis der Waren und dadurch den der Arbeit
zu erhöhen und jedenfalls die Arbeitslosigkeit zu vermindern. Schutzzoll ist
demnach das Endziel der Tones im Kampfe gegen die Sozialdemokratie,
während die Liberalen unter dem Banner des Freihandels zu Felde ziehen.

An die beiden großen Parteien reihen sich als Antisozialisten an: die
hauptsächlich für die Arbeiterinteressen populär tätige LonstitutionÄl Speakers
I^as'us, ferner die religiös gesinnte und verfassungs- und reichstreue ?nmros6
I^kAus und endlich die?res I-ichcmr ^ssovia-lion mit 680000 Arbeitern, die


Die sozialdemokratische Bewegung i» England

dem festen Entschluß, dem Umsichgreifen der sozialistischen Irrlehren energisch
entgegenzuwirken. Sie sammelten ein Freikorps jugendlicher schlagfertiger
Redner und schickten diese in die Klubs und zu den Volksversammlungen auf
der Straße. Beide Parteien werden einer Gesetzesvorlage zustimmen, die
Alterspensionen gewährt, den kleinbäuerlichen Grundbesitz noch weiter ver¬
mehrt, den Ackerbau fördert, die Säuberung und die Verbesserung der Arbeiter¬
quartiere bezweckt, gegen die Hungerlöhne einschreitet, Schutzmaßregeln bei
gesundheitschüdlichen Betneben einführt und den höhern Schulunterricht für
Minderbemittelte erleichtert. Aber wenn auch ihr Marsch auf einen gemein¬
samen Feind gerichtet ist, ihre Taktik ist verschieden.

Die Liberalen möchten sich — wie aus einer Rede Asquiths vom
20. Oktober hervorgeht — gern den Anschein geben, als ob sie besonders von
der Berechtigung der sozialistischen Forderungen überzeugt wären; sie rühmen
es als ein gutes Zeichen der Zeit, daß „das soziale Gewissen erwacht sei".
Sie verkünden, das einzige Heil liege in der Befreiung des wirtschaftlichen
Lebens von allen lähmenden Eingriffen des Staates und der privilegierten
Gesellschaftsklassen, und sie allein hätten die Befähigung, dieses Prinzip zu
verwirklichen, da sie weder durch Sonderinteressen noch durch engherzigen
Kastengeist bestimmt würden. Sie schmeicheln der Arbeiterpartei, in der
Hoffung. sie auf ihre Seite herüberzuziehen, und wollen nicht merken, daß sie
allmählich zu deren Werkzeug werden.

Dem entgegen stellte Lord Milner auf einer Unionistenversammlung am
29. Oktober das Programm der Tones auf. Sie seien nicht nachsichtige,
sondern entschiedne Feinde der Sozialisten. Aber sie beanspruchten ebenfalls,
als Freunde einer gründlichen Sozialreform angesehen zu werden, die jedoch
nicht so leicht und ohne weiteres durchzuführen sei. Man habe vor allem die
Kosten zu bedenken und ferner, wer diese zu tragen habe. Belaste man mit
diesen die Reichen allein, so werde das zu allen Neuerungen und industriellen
Unternehmungen absolut notwendige Kapital aus dem Lande vertrieben werden.
Auf das ganze Volk müßten die vermehrten Staatslasten übertragen werden,
wie es sich bei einer demokratischen Verfassung, wie der englischen, gehört,
also auf möglichst viele Schultern, wodurch sie am wenigsten drückend würden,
und das geschähe am besten und sichersten durch eine Tarifreform, d. h. durch
Einführung des Schutzzolls, was außerdem den Vorteil habe, die einheimische
Fabriktätigkeit zu steigern, den Preis der Waren und dadurch den der Arbeit
zu erhöhen und jedenfalls die Arbeitslosigkeit zu vermindern. Schutzzoll ist
demnach das Endziel der Tones im Kampfe gegen die Sozialdemokratie,
während die Liberalen unter dem Banner des Freihandels zu Felde ziehen.

An die beiden großen Parteien reihen sich als Antisozialisten an: die
hauptsächlich für die Arbeiterinteressen populär tätige LonstitutionÄl Speakers
I^as'us, ferner die religiös gesinnte und verfassungs- und reichstreue ?nmros6
I^kAus und endlich die?res I-ichcmr ^ssovia-lion mit 680000 Arbeitern, die


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[0559] Die sozialdemokratische Bewegung i» England dem festen Entschluß, dem Umsichgreifen der sozialistischen Irrlehren energisch entgegenzuwirken. Sie sammelten ein Freikorps jugendlicher schlagfertiger Redner und schickten diese in die Klubs und zu den Volksversammlungen auf der Straße. Beide Parteien werden einer Gesetzesvorlage zustimmen, die Alterspensionen gewährt, den kleinbäuerlichen Grundbesitz noch weiter ver¬ mehrt, den Ackerbau fördert, die Säuberung und die Verbesserung der Arbeiter¬ quartiere bezweckt, gegen die Hungerlöhne einschreitet, Schutzmaßregeln bei gesundheitschüdlichen Betneben einführt und den höhern Schulunterricht für Minderbemittelte erleichtert. Aber wenn auch ihr Marsch auf einen gemein¬ samen Feind gerichtet ist, ihre Taktik ist verschieden. Die Liberalen möchten sich — wie aus einer Rede Asquiths vom 20. Oktober hervorgeht — gern den Anschein geben, als ob sie besonders von der Berechtigung der sozialistischen Forderungen überzeugt wären; sie rühmen es als ein gutes Zeichen der Zeit, daß „das soziale Gewissen erwacht sei". Sie verkünden, das einzige Heil liege in der Befreiung des wirtschaftlichen Lebens von allen lähmenden Eingriffen des Staates und der privilegierten Gesellschaftsklassen, und sie allein hätten die Befähigung, dieses Prinzip zu verwirklichen, da sie weder durch Sonderinteressen noch durch engherzigen Kastengeist bestimmt würden. Sie schmeicheln der Arbeiterpartei, in der Hoffung. sie auf ihre Seite herüberzuziehen, und wollen nicht merken, daß sie allmählich zu deren Werkzeug werden. Dem entgegen stellte Lord Milner auf einer Unionistenversammlung am 29. Oktober das Programm der Tones auf. Sie seien nicht nachsichtige, sondern entschiedne Feinde der Sozialisten. Aber sie beanspruchten ebenfalls, als Freunde einer gründlichen Sozialreform angesehen zu werden, die jedoch nicht so leicht und ohne weiteres durchzuführen sei. Man habe vor allem die Kosten zu bedenken und ferner, wer diese zu tragen habe. Belaste man mit diesen die Reichen allein, so werde das zu allen Neuerungen und industriellen Unternehmungen absolut notwendige Kapital aus dem Lande vertrieben werden. Auf das ganze Volk müßten die vermehrten Staatslasten übertragen werden, wie es sich bei einer demokratischen Verfassung, wie der englischen, gehört, also auf möglichst viele Schultern, wodurch sie am wenigsten drückend würden, und das geschähe am besten und sichersten durch eine Tarifreform, d. h. durch Einführung des Schutzzolls, was außerdem den Vorteil habe, die einheimische Fabriktätigkeit zu steigern, den Preis der Waren und dadurch den der Arbeit zu erhöhen und jedenfalls die Arbeitslosigkeit zu vermindern. Schutzzoll ist demnach das Endziel der Tones im Kampfe gegen die Sozialdemokratie, während die Liberalen unter dem Banner des Freihandels zu Felde ziehen. An die beiden großen Parteien reihen sich als Antisozialisten an: die hauptsächlich für die Arbeiterinteressen populär tätige LonstitutionÄl Speakers I^as'us, ferner die religiös gesinnte und verfassungs- und reichstreue ?nmros6 I^kAus und endlich die?res I-ichcmr ^ssovia-lion mit 680000 Arbeitern, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/559>, abgerufen am 15.05.2024.