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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Der Roman Lothringens

Von Absatz 1 des Paragraphen 472 des Entwurfs möchte deshalb ausdrücklich
gesagt werden: "Als Krankenanstalten gelten auch die Irrenanstalten." Die
Wohltat des Paragraphen 472 soll solchen Verurteilten nicht zugute kommen,
die ihre Krankheit vorsätzlich herbeigeführt haben. Ebensowenig gebührt sie
aber Geistiggesundeu, die geistige oder andre Krankheit vortäuschen. Der
Nachsatz sollte deshalb lauten: es sei denn, daß der Verurteilte die Krankheit
vorsätzlich herbeigeführt oder vorgetäuscht hat.

Es kann in strittigen Fällen sehr wichtig sein, daß die Antworten auf
Fragen des Sachverständigen nicht nur dem Sinne, sondern dem Wortlaut
nach genau aufgezeichnet werden. So nur können Jdeenflucht, Verwirrtheit,
stereotype Wiederholungen, Vorbeireden, manierierte Zusätze, fehlerhafte Aus¬
sprache und dergleichen aktenkundig gemacht werden. Die Irrenärzte wünschen
deshalb in der Strafprozeßordnung eine Bestimmung, nach der auf Verlangen
des Sachverständigen Aussagen von Zeugen oder Angeschuldigten wörtlich
Protokolliert werden müssen, wenn sie für das Gutachten besonders wichtig
sind. Eine entsprechende Bestimmung könnte etwa an Paragraph 167 oder
168 des Entwurfs angefügt werdeu.

Das sind in Kürze die Wünsche der Irrenärzte zum Entwurf der Straf¬
prozeßordnung von 1908. Mögen die gesetzgebenden Körperschaften sie noch
in letzter Stunde wohlwollend in Erwägung ziehn!




Der Roman Lothringens

er Roman Elsaß-Lothringens ist noch nicht geschrieben und
wird auch erst geschrieben werden, wenn aus elsässischem oder
lothringischen Blute der Mann hervorgehen wird, der mit der
nötigen Fülle dichterischer Kraft politischen Blick, Sinn für das
geschichtlich Gewordne und Verständnis für die neuen Aufgaben
der Reichslande verbindet. Bisher waren es Deutsche oder Franzosen, die
Elsaß-Lothringens Geschicke poetisch verwerteten, und sie betrachteten das Vo-
gesenland mit deutschen oder französischen Augen, deutscheu oder französischen
Herzen. Wer wollte es leugnen, daß unsre Auffassungen von Rcissenverwcmdt-
!abäst und Kulturzusammengehörigkeit deu eingebornen Elsaß-Lothringern auch
heute noch ganz fremd sind? Die Franzosen machen sich aber ebenfalls ein
falsches Bild von der Gedankenwelt der Annektierten. Den Elsässern liegt die
romantische Empfindlichkeit, mit der man in Paris bei feierlichen Gelegen¬
heiten das Bild der Verlornen Brüder beschwört, ganz fern. Sie sind ein
realistischer Schlag, der sich von den Phrasen abwendet, denen doch keine Taten


Grenzboten I 1909 Kg
Der Roman Lothringens

Von Absatz 1 des Paragraphen 472 des Entwurfs möchte deshalb ausdrücklich
gesagt werden: „Als Krankenanstalten gelten auch die Irrenanstalten." Die
Wohltat des Paragraphen 472 soll solchen Verurteilten nicht zugute kommen,
die ihre Krankheit vorsätzlich herbeigeführt haben. Ebensowenig gebührt sie
aber Geistiggesundeu, die geistige oder andre Krankheit vortäuschen. Der
Nachsatz sollte deshalb lauten: es sei denn, daß der Verurteilte die Krankheit
vorsätzlich herbeigeführt oder vorgetäuscht hat.

Es kann in strittigen Fällen sehr wichtig sein, daß die Antworten auf
Fragen des Sachverständigen nicht nur dem Sinne, sondern dem Wortlaut
nach genau aufgezeichnet werden. So nur können Jdeenflucht, Verwirrtheit,
stereotype Wiederholungen, Vorbeireden, manierierte Zusätze, fehlerhafte Aus¬
sprache und dergleichen aktenkundig gemacht werden. Die Irrenärzte wünschen
deshalb in der Strafprozeßordnung eine Bestimmung, nach der auf Verlangen
des Sachverständigen Aussagen von Zeugen oder Angeschuldigten wörtlich
Protokolliert werden müssen, wenn sie für das Gutachten besonders wichtig
sind. Eine entsprechende Bestimmung könnte etwa an Paragraph 167 oder
168 des Entwurfs angefügt werdeu.

Das sind in Kürze die Wünsche der Irrenärzte zum Entwurf der Straf¬
prozeßordnung von 1908. Mögen die gesetzgebenden Körperschaften sie noch
in letzter Stunde wohlwollend in Erwägung ziehn!




Der Roman Lothringens

er Roman Elsaß-Lothringens ist noch nicht geschrieben und
wird auch erst geschrieben werden, wenn aus elsässischem oder
lothringischen Blute der Mann hervorgehen wird, der mit der
nötigen Fülle dichterischer Kraft politischen Blick, Sinn für das
geschichtlich Gewordne und Verständnis für die neuen Aufgaben
der Reichslande verbindet. Bisher waren es Deutsche oder Franzosen, die
Elsaß-Lothringens Geschicke poetisch verwerteten, und sie betrachteten das Vo-
gesenland mit deutschen oder französischen Augen, deutscheu oder französischen
Herzen. Wer wollte es leugnen, daß unsre Auffassungen von Rcissenverwcmdt-
!abäst und Kulturzusammengehörigkeit deu eingebornen Elsaß-Lothringern auch
heute noch ganz fremd sind? Die Franzosen machen sich aber ebenfalls ein
falsches Bild von der Gedankenwelt der Annektierten. Den Elsässern liegt die
romantische Empfindlichkeit, mit der man in Paris bei feierlichen Gelegen¬
heiten das Bild der Verlornen Brüder beschwört, ganz fern. Sie sind ein
realistischer Schlag, der sich von den Phrasen abwendet, denen doch keine Taten


Grenzboten I 1909 Kg
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[0505] Der Roman Lothringens Von Absatz 1 des Paragraphen 472 des Entwurfs möchte deshalb ausdrücklich gesagt werden: „Als Krankenanstalten gelten auch die Irrenanstalten." Die Wohltat des Paragraphen 472 soll solchen Verurteilten nicht zugute kommen, die ihre Krankheit vorsätzlich herbeigeführt haben. Ebensowenig gebührt sie aber Geistiggesundeu, die geistige oder andre Krankheit vortäuschen. Der Nachsatz sollte deshalb lauten: es sei denn, daß der Verurteilte die Krankheit vorsätzlich herbeigeführt oder vorgetäuscht hat. Es kann in strittigen Fällen sehr wichtig sein, daß die Antworten auf Fragen des Sachverständigen nicht nur dem Sinne, sondern dem Wortlaut nach genau aufgezeichnet werden. So nur können Jdeenflucht, Verwirrtheit, stereotype Wiederholungen, Vorbeireden, manierierte Zusätze, fehlerhafte Aus¬ sprache und dergleichen aktenkundig gemacht werden. Die Irrenärzte wünschen deshalb in der Strafprozeßordnung eine Bestimmung, nach der auf Verlangen des Sachverständigen Aussagen von Zeugen oder Angeschuldigten wörtlich Protokolliert werden müssen, wenn sie für das Gutachten besonders wichtig sind. Eine entsprechende Bestimmung könnte etwa an Paragraph 167 oder 168 des Entwurfs angefügt werdeu. Das sind in Kürze die Wünsche der Irrenärzte zum Entwurf der Straf¬ prozeßordnung von 1908. Mögen die gesetzgebenden Körperschaften sie noch in letzter Stunde wohlwollend in Erwägung ziehn! Der Roman Lothringens er Roman Elsaß-Lothringens ist noch nicht geschrieben und wird auch erst geschrieben werden, wenn aus elsässischem oder lothringischen Blute der Mann hervorgehen wird, der mit der nötigen Fülle dichterischer Kraft politischen Blick, Sinn für das geschichtlich Gewordne und Verständnis für die neuen Aufgaben der Reichslande verbindet. Bisher waren es Deutsche oder Franzosen, die Elsaß-Lothringens Geschicke poetisch verwerteten, und sie betrachteten das Vo- gesenland mit deutschen oder französischen Augen, deutscheu oder französischen Herzen. Wer wollte es leugnen, daß unsre Auffassungen von Rcissenverwcmdt- !abäst und Kulturzusammengehörigkeit deu eingebornen Elsaß-Lothringern auch heute noch ganz fremd sind? Die Franzosen machen sich aber ebenfalls ein falsches Bild von der Gedankenwelt der Annektierten. Den Elsässern liegt die romantische Empfindlichkeit, mit der man in Paris bei feierlichen Gelegen¬ heiten das Bild der Verlornen Brüder beschwört, ganz fern. Sie sind ein realistischer Schlag, der sich von den Phrasen abwendet, denen doch keine Taten Grenzboten I 1909 Kg

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/505>, abgerufen am 27.04.2024.