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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Neue Lyrik

(bei Eugen Diederichs in Jena) herausgegeben hat, um so mehr erkennt man,
daß sich hier ein eigenartiges Temperament und Talent seinen eignen Stil für
weite Erlebnisse geschaffen hat. Der Rhythmus des Rades und der elektrischen
Bahn, des Dampfers und der Eisenbahn wird hier in scheinbar kunstlos ge¬
fügten Zeilen nachgezogen, fremdartige Bilder aus dem fernen Osten und dem
fernen Westen werden eingefangen. Wie es sich auf den Treppen und in
den Wartesülen großer Bahnhöfe drängt und schiebt, wie auf den Straßen
amerikanischer Geschäftsstädte die Menschen durcheinanderfluten, wie sie vor den
Mauern der Großstadt ihren Sonntag begehn, das alles hat Paquet wirklich
geschaut, in einer jugendlichen Seele empfangen und festgehalten. Jäh fährt
eine Trauerkunde ins geschäftige Treiben Newyorks: ein Dampfer mit Aus¬
flüglern ist gesunken --

"Durch die Stadt dringt eine Meute heiserer Rufe, die Zeitungsjungen
rufen Entsetzen durch alle Straßen;

Der verantwortliche Schiffsinspektor jagt zum Bahnhof und wird verhaftet,
ehe noch der Zug abfährt;

Die Flagge sinkt halbmast auf dem Türmchen des Stadthauses;

In verkohlten, nassen Lumpen werden viele ans Land gefischt; Menschen,
die vor dreißig Minuten noch lachten und schwatzten.

Zehntausende strömen zum Ufer, wo Polizei die Neugierigen zurückhält
und die Weinenden und gräßlich schreienden durchläßt;

An Haustüren des Viertels, dem die Verunglückten entstammen, werden
schwarze Schleifen angeheftet.

Diese rüstigste aller Städte auf der Erde, am Rand ihres Festlandes auf¬
gesprungen --

Ein einzig Gemäuer, haltend von Millionen Leben --

Unverlühmt strömt weiter in ihren Adern das tönende Blut der Massen."

Und unter leuchtenden Sternen der Ferne träumt Paquets Sehnsucht sich
heim, und er liest mit Stolz "in fremder Sprache fern von der Heimat das
Lob des Vaterlandes^.

Gustav Schülers langsam gereifte Kunst bringt keine Überraschungen, aber
seine Verse zeigen die Entwicklung einer emporschwingenden Seele, die sich nie
genug tut. "Auf den Strömen der Welt zu deu Meeren Gottes" (Fritz Eckardt,
Leipzig) nennt er sein jüngstes Gedichtbuch. Es sind echte Gottsucherlieder,
innig versenkte Andacht und ein Herz, das um Frieden ringt, sprechen ver¬
nehmlich in Versen, die schön abgetönt sind, die kaum je blenden, aber immer
wieder den Widerhall ahnungsvoller Stunden bergen. Vielleicht bringt Schiller
etwas viel, und Beschränkung in der Auswahl würde dem Eindrucke der nicht
wenigen ganz vollendeten Stücke nur zugute gekommen sein. Aber so scharfe
Selbstkritik, wie sie etwa Ilse Leskien übt, ist nicht jedermanns Sache. Sie
hat in ihr Heft "Auf dem Wege" (Heidelberg, Karl Winter) nur eine ganz
bescheidne Zahl von Gedichten gesammelt, aber es füllt kaum eins, aus von


Neue Lyrik

(bei Eugen Diederichs in Jena) herausgegeben hat, um so mehr erkennt man,
daß sich hier ein eigenartiges Temperament und Talent seinen eignen Stil für
weite Erlebnisse geschaffen hat. Der Rhythmus des Rades und der elektrischen
Bahn, des Dampfers und der Eisenbahn wird hier in scheinbar kunstlos ge¬
fügten Zeilen nachgezogen, fremdartige Bilder aus dem fernen Osten und dem
fernen Westen werden eingefangen. Wie es sich auf den Treppen und in
den Wartesülen großer Bahnhöfe drängt und schiebt, wie auf den Straßen
amerikanischer Geschäftsstädte die Menschen durcheinanderfluten, wie sie vor den
Mauern der Großstadt ihren Sonntag begehn, das alles hat Paquet wirklich
geschaut, in einer jugendlichen Seele empfangen und festgehalten. Jäh fährt
eine Trauerkunde ins geschäftige Treiben Newyorks: ein Dampfer mit Aus¬
flüglern ist gesunken —

„Durch die Stadt dringt eine Meute heiserer Rufe, die Zeitungsjungen
rufen Entsetzen durch alle Straßen;

Der verantwortliche Schiffsinspektor jagt zum Bahnhof und wird verhaftet,
ehe noch der Zug abfährt;

Die Flagge sinkt halbmast auf dem Türmchen des Stadthauses;

In verkohlten, nassen Lumpen werden viele ans Land gefischt; Menschen,
die vor dreißig Minuten noch lachten und schwatzten.

Zehntausende strömen zum Ufer, wo Polizei die Neugierigen zurückhält
und die Weinenden und gräßlich schreienden durchläßt;

An Haustüren des Viertels, dem die Verunglückten entstammen, werden
schwarze Schleifen angeheftet.

Diese rüstigste aller Städte auf der Erde, am Rand ihres Festlandes auf¬
gesprungen —

Ein einzig Gemäuer, haltend von Millionen Leben —

Unverlühmt strömt weiter in ihren Adern das tönende Blut der Massen."

Und unter leuchtenden Sternen der Ferne träumt Paquets Sehnsucht sich
heim, und er liest mit Stolz „in fremder Sprache fern von der Heimat das
Lob des Vaterlandes^.

Gustav Schülers langsam gereifte Kunst bringt keine Überraschungen, aber
seine Verse zeigen die Entwicklung einer emporschwingenden Seele, die sich nie
genug tut. „Auf den Strömen der Welt zu deu Meeren Gottes" (Fritz Eckardt,
Leipzig) nennt er sein jüngstes Gedichtbuch. Es sind echte Gottsucherlieder,
innig versenkte Andacht und ein Herz, das um Frieden ringt, sprechen ver¬
nehmlich in Versen, die schön abgetönt sind, die kaum je blenden, aber immer
wieder den Widerhall ahnungsvoller Stunden bergen. Vielleicht bringt Schiller
etwas viel, und Beschränkung in der Auswahl würde dem Eindrucke der nicht
wenigen ganz vollendeten Stücke nur zugute gekommen sein. Aber so scharfe
Selbstkritik, wie sie etwa Ilse Leskien übt, ist nicht jedermanns Sache. Sie
hat in ihr Heft „Auf dem Wege" (Heidelberg, Karl Winter) nur eine ganz
bescheidne Zahl von Gedichten gesammelt, aber es füllt kaum eins, aus von


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[0179] Neue Lyrik (bei Eugen Diederichs in Jena) herausgegeben hat, um so mehr erkennt man, daß sich hier ein eigenartiges Temperament und Talent seinen eignen Stil für weite Erlebnisse geschaffen hat. Der Rhythmus des Rades und der elektrischen Bahn, des Dampfers und der Eisenbahn wird hier in scheinbar kunstlos ge¬ fügten Zeilen nachgezogen, fremdartige Bilder aus dem fernen Osten und dem fernen Westen werden eingefangen. Wie es sich auf den Treppen und in den Wartesülen großer Bahnhöfe drängt und schiebt, wie auf den Straßen amerikanischer Geschäftsstädte die Menschen durcheinanderfluten, wie sie vor den Mauern der Großstadt ihren Sonntag begehn, das alles hat Paquet wirklich geschaut, in einer jugendlichen Seele empfangen und festgehalten. Jäh fährt eine Trauerkunde ins geschäftige Treiben Newyorks: ein Dampfer mit Aus¬ flüglern ist gesunken — „Durch die Stadt dringt eine Meute heiserer Rufe, die Zeitungsjungen rufen Entsetzen durch alle Straßen; Der verantwortliche Schiffsinspektor jagt zum Bahnhof und wird verhaftet, ehe noch der Zug abfährt; Die Flagge sinkt halbmast auf dem Türmchen des Stadthauses; In verkohlten, nassen Lumpen werden viele ans Land gefischt; Menschen, die vor dreißig Minuten noch lachten und schwatzten. Zehntausende strömen zum Ufer, wo Polizei die Neugierigen zurückhält und die Weinenden und gräßlich schreienden durchläßt; An Haustüren des Viertels, dem die Verunglückten entstammen, werden schwarze Schleifen angeheftet. Diese rüstigste aller Städte auf der Erde, am Rand ihres Festlandes auf¬ gesprungen — Ein einzig Gemäuer, haltend von Millionen Leben — Unverlühmt strömt weiter in ihren Adern das tönende Blut der Massen." Und unter leuchtenden Sternen der Ferne träumt Paquets Sehnsucht sich heim, und er liest mit Stolz „in fremder Sprache fern von der Heimat das Lob des Vaterlandes^. Gustav Schülers langsam gereifte Kunst bringt keine Überraschungen, aber seine Verse zeigen die Entwicklung einer emporschwingenden Seele, die sich nie genug tut. „Auf den Strömen der Welt zu deu Meeren Gottes" (Fritz Eckardt, Leipzig) nennt er sein jüngstes Gedichtbuch. Es sind echte Gottsucherlieder, innig versenkte Andacht und ein Herz, das um Frieden ringt, sprechen ver¬ nehmlich in Versen, die schön abgetönt sind, die kaum je blenden, aber immer wieder den Widerhall ahnungsvoller Stunden bergen. Vielleicht bringt Schiller etwas viel, und Beschränkung in der Auswahl würde dem Eindrucke der nicht wenigen ganz vollendeten Stücke nur zugute gekommen sein. Aber so scharfe Selbstkritik, wie sie etwa Ilse Leskien übt, ist nicht jedermanns Sache. Sie hat in ihr Heft „Auf dem Wege" (Heidelberg, Karl Winter) nur eine ganz bescheidne Zahl von Gedichten gesammelt, aber es füllt kaum eins, aus von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/179>, abgerufen am 12.05.2024.