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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Fränkisch - schwäbische Grenzwanderungen

Jnnenrande der Mauer, finde ich Hütte an Hütte angewachsen wie Schwämme
am Fuß der Waldbäume oder wie Kaufläden am Gemäuer alter Dome.
Handwerker Hausen in diesen "Kasernen", wie der Nördlinger seine Stadt¬
mauergewächse nennt. Auch die ärmlichsten darunter bilden mit ihrem be¬
scheidnen Ausdruck des Geborgenseins ein mittelalterliches Idyll.

Das zu drei Vierteln protestantische Nördlingen hat etwas Ernsthaftes
in seinem Wesen, äußerlich und innerlich. Ich kenne manche kleinere Stadt
drüben im eigentlichen schwäbischen Lande, die beweglicher und heiterer ist.
Die wenigen Menschen, mit denen mich die letzten Stunden zusammenbrachten,
fand ich sonderbar ungesprächig dem Fremden gegenüber. Wortkarg ist der
Wirt, wortkarg der Hausknecht, wortkarg die Kirschenfrau am Rathauseck.
Geht diese Verschlossenheit nur auf den Mangel an Fremdenverkehr zurück,
ist sie die Steigerung eines gewissen schwäbischen Zuges, oder ist sie örtlich
noch tiefer begründet?

Ich öffne, schon ist es Nacht, das Fenster meines Zimmers und lehne
mich hinaus. Nächtliche Gartenkühle und Lindenduft hauchen herein. Aus
irgendeinem offnen Nachbarfenster schwebt ein Choral, leise, fast scheu auf
einem Harmonium gespielt, in die Stille der alten Wipfel und Giebel. --

Auf 'frühem Morgengänge entdecke ich in der Nähe des Bahnhofs eine
Büste Melchior Meyrs, des Nieserzählers. Dann wandre ich durchs kleine
Baldinger Tor nordwärts auf den Schauplatz seiner ländlichen Geschichten
hinaus.

Das Ries gilt als vulkanischer Einbruchskessel der Tertiürzeit, der hier
den Jurarand zerrissen hat. Später füllte ein See das Becken aus. Die in
der Mitte ebene, nach dem Rande hin etwas hüglige Landschaft ist arm an
Bäumen, um so reicher ist ihr Lößboden an Feldern. Sie ist seit alten Zeiten
als fruchtbarer Grenzstrich Schwabens berühmt. War doch auch der wohl¬
beleibteste unter den sieben Schwaben, der die besten Knöpfle zu kochen ver¬
stand, einer aus dem Ries.

Der Himmel ist trübe bewölkt. Graue Wolkenzüge, sich zerfasernd und
wieder schließend, treiben über mir ihr stummes Wesen. Minutenlang enthüllt
sich im Osten die breite Tafelform des fränkischen Hesselbergs, im Westen der
steilere, oben abgeschnittne Kegel des schwäbischen Jpf beim nahen Bopfingen.
Beide sind Vorposten des Juragebirges. Beide waren, wie ihre Ringwall¬
reste verraten, Zeugen uralter Besiedlung. Die Berge lösen sich rasch ins
Nebelgrau des Gewölks wieder auf, aus dem ihr Bild zu so kurzer Dauer
herausgetreten war, ein Symbol flüchtig entwölkter Zeitenferne.

Ein feiner Regen hat eingesetzt. Vor der "goldnen Bretzeu" in Ehringen,
Meyrs Geburtsdorfe, gesellt sich mir ein Fuhrmann zu. Ich frage ihn nach
seinen Fahrten aus und erkenne aus den Antworten die regen Beziehungen,
die heute noch zwischen dem Ries und der Augsburger Gegend bestehn.
Geographisch kommen diese Beziehungen schon im Laufe der Wörnitz zum


Fränkisch - schwäbische Grenzwanderungen

Jnnenrande der Mauer, finde ich Hütte an Hütte angewachsen wie Schwämme
am Fuß der Waldbäume oder wie Kaufläden am Gemäuer alter Dome.
Handwerker Hausen in diesen „Kasernen", wie der Nördlinger seine Stadt¬
mauergewächse nennt. Auch die ärmlichsten darunter bilden mit ihrem be¬
scheidnen Ausdruck des Geborgenseins ein mittelalterliches Idyll.

Das zu drei Vierteln protestantische Nördlingen hat etwas Ernsthaftes
in seinem Wesen, äußerlich und innerlich. Ich kenne manche kleinere Stadt
drüben im eigentlichen schwäbischen Lande, die beweglicher und heiterer ist.
Die wenigen Menschen, mit denen mich die letzten Stunden zusammenbrachten,
fand ich sonderbar ungesprächig dem Fremden gegenüber. Wortkarg ist der
Wirt, wortkarg der Hausknecht, wortkarg die Kirschenfrau am Rathauseck.
Geht diese Verschlossenheit nur auf den Mangel an Fremdenverkehr zurück,
ist sie die Steigerung eines gewissen schwäbischen Zuges, oder ist sie örtlich
noch tiefer begründet?

Ich öffne, schon ist es Nacht, das Fenster meines Zimmers und lehne
mich hinaus. Nächtliche Gartenkühle und Lindenduft hauchen herein. Aus
irgendeinem offnen Nachbarfenster schwebt ein Choral, leise, fast scheu auf
einem Harmonium gespielt, in die Stille der alten Wipfel und Giebel. —

Auf 'frühem Morgengänge entdecke ich in der Nähe des Bahnhofs eine
Büste Melchior Meyrs, des Nieserzählers. Dann wandre ich durchs kleine
Baldinger Tor nordwärts auf den Schauplatz seiner ländlichen Geschichten
hinaus.

Das Ries gilt als vulkanischer Einbruchskessel der Tertiürzeit, der hier
den Jurarand zerrissen hat. Später füllte ein See das Becken aus. Die in
der Mitte ebene, nach dem Rande hin etwas hüglige Landschaft ist arm an
Bäumen, um so reicher ist ihr Lößboden an Feldern. Sie ist seit alten Zeiten
als fruchtbarer Grenzstrich Schwabens berühmt. War doch auch der wohl¬
beleibteste unter den sieben Schwaben, der die besten Knöpfle zu kochen ver¬
stand, einer aus dem Ries.

Der Himmel ist trübe bewölkt. Graue Wolkenzüge, sich zerfasernd und
wieder schließend, treiben über mir ihr stummes Wesen. Minutenlang enthüllt
sich im Osten die breite Tafelform des fränkischen Hesselbergs, im Westen der
steilere, oben abgeschnittne Kegel des schwäbischen Jpf beim nahen Bopfingen.
Beide sind Vorposten des Juragebirges. Beide waren, wie ihre Ringwall¬
reste verraten, Zeugen uralter Besiedlung. Die Berge lösen sich rasch ins
Nebelgrau des Gewölks wieder auf, aus dem ihr Bild zu so kurzer Dauer
herausgetreten war, ein Symbol flüchtig entwölkter Zeitenferne.

Ein feiner Regen hat eingesetzt. Vor der „goldnen Bretzeu" in Ehringen,
Meyrs Geburtsdorfe, gesellt sich mir ein Fuhrmann zu. Ich frage ihn nach
seinen Fahrten aus und erkenne aus den Antworten die regen Beziehungen,
die heute noch zwischen dem Ries und der Augsburger Gegend bestehn.
Geographisch kommen diese Beziehungen schon im Laufe der Wörnitz zum


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[0276] Fränkisch - schwäbische Grenzwanderungen Jnnenrande der Mauer, finde ich Hütte an Hütte angewachsen wie Schwämme am Fuß der Waldbäume oder wie Kaufläden am Gemäuer alter Dome. Handwerker Hausen in diesen „Kasernen", wie der Nördlinger seine Stadt¬ mauergewächse nennt. Auch die ärmlichsten darunter bilden mit ihrem be¬ scheidnen Ausdruck des Geborgenseins ein mittelalterliches Idyll. Das zu drei Vierteln protestantische Nördlingen hat etwas Ernsthaftes in seinem Wesen, äußerlich und innerlich. Ich kenne manche kleinere Stadt drüben im eigentlichen schwäbischen Lande, die beweglicher und heiterer ist. Die wenigen Menschen, mit denen mich die letzten Stunden zusammenbrachten, fand ich sonderbar ungesprächig dem Fremden gegenüber. Wortkarg ist der Wirt, wortkarg der Hausknecht, wortkarg die Kirschenfrau am Rathauseck. Geht diese Verschlossenheit nur auf den Mangel an Fremdenverkehr zurück, ist sie die Steigerung eines gewissen schwäbischen Zuges, oder ist sie örtlich noch tiefer begründet? Ich öffne, schon ist es Nacht, das Fenster meines Zimmers und lehne mich hinaus. Nächtliche Gartenkühle und Lindenduft hauchen herein. Aus irgendeinem offnen Nachbarfenster schwebt ein Choral, leise, fast scheu auf einem Harmonium gespielt, in die Stille der alten Wipfel und Giebel. — Auf 'frühem Morgengänge entdecke ich in der Nähe des Bahnhofs eine Büste Melchior Meyrs, des Nieserzählers. Dann wandre ich durchs kleine Baldinger Tor nordwärts auf den Schauplatz seiner ländlichen Geschichten hinaus. Das Ries gilt als vulkanischer Einbruchskessel der Tertiürzeit, der hier den Jurarand zerrissen hat. Später füllte ein See das Becken aus. Die in der Mitte ebene, nach dem Rande hin etwas hüglige Landschaft ist arm an Bäumen, um so reicher ist ihr Lößboden an Feldern. Sie ist seit alten Zeiten als fruchtbarer Grenzstrich Schwabens berühmt. War doch auch der wohl¬ beleibteste unter den sieben Schwaben, der die besten Knöpfle zu kochen ver¬ stand, einer aus dem Ries. Der Himmel ist trübe bewölkt. Graue Wolkenzüge, sich zerfasernd und wieder schließend, treiben über mir ihr stummes Wesen. Minutenlang enthüllt sich im Osten die breite Tafelform des fränkischen Hesselbergs, im Westen der steilere, oben abgeschnittne Kegel des schwäbischen Jpf beim nahen Bopfingen. Beide sind Vorposten des Juragebirges. Beide waren, wie ihre Ringwall¬ reste verraten, Zeugen uralter Besiedlung. Die Berge lösen sich rasch ins Nebelgrau des Gewölks wieder auf, aus dem ihr Bild zu so kurzer Dauer herausgetreten war, ein Symbol flüchtig entwölkter Zeitenferne. Ein feiner Regen hat eingesetzt. Vor der „goldnen Bretzeu" in Ehringen, Meyrs Geburtsdorfe, gesellt sich mir ein Fuhrmann zu. Ich frage ihn nach seinen Fahrten aus und erkenne aus den Antworten die regen Beziehungen, die heute noch zwischen dem Ries und der Augsburger Gegend bestehn. Geographisch kommen diese Beziehungen schon im Laufe der Wörnitz zum

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/276>, abgerufen am 17.06.2024.