Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Stellung des Griechentums auf der Balkanhallnnsel

Türkei wird es sein, daß sie beide helfen werden, die Nabelschnur zu zerschneiden,
die den werdenden griechischen Staats- und Volksorganismus noch mit der
byzantinischen Vergangenheit verbindet und ihn an einer freien, zeitgemäßen
Entwicklung hindert. Die brachliegende reiche Volkskraft muß für positive und
produktive Aufgaben nutzbar gemacht werden, die gebildeten Griechen müssen
aufhören, sich fast ausschließlich den traditionellen Berufen des Juristen, des
Arztes, des Lehrers zu widmen, und müssen in weiteren Umfange anfangen, sich
den modernen Wissenschaften, der Nationalökonomie, der Technik und der Landwirt¬
schaft zuzuwenden, wie es ihre Todfeinde, die Bulgaren, schon längst mit Erfolg
tun*); dann wird auch ihr Hauptübel, das gelehrte Proletariat der Städte,
beseitigt und die besonders für die gefährdeten Gebiete in Mazedonien und
Thrazien so verhängnisvolle Landflucht verhütet werden. Denn gerade die
Seßhaftigkeit -- nicht die im Cafe, sondern die auf der Scholle -- ist eine
Hauptbedingung für ihren Erfolg im Natioualitätenkampf auf der Balkanhalbinsel.
Die lange einseitige Betonung des Handels hat die Griechen ähnlich den Juden
über den ganzen Erdball getrieben und jenen kosmopolitischen Zug in ihnen
ausgebildet, auf den sie so stolz sind, der aber ihrer Stellung als Nation nicht
günstig ist. Noch in den letzten Jahren hat die Auswandrung aus Griechenland
nach Amerika einen beängstigenden Umfang angenommen, sodaß in sechs Provinzen
(drei im Peloponnes und drei auf den Inseln) die Bevölkerung in den letzten
elf Jahren abgenommen hat, in einigen um sieben Prozent, im ganzen um mehr
als zwanzigtausend -- bei einer Gesamtbevölkerung von 2^ Millionen eine
bedenklich hohe Zahl. Sollte es nicht gelingen, künftig diesen Auswandrerstrom
in die gefährdeten Gebiete der Türkei zu lenken, wo er der nationalen Sache
zugute käme, statt ihr verloren zu gehn?

Das Königreich Griechenland ist in Gefahr, ein absterbender Ast an dem
Baume der europäischen Staatenfamilie zu werden; schon darum ist ein lebendiger
Kontakt zwischen ihm und dem griechischen Kernlande in der Türkei dringend not¬
wendig, vor allem aber auch darum, weil die tüchtigsten, zähesten und rührigsten
Griechen die des Nordens, die von Epirus und Südmazedonien sind. Diese sind
berufen, das isolierte Griechenland an Europa anzugliedern und ihm wieder eine
achtunggebietende Stellung ans der Balkanhalbinsel einzuräumen. Kreta ist nur
eine Kraftprobe für das miteinander ringende Turkmenen und Griechentum; die
Jungtürken wissen ebenso gut, daß sie Kreta niemals dauernd behaupten werden,
wie die Griechen wissen, daß sie es nicht dauernd entbehren werden. Wohl
aber hoffen die Jungtürken, das Griechentum am Balkan mattzufetzen, politisch
und wirtschaftlich: jenes durch die Drohung, in Thessalien einzumarschieren,
dieses dnrch den Boykott griechischer Waren. Die Jungtürken haben eben er¬
kannt, daß die privilegierte Stellung der griechischen Gemeinden in der Türkei



*) Von den 51 Bulgaren, die im letzten Sommersemester an der Leipziger Universität
studierten, widmeten sich allein 36 dem Studium der Landwirtschaft, von den zehn Griechen
dagegen nicht einer!
Die Stellung des Griechentums auf der Balkanhallnnsel

Türkei wird es sein, daß sie beide helfen werden, die Nabelschnur zu zerschneiden,
die den werdenden griechischen Staats- und Volksorganismus noch mit der
byzantinischen Vergangenheit verbindet und ihn an einer freien, zeitgemäßen
Entwicklung hindert. Die brachliegende reiche Volkskraft muß für positive und
produktive Aufgaben nutzbar gemacht werden, die gebildeten Griechen müssen
aufhören, sich fast ausschließlich den traditionellen Berufen des Juristen, des
Arztes, des Lehrers zu widmen, und müssen in weiteren Umfange anfangen, sich
den modernen Wissenschaften, der Nationalökonomie, der Technik und der Landwirt¬
schaft zuzuwenden, wie es ihre Todfeinde, die Bulgaren, schon längst mit Erfolg
tun*); dann wird auch ihr Hauptübel, das gelehrte Proletariat der Städte,
beseitigt und die besonders für die gefährdeten Gebiete in Mazedonien und
Thrazien so verhängnisvolle Landflucht verhütet werden. Denn gerade die
Seßhaftigkeit — nicht die im Cafe, sondern die auf der Scholle — ist eine
Hauptbedingung für ihren Erfolg im Natioualitätenkampf auf der Balkanhalbinsel.
Die lange einseitige Betonung des Handels hat die Griechen ähnlich den Juden
über den ganzen Erdball getrieben und jenen kosmopolitischen Zug in ihnen
ausgebildet, auf den sie so stolz sind, der aber ihrer Stellung als Nation nicht
günstig ist. Noch in den letzten Jahren hat die Auswandrung aus Griechenland
nach Amerika einen beängstigenden Umfang angenommen, sodaß in sechs Provinzen
(drei im Peloponnes und drei auf den Inseln) die Bevölkerung in den letzten
elf Jahren abgenommen hat, in einigen um sieben Prozent, im ganzen um mehr
als zwanzigtausend — bei einer Gesamtbevölkerung von 2^ Millionen eine
bedenklich hohe Zahl. Sollte es nicht gelingen, künftig diesen Auswandrerstrom
in die gefährdeten Gebiete der Türkei zu lenken, wo er der nationalen Sache
zugute käme, statt ihr verloren zu gehn?

Das Königreich Griechenland ist in Gefahr, ein absterbender Ast an dem
Baume der europäischen Staatenfamilie zu werden; schon darum ist ein lebendiger
Kontakt zwischen ihm und dem griechischen Kernlande in der Türkei dringend not¬
wendig, vor allem aber auch darum, weil die tüchtigsten, zähesten und rührigsten
Griechen die des Nordens, die von Epirus und Südmazedonien sind. Diese sind
berufen, das isolierte Griechenland an Europa anzugliedern und ihm wieder eine
achtunggebietende Stellung ans der Balkanhalbinsel einzuräumen. Kreta ist nur
eine Kraftprobe für das miteinander ringende Turkmenen und Griechentum; die
Jungtürken wissen ebenso gut, daß sie Kreta niemals dauernd behaupten werden,
wie die Griechen wissen, daß sie es nicht dauernd entbehren werden. Wohl
aber hoffen die Jungtürken, das Griechentum am Balkan mattzufetzen, politisch
und wirtschaftlich: jenes durch die Drohung, in Thessalien einzumarschieren,
dieses dnrch den Boykott griechischer Waren. Die Jungtürken haben eben er¬
kannt, daß die privilegierte Stellung der griechischen Gemeinden in der Türkei



*) Von den 51 Bulgaren, die im letzten Sommersemester an der Leipziger Universität
studierten, widmeten sich allein 36 dem Studium der Landwirtschaft, von den zehn Griechen
dagegen nicht einer!
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0417" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/314120"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Stellung des Griechentums auf der Balkanhallnnsel</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1983" prev="#ID_1982"> Türkei wird es sein, daß sie beide helfen werden, die Nabelschnur zu zerschneiden,<lb/>
die den werdenden griechischen Staats- und Volksorganismus noch mit der<lb/>
byzantinischen Vergangenheit verbindet und ihn an einer freien, zeitgemäßen<lb/>
Entwicklung hindert. Die brachliegende reiche Volkskraft muß für positive und<lb/>
produktive Aufgaben nutzbar gemacht werden, die gebildeten Griechen müssen<lb/>
aufhören, sich fast ausschließlich den traditionellen Berufen des Juristen, des<lb/>
Arztes, des Lehrers zu widmen, und müssen in weiteren Umfange anfangen, sich<lb/>
den modernen Wissenschaften, der Nationalökonomie, der Technik und der Landwirt¬<lb/>
schaft zuzuwenden, wie es ihre Todfeinde, die Bulgaren, schon längst mit Erfolg<lb/>
tun*); dann wird auch ihr Hauptübel, das gelehrte Proletariat der Städte,<lb/>
beseitigt und die besonders für die gefährdeten Gebiete in Mazedonien und<lb/>
Thrazien so verhängnisvolle Landflucht verhütet werden. Denn gerade die<lb/>
Seßhaftigkeit &#x2014; nicht die im Cafe, sondern die auf der Scholle &#x2014; ist eine<lb/>
Hauptbedingung für ihren Erfolg im Natioualitätenkampf auf der Balkanhalbinsel.<lb/>
Die lange einseitige Betonung des Handels hat die Griechen ähnlich den Juden<lb/>
über den ganzen Erdball getrieben und jenen kosmopolitischen Zug in ihnen<lb/>
ausgebildet, auf den sie so stolz sind, der aber ihrer Stellung als Nation nicht<lb/>
günstig ist. Noch in den letzten Jahren hat die Auswandrung aus Griechenland<lb/>
nach Amerika einen beängstigenden Umfang angenommen, sodaß in sechs Provinzen<lb/>
(drei im Peloponnes und drei auf den Inseln) die Bevölkerung in den letzten<lb/>
elf Jahren abgenommen hat, in einigen um sieben Prozent, im ganzen um mehr<lb/>
als zwanzigtausend &#x2014; bei einer Gesamtbevölkerung von 2^ Millionen eine<lb/>
bedenklich hohe Zahl. Sollte es nicht gelingen, künftig diesen Auswandrerstrom<lb/>
in die gefährdeten Gebiete der Türkei zu lenken, wo er der nationalen Sache<lb/>
zugute käme, statt ihr verloren zu gehn?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1984" next="#ID_1985"> Das Königreich Griechenland ist in Gefahr, ein absterbender Ast an dem<lb/>
Baume der europäischen Staatenfamilie zu werden; schon darum ist ein lebendiger<lb/>
Kontakt zwischen ihm und dem griechischen Kernlande in der Türkei dringend not¬<lb/>
wendig, vor allem aber auch darum, weil die tüchtigsten, zähesten und rührigsten<lb/>
Griechen die des Nordens, die von Epirus und Südmazedonien sind. Diese sind<lb/>
berufen, das isolierte Griechenland an Europa anzugliedern und ihm wieder eine<lb/>
achtunggebietende Stellung ans der Balkanhalbinsel einzuräumen. Kreta ist nur<lb/>
eine Kraftprobe für das miteinander ringende Turkmenen und Griechentum; die<lb/>
Jungtürken wissen ebenso gut, daß sie Kreta niemals dauernd behaupten werden,<lb/>
wie die Griechen wissen, daß sie es nicht dauernd entbehren werden. Wohl<lb/>
aber hoffen die Jungtürken, das Griechentum am Balkan mattzufetzen, politisch<lb/>
und wirtschaftlich: jenes durch die Drohung, in Thessalien einzumarschieren,<lb/>
dieses dnrch den Boykott griechischer Waren. Die Jungtürken haben eben er¬<lb/>
kannt, daß die privilegierte Stellung der griechischen Gemeinden in der Türkei</p><lb/>
          <note xml:id="FID_24" place="foot"> *) Von den 51 Bulgaren, die im letzten Sommersemester an der Leipziger Universität<lb/>
studierten, widmeten sich allein 36 dem Studium der Landwirtschaft, von den zehn Griechen<lb/>
dagegen nicht einer!</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0417] Die Stellung des Griechentums auf der Balkanhallnnsel Türkei wird es sein, daß sie beide helfen werden, die Nabelschnur zu zerschneiden, die den werdenden griechischen Staats- und Volksorganismus noch mit der byzantinischen Vergangenheit verbindet und ihn an einer freien, zeitgemäßen Entwicklung hindert. Die brachliegende reiche Volkskraft muß für positive und produktive Aufgaben nutzbar gemacht werden, die gebildeten Griechen müssen aufhören, sich fast ausschließlich den traditionellen Berufen des Juristen, des Arztes, des Lehrers zu widmen, und müssen in weiteren Umfange anfangen, sich den modernen Wissenschaften, der Nationalökonomie, der Technik und der Landwirt¬ schaft zuzuwenden, wie es ihre Todfeinde, die Bulgaren, schon längst mit Erfolg tun*); dann wird auch ihr Hauptübel, das gelehrte Proletariat der Städte, beseitigt und die besonders für die gefährdeten Gebiete in Mazedonien und Thrazien so verhängnisvolle Landflucht verhütet werden. Denn gerade die Seßhaftigkeit — nicht die im Cafe, sondern die auf der Scholle — ist eine Hauptbedingung für ihren Erfolg im Natioualitätenkampf auf der Balkanhalbinsel. Die lange einseitige Betonung des Handels hat die Griechen ähnlich den Juden über den ganzen Erdball getrieben und jenen kosmopolitischen Zug in ihnen ausgebildet, auf den sie so stolz sind, der aber ihrer Stellung als Nation nicht günstig ist. Noch in den letzten Jahren hat die Auswandrung aus Griechenland nach Amerika einen beängstigenden Umfang angenommen, sodaß in sechs Provinzen (drei im Peloponnes und drei auf den Inseln) die Bevölkerung in den letzten elf Jahren abgenommen hat, in einigen um sieben Prozent, im ganzen um mehr als zwanzigtausend — bei einer Gesamtbevölkerung von 2^ Millionen eine bedenklich hohe Zahl. Sollte es nicht gelingen, künftig diesen Auswandrerstrom in die gefährdeten Gebiete der Türkei zu lenken, wo er der nationalen Sache zugute käme, statt ihr verloren zu gehn? Das Königreich Griechenland ist in Gefahr, ein absterbender Ast an dem Baume der europäischen Staatenfamilie zu werden; schon darum ist ein lebendiger Kontakt zwischen ihm und dem griechischen Kernlande in der Türkei dringend not¬ wendig, vor allem aber auch darum, weil die tüchtigsten, zähesten und rührigsten Griechen die des Nordens, die von Epirus und Südmazedonien sind. Diese sind berufen, das isolierte Griechenland an Europa anzugliedern und ihm wieder eine achtunggebietende Stellung ans der Balkanhalbinsel einzuräumen. Kreta ist nur eine Kraftprobe für das miteinander ringende Turkmenen und Griechentum; die Jungtürken wissen ebenso gut, daß sie Kreta niemals dauernd behaupten werden, wie die Griechen wissen, daß sie es nicht dauernd entbehren werden. Wohl aber hoffen die Jungtürken, das Griechentum am Balkan mattzufetzen, politisch und wirtschaftlich: jenes durch die Drohung, in Thessalien einzumarschieren, dieses dnrch den Boykott griechischer Waren. Die Jungtürken haben eben er¬ kannt, daß die privilegierte Stellung der griechischen Gemeinden in der Türkei *) Von den 51 Bulgaren, die im letzten Sommersemester an der Leipziger Universität studierten, widmeten sich allein 36 dem Studium der Landwirtschaft, von den zehn Griechen dagegen nicht einer!

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/417
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/417>, abgerufen am 11.05.2024.