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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Die politische Tage

Politik freimütig anerkannt hat, zu einer Zeit, wo die parlamentarischen Ver¬
treter des Bürgertums, vor allen Dingen die Liberalen, den Idealismus hoch¬
hielten und die Vertretung materieller Interessen den einzelnen Korporationen
im Lande überließen. Diese Politik der Liberalen war falsch; darum haben
sie auch seit der Gründung des Reichs so an Bedeutung verloren und mußten
die Führung den konservativen Bündlern überlassen. Denn die Vorherrschaft
materieller Interessen wurde von ihnen noch übersehen oder bewußt abgeleugnet,
als sie in der Entwicklung der Industrie, des Außenhandels, der Kolonial¬
politik und der sozialen Fürsorge staatlich längst anerkannt war.

Freilich darf hierbei die Schuld der Liberalen nicht zu hoch bemessen
werden. Denn unsre politische Entwicklung und mit ihr der parteiisch organisierte
Liberalismus ist in politischer Beziehung der allgemeinen Landflucht und dem
"Zuge nach Westen" ebenso zum Opfer gefallen wie die Wirtschaft und die soziale
Gestaltung der Gesellschaft. Die Liberalen sind auf diese Weise ungewollt mehr
und mehr Vertreter städtischer Interessen geworden und werden seitens der
agrarischen Bündler als der Landwirtschaft feindlich verdächtigt. Natürlich mit
Unrecht, aber das spielt keine Rolle. Tatsache ist, daß sich die Liberalen mit der
steigenden Entwicklung unsers Handels und unsrer Industrie in steigendem Maße
der politischen Bearbeitung der städtischen Gewerbetreibenden und dem Kampf
gegen die Sozialdemokratie zugewandt haben, während sie die politische Be¬
arbeitung des platten Landes vernachlässigten. Damit haben sie einen festen
Boden verlassen und sich, wie die Wahlergebnisse lehren, höchst unsichere Bundes¬
genossen gewählt, die um so unsichrer sein mußten, da sie ohne Organisation
blieben. Von allen liberalen Parteien haben nur die Nationalliberalen den Ver¬
such gemacht, Einfluß auf dem platten Lande zu gewinnen. Doch sind sie damit
nicht glücklich gewesen. In kritischen Augenblicken versagten ihre agrarischen Partei¬
genossen. Aber auch ihr städtischer Rückhalt wurde schwächer und schwächer. Die
Kleingewerbetreibenden mußten entweder den Sozialdemokraten oder den Agrariern
folgen, weil sie vielfach von ihnen in Abhängigkeit leben. Die Privatangestellten
befinden sich im Stadium der Gärung, und es gibt viele tüchtige Männer
unter ihnen, die mangels einer entsprechenden Organisation des Bürgertums
aus Opposition gegen den bei uns entwickelten Kastengeist sozialdemokratische
Stimmzettel abgeben. Die besten Elemente des Bürgertums werden an¬
geekelt von dem Bonzentum, das sich gerade in den liberalen Parteien -- in
allen -- breit macht und die Entwicklung junger energischer Kräfte in dem Maße,
wie es bei den Konservativen und beim Zentrum möglich ist, nicht zuläßt.
Daneben wuchsen im Alltagsleben die Anforderungen an Geist und Energie
ständig, und ein Kaufmann, der seinen Platz behaupten will, findet kaum Zeit
und Kraft für ernste nebenamtliche Beschäftigung in der Politik. Der Kaufmann
und Industrielle, der den Tag über schwer geistig arbeitet, will sich des Abends
unterhalten. In den Tageszeitungen fesseln ihn die Marktberichte, im übrigen
verlangt er von seinem Blatt leichte Anregung. Unsre zu Wohlstand gelangten


Die politische Tage

Politik freimütig anerkannt hat, zu einer Zeit, wo die parlamentarischen Ver¬
treter des Bürgertums, vor allen Dingen die Liberalen, den Idealismus hoch¬
hielten und die Vertretung materieller Interessen den einzelnen Korporationen
im Lande überließen. Diese Politik der Liberalen war falsch; darum haben
sie auch seit der Gründung des Reichs so an Bedeutung verloren und mußten
die Führung den konservativen Bündlern überlassen. Denn die Vorherrschaft
materieller Interessen wurde von ihnen noch übersehen oder bewußt abgeleugnet,
als sie in der Entwicklung der Industrie, des Außenhandels, der Kolonial¬
politik und der sozialen Fürsorge staatlich längst anerkannt war.

Freilich darf hierbei die Schuld der Liberalen nicht zu hoch bemessen
werden. Denn unsre politische Entwicklung und mit ihr der parteiisch organisierte
Liberalismus ist in politischer Beziehung der allgemeinen Landflucht und dem
„Zuge nach Westen" ebenso zum Opfer gefallen wie die Wirtschaft und die soziale
Gestaltung der Gesellschaft. Die Liberalen sind auf diese Weise ungewollt mehr
und mehr Vertreter städtischer Interessen geworden und werden seitens der
agrarischen Bündler als der Landwirtschaft feindlich verdächtigt. Natürlich mit
Unrecht, aber das spielt keine Rolle. Tatsache ist, daß sich die Liberalen mit der
steigenden Entwicklung unsers Handels und unsrer Industrie in steigendem Maße
der politischen Bearbeitung der städtischen Gewerbetreibenden und dem Kampf
gegen die Sozialdemokratie zugewandt haben, während sie die politische Be¬
arbeitung des platten Landes vernachlässigten. Damit haben sie einen festen
Boden verlassen und sich, wie die Wahlergebnisse lehren, höchst unsichere Bundes¬
genossen gewählt, die um so unsichrer sein mußten, da sie ohne Organisation
blieben. Von allen liberalen Parteien haben nur die Nationalliberalen den Ver¬
such gemacht, Einfluß auf dem platten Lande zu gewinnen. Doch sind sie damit
nicht glücklich gewesen. In kritischen Augenblicken versagten ihre agrarischen Partei¬
genossen. Aber auch ihr städtischer Rückhalt wurde schwächer und schwächer. Die
Kleingewerbetreibenden mußten entweder den Sozialdemokraten oder den Agrariern
folgen, weil sie vielfach von ihnen in Abhängigkeit leben. Die Privatangestellten
befinden sich im Stadium der Gärung, und es gibt viele tüchtige Männer
unter ihnen, die mangels einer entsprechenden Organisation des Bürgertums
aus Opposition gegen den bei uns entwickelten Kastengeist sozialdemokratische
Stimmzettel abgeben. Die besten Elemente des Bürgertums werden an¬
geekelt von dem Bonzentum, das sich gerade in den liberalen Parteien — in
allen — breit macht und die Entwicklung junger energischer Kräfte in dem Maße,
wie es bei den Konservativen und beim Zentrum möglich ist, nicht zuläßt.
Daneben wuchsen im Alltagsleben die Anforderungen an Geist und Energie
ständig, und ein Kaufmann, der seinen Platz behaupten will, findet kaum Zeit
und Kraft für ernste nebenamtliche Beschäftigung in der Politik. Der Kaufmann
und Industrielle, der den Tag über schwer geistig arbeitet, will sich des Abends
unterhalten. In den Tageszeitungen fesseln ihn die Marktberichte, im übrigen
verlangt er von seinem Blatt leichte Anregung. Unsre zu Wohlstand gelangten


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[0011] Die politische Tage Politik freimütig anerkannt hat, zu einer Zeit, wo die parlamentarischen Ver¬ treter des Bürgertums, vor allen Dingen die Liberalen, den Idealismus hoch¬ hielten und die Vertretung materieller Interessen den einzelnen Korporationen im Lande überließen. Diese Politik der Liberalen war falsch; darum haben sie auch seit der Gründung des Reichs so an Bedeutung verloren und mußten die Führung den konservativen Bündlern überlassen. Denn die Vorherrschaft materieller Interessen wurde von ihnen noch übersehen oder bewußt abgeleugnet, als sie in der Entwicklung der Industrie, des Außenhandels, der Kolonial¬ politik und der sozialen Fürsorge staatlich längst anerkannt war. Freilich darf hierbei die Schuld der Liberalen nicht zu hoch bemessen werden. Denn unsre politische Entwicklung und mit ihr der parteiisch organisierte Liberalismus ist in politischer Beziehung der allgemeinen Landflucht und dem „Zuge nach Westen" ebenso zum Opfer gefallen wie die Wirtschaft und die soziale Gestaltung der Gesellschaft. Die Liberalen sind auf diese Weise ungewollt mehr und mehr Vertreter städtischer Interessen geworden und werden seitens der agrarischen Bündler als der Landwirtschaft feindlich verdächtigt. Natürlich mit Unrecht, aber das spielt keine Rolle. Tatsache ist, daß sich die Liberalen mit der steigenden Entwicklung unsers Handels und unsrer Industrie in steigendem Maße der politischen Bearbeitung der städtischen Gewerbetreibenden und dem Kampf gegen die Sozialdemokratie zugewandt haben, während sie die politische Be¬ arbeitung des platten Landes vernachlässigten. Damit haben sie einen festen Boden verlassen und sich, wie die Wahlergebnisse lehren, höchst unsichere Bundes¬ genossen gewählt, die um so unsichrer sein mußten, da sie ohne Organisation blieben. Von allen liberalen Parteien haben nur die Nationalliberalen den Ver¬ such gemacht, Einfluß auf dem platten Lande zu gewinnen. Doch sind sie damit nicht glücklich gewesen. In kritischen Augenblicken versagten ihre agrarischen Partei¬ genossen. Aber auch ihr städtischer Rückhalt wurde schwächer und schwächer. Die Kleingewerbetreibenden mußten entweder den Sozialdemokraten oder den Agrariern folgen, weil sie vielfach von ihnen in Abhängigkeit leben. Die Privatangestellten befinden sich im Stadium der Gärung, und es gibt viele tüchtige Männer unter ihnen, die mangels einer entsprechenden Organisation des Bürgertums aus Opposition gegen den bei uns entwickelten Kastengeist sozialdemokratische Stimmzettel abgeben. Die besten Elemente des Bürgertums werden an¬ geekelt von dem Bonzentum, das sich gerade in den liberalen Parteien — in allen — breit macht und die Entwicklung junger energischer Kräfte in dem Maße, wie es bei den Konservativen und beim Zentrum möglich ist, nicht zuläßt. Daneben wuchsen im Alltagsleben die Anforderungen an Geist und Energie ständig, und ein Kaufmann, der seinen Platz behaupten will, findet kaum Zeit und Kraft für ernste nebenamtliche Beschäftigung in der Politik. Der Kaufmann und Industrielle, der den Tag über schwer geistig arbeitet, will sich des Abends unterhalten. In den Tageszeitungen fesseln ihn die Marktberichte, im übrigen verlangt er von seinem Blatt leichte Anregung. Unsre zu Wohlstand gelangten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/11>, abgerufen am 10.05.2024.