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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Nationalliberalc, Regierung und Konservative

Bevölkerungszahl und den großen Interessen, die durch das platte Land, durch
die Organisationen der Kreise usw. historisch geworden und gegeben sind. Das
Historische dürfen wir nicht an die Wand drücken. Aber auch die große Be¬
völkerungszunahme und die darin zum Ausdruck kommende große Bedeutung,
welche Industrie, Handel und Gewerbe für uns gewonnen haben, darf nicht in
der Weise vernachlässigt werden, wie es unter der heutigen Wahlkreiseinteilung
geschieht." Und zur geheimen Wahl bemerkte er ebenfalls versöhnlich, wenn
auch bestimmt: "Die Gerechtigkeit gebietet es hier, die wirklich staatsmännische
Auffassung gerade derjenigen Teile unserer Partei hervorzuheben, welche aus
einem abweichenden Standpunkt standen, welche in der öffentlichen Stimmabgabe
das einzig zulässige Mittel der Art des Stimmens gesunden hatten. Sie haben
durchaus sich gefügt, wenn jetzt in unserem Wahlaufruf die Parole für die
geheime Stimmabgabe ausgegeben werden soll." Krause befürwortete die geheime
Wahl wegen der Fülle von neuen Abhängigkeitsverhältuissen, die sich in der Neuzeit
eingestellt haben, u. a. mit der Abhängigkeit von großen Organisationen, und
verwies auch darauf, daß bei den Knappschaftswahlen die Sozialdemokraten
das öffentliche Wahlverfahren verlangt hätten, vermutlich doch, weil es ihnen
am meisten zusagte. Zu diesem Druck von unten gesellt sich, wie die Dinge
nun einmal liegen, der Druck vou oben zugunsten konservativer und agrarischer
Politik, und der Abg. Krause fand scharfe Worte, um auch diesen Mißbrauch
zu tadeln: "Wir können nicht mehr dulden, daß zugunsten einer Partei, sei
es, welche sie wolle, der amtliche Apparat in Kraft gesetzt wird, sondern wir
wollen Freiheit der Wahl. Wir wollen wissen, welche Vertreter das Volk, wenn
es frei wählen kann, wählt. Wir können nicht ein System gutheißen, das unter
dem Scheine der freien Wahl mit Benutzung des amtlichen Apparats zu
Fälschungen im Ergebnis führen muß."

Inzwischen kamen die Landtagswahlen und die bekannte Erklärung der
Thronrede. Der Wahlkampf hatte sich in der Hauptsache um das Wahlrecht
gedreht; die Nationalliberalen waren konzentrischen Angriffen von rechts und
links ausgesetzt gewesen und namentlich vou der Rechten scharf bekämpft worden,
weil sie demnächst einen Teil der Entscheidung in der Hand haben mußten,
falls die organische Weiterbildung des preußischen Wahlrechts nach der Absicht
der Thronrede wirklich in Angriff genommen werden sollte. Im Reich ging
darüber der Block in die Brüche und die Amtszeit des Fürsten Bülow lief ab.
Eine starke Verbitterung ergriff unser Volk, jede Nachwahl zum Reichstag zeigte
ein Erstarken der sozialdemokratischen Bewegung und eine Erschlaffung des
Bürgertums. Um so energischer ging die agrarisch-konservativ-klerikale Koalition
vor. Die jnngkonservative Bewegung wurde niedergehalten und bei allen
Wahlen wurde eine Isolierung der Nationalliberalen durchgeführt. Wo die
Liberalen die Vorhand hatten, wurde von jener Koalition der Wahlkampf so
lau geführt, daß die Sozialdemokratie durchs Ziel gehen mußte; standen die
Konservativen in Stichwahl und half ihnen der Liberalismus, wie in Landsberg-


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Bevölkerungszahl und den großen Interessen, die durch das platte Land, durch
die Organisationen der Kreise usw. historisch geworden und gegeben sind. Das
Historische dürfen wir nicht an die Wand drücken. Aber auch die große Be¬
völkerungszunahme und die darin zum Ausdruck kommende große Bedeutung,
welche Industrie, Handel und Gewerbe für uns gewonnen haben, darf nicht in
der Weise vernachlässigt werden, wie es unter der heutigen Wahlkreiseinteilung
geschieht." Und zur geheimen Wahl bemerkte er ebenfalls versöhnlich, wenn
auch bestimmt: „Die Gerechtigkeit gebietet es hier, die wirklich staatsmännische
Auffassung gerade derjenigen Teile unserer Partei hervorzuheben, welche aus
einem abweichenden Standpunkt standen, welche in der öffentlichen Stimmabgabe
das einzig zulässige Mittel der Art des Stimmens gesunden hatten. Sie haben
durchaus sich gefügt, wenn jetzt in unserem Wahlaufruf die Parole für die
geheime Stimmabgabe ausgegeben werden soll." Krause befürwortete die geheime
Wahl wegen der Fülle von neuen Abhängigkeitsverhältuissen, die sich in der Neuzeit
eingestellt haben, u. a. mit der Abhängigkeit von großen Organisationen, und
verwies auch darauf, daß bei den Knappschaftswahlen die Sozialdemokraten
das öffentliche Wahlverfahren verlangt hätten, vermutlich doch, weil es ihnen
am meisten zusagte. Zu diesem Druck von unten gesellt sich, wie die Dinge
nun einmal liegen, der Druck vou oben zugunsten konservativer und agrarischer
Politik, und der Abg. Krause fand scharfe Worte, um auch diesen Mißbrauch
zu tadeln: „Wir können nicht mehr dulden, daß zugunsten einer Partei, sei
es, welche sie wolle, der amtliche Apparat in Kraft gesetzt wird, sondern wir
wollen Freiheit der Wahl. Wir wollen wissen, welche Vertreter das Volk, wenn
es frei wählen kann, wählt. Wir können nicht ein System gutheißen, das unter
dem Scheine der freien Wahl mit Benutzung des amtlichen Apparats zu
Fälschungen im Ergebnis führen muß."

Inzwischen kamen die Landtagswahlen und die bekannte Erklärung der
Thronrede. Der Wahlkampf hatte sich in der Hauptsache um das Wahlrecht
gedreht; die Nationalliberalen waren konzentrischen Angriffen von rechts und
links ausgesetzt gewesen und namentlich vou der Rechten scharf bekämpft worden,
weil sie demnächst einen Teil der Entscheidung in der Hand haben mußten,
falls die organische Weiterbildung des preußischen Wahlrechts nach der Absicht
der Thronrede wirklich in Angriff genommen werden sollte. Im Reich ging
darüber der Block in die Brüche und die Amtszeit des Fürsten Bülow lief ab.
Eine starke Verbitterung ergriff unser Volk, jede Nachwahl zum Reichstag zeigte
ein Erstarken der sozialdemokratischen Bewegung und eine Erschlaffung des
Bürgertums. Um so energischer ging die agrarisch-konservativ-klerikale Koalition
vor. Die jnngkonservative Bewegung wurde niedergehalten und bei allen
Wahlen wurde eine Isolierung der Nationalliberalen durchgeführt. Wo die
Liberalen die Vorhand hatten, wurde von jener Koalition der Wahlkampf so
lau geführt, daß die Sozialdemokratie durchs Ziel gehen mußte; standen die
Konservativen in Stichwahl und half ihnen der Liberalismus, wie in Landsberg-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/350>, abgerufen am 15.06.2024.