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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Das Kastcnsystcni Indiens, sein wehen und seine Lcfämpfnng

theorie zurückführte. Das hierarchische Kastensystem verfolge das Ziel, die
Menschheit zu höheren Stufen der Vervollkommnung emporzuführen auf dein
Weg der Vererbung erworbener Eigenschaften, der abendländische Liberalismus
suche die gleiche Aufgabe auf dein Weg der Auslese im freien Kampf ums
Dasein zu lösen. Wie nun in der Natur beide Tendenzen scheinbar gegen¬
sätzlich, in Wirklichkeit aber doch harmonisch als Ansporn zusammenwirkten,
allen individuellen Veranlagungen Spielraum zur Betätigung zu schaffen, so
fordere es die Staatsweisheit und das Wohl der Menschheit, daß auch auf
politischem Gebiet nicht einseitig die aristokratischen oder demokratischen Ent¬
wicklungsenergien in die Alleinherrschaft eingesetzt, sondern beide unter Anerkennung
gleicher Rechte auf einer Mittellinie zusammengeführt würden.

Die hohe Bedeutung der Neformgemeinden für das praktische politische
Leben liegt darin, daß sie sämtlich in edlem Wetteifer zahlreiche Schulen
höheren und niederen Rangs und Wohltätigkeitsanstalten aller Art geschaffen
haben, in denen die Angehörigen jeder Gesellschaftsklasse aufgenommen werden
und in denen den Zöglingen eine freie, die Enge des Kastengeists durch¬
brechende Weltanschauung vermittelt wird. Damit ist dessen Diktatur im Prinzip
aus den Angeln gehoben. Es ist zwar klar, daß noch Jahrhunderte vergehen
werden, bis das unabsehbare Eisfeld, in dessen Starre Indien durch das
Kastenwesen gebannt wird, weggeräumt ist. Aber ebenso sicher erscheint es,
daß der Abbröckelungsprozeß, der infolge der warmen reformatorischen Ein¬
strömung begonnen hat, nicht mehr aufzuhalten ist, vielmehr schließlich die ganze
Masse in Bewegung und zur Auflösung bringen wird. Die britische Regierung
hat sich, wenig geschickt, aus bereits angedeuteten Gründen den Neformgemeinden
bisher durchaus unfreundlich gegenübergestellt, ja deren Führer, obgleich sie
innerhalb der nationalistischen Opposition die gemäßigte und loyale Richtung
vertreten, vielfach mit gleichen Gewaltmaßregeln verfolgt wie die radikalen
Umstürzler. Auf die Dauer ist diese Taktik natürlich unhaltbar; denn wenn
England dem heutigen von Morley und Minto festgelegten Programm nach die
Selbstverwaltungsrechte des indischen Volks allmählich erweitert, so muß es
wohl oder übel auch an dem Abbruch des Kastengebäudes, das mit verfassungs¬
mäßigein Leben nicht vereinbar ist, mitwirken. Eine diplomatische und Erfolg
versprechende Politik, die denn auch in England immer mehr Befürworter findet,
müßte vielmehr in Gemeinschaft mit der religiös-sozialen Reformbewegung an
der Wiedergeburt Indiens zu wirken und so zugleich eine Brücke über die tiefe
Kluft, die heute die fremden Herren von den Untertanen trennt, zu bauen
suchen. In solcher solidarischer Arbeit läge eine zuverlässige Frühlingshoffming
sowohl für das indische Volk auf Erlösung von seinen Leiden wie auch für den
Westen auf einen friedlichen Sieg seiner Kultur in dem heißumstrittenen Kampf¬
gebiet des fernen Ostens.




Das Kastcnsystcni Indiens, sein wehen und seine Lcfämpfnng

theorie zurückführte. Das hierarchische Kastensystem verfolge das Ziel, die
Menschheit zu höheren Stufen der Vervollkommnung emporzuführen auf dein
Weg der Vererbung erworbener Eigenschaften, der abendländische Liberalismus
suche die gleiche Aufgabe auf dein Weg der Auslese im freien Kampf ums
Dasein zu lösen. Wie nun in der Natur beide Tendenzen scheinbar gegen¬
sätzlich, in Wirklichkeit aber doch harmonisch als Ansporn zusammenwirkten,
allen individuellen Veranlagungen Spielraum zur Betätigung zu schaffen, so
fordere es die Staatsweisheit und das Wohl der Menschheit, daß auch auf
politischem Gebiet nicht einseitig die aristokratischen oder demokratischen Ent¬
wicklungsenergien in die Alleinherrschaft eingesetzt, sondern beide unter Anerkennung
gleicher Rechte auf einer Mittellinie zusammengeführt würden.

Die hohe Bedeutung der Neformgemeinden für das praktische politische
Leben liegt darin, daß sie sämtlich in edlem Wetteifer zahlreiche Schulen
höheren und niederen Rangs und Wohltätigkeitsanstalten aller Art geschaffen
haben, in denen die Angehörigen jeder Gesellschaftsklasse aufgenommen werden
und in denen den Zöglingen eine freie, die Enge des Kastengeists durch¬
brechende Weltanschauung vermittelt wird. Damit ist dessen Diktatur im Prinzip
aus den Angeln gehoben. Es ist zwar klar, daß noch Jahrhunderte vergehen
werden, bis das unabsehbare Eisfeld, in dessen Starre Indien durch das
Kastenwesen gebannt wird, weggeräumt ist. Aber ebenso sicher erscheint es,
daß der Abbröckelungsprozeß, der infolge der warmen reformatorischen Ein¬
strömung begonnen hat, nicht mehr aufzuhalten ist, vielmehr schließlich die ganze
Masse in Bewegung und zur Auflösung bringen wird. Die britische Regierung
hat sich, wenig geschickt, aus bereits angedeuteten Gründen den Neformgemeinden
bisher durchaus unfreundlich gegenübergestellt, ja deren Führer, obgleich sie
innerhalb der nationalistischen Opposition die gemäßigte und loyale Richtung
vertreten, vielfach mit gleichen Gewaltmaßregeln verfolgt wie die radikalen
Umstürzler. Auf die Dauer ist diese Taktik natürlich unhaltbar; denn wenn
England dem heutigen von Morley und Minto festgelegten Programm nach die
Selbstverwaltungsrechte des indischen Volks allmählich erweitert, so muß es
wohl oder übel auch an dem Abbruch des Kastengebäudes, das mit verfassungs¬
mäßigein Leben nicht vereinbar ist, mitwirken. Eine diplomatische und Erfolg
versprechende Politik, die denn auch in England immer mehr Befürworter findet,
müßte vielmehr in Gemeinschaft mit der religiös-sozialen Reformbewegung an
der Wiedergeburt Indiens zu wirken und so zugleich eine Brücke über die tiefe
Kluft, die heute die fremden Herren von den Untertanen trennt, zu bauen
suchen. In solcher solidarischer Arbeit läge eine zuverlässige Frühlingshoffming
sowohl für das indische Volk auf Erlösung von seinen Leiden wie auch für den
Westen auf einen friedlichen Sieg seiner Kultur in dem heißumstrittenen Kampf¬
gebiet des fernen Ostens.




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[0274] Das Kastcnsystcni Indiens, sein wehen und seine Lcfämpfnng theorie zurückführte. Das hierarchische Kastensystem verfolge das Ziel, die Menschheit zu höheren Stufen der Vervollkommnung emporzuführen auf dein Weg der Vererbung erworbener Eigenschaften, der abendländische Liberalismus suche die gleiche Aufgabe auf dein Weg der Auslese im freien Kampf ums Dasein zu lösen. Wie nun in der Natur beide Tendenzen scheinbar gegen¬ sätzlich, in Wirklichkeit aber doch harmonisch als Ansporn zusammenwirkten, allen individuellen Veranlagungen Spielraum zur Betätigung zu schaffen, so fordere es die Staatsweisheit und das Wohl der Menschheit, daß auch auf politischem Gebiet nicht einseitig die aristokratischen oder demokratischen Ent¬ wicklungsenergien in die Alleinherrschaft eingesetzt, sondern beide unter Anerkennung gleicher Rechte auf einer Mittellinie zusammengeführt würden. Die hohe Bedeutung der Neformgemeinden für das praktische politische Leben liegt darin, daß sie sämtlich in edlem Wetteifer zahlreiche Schulen höheren und niederen Rangs und Wohltätigkeitsanstalten aller Art geschaffen haben, in denen die Angehörigen jeder Gesellschaftsklasse aufgenommen werden und in denen den Zöglingen eine freie, die Enge des Kastengeists durch¬ brechende Weltanschauung vermittelt wird. Damit ist dessen Diktatur im Prinzip aus den Angeln gehoben. Es ist zwar klar, daß noch Jahrhunderte vergehen werden, bis das unabsehbare Eisfeld, in dessen Starre Indien durch das Kastenwesen gebannt wird, weggeräumt ist. Aber ebenso sicher erscheint es, daß der Abbröckelungsprozeß, der infolge der warmen reformatorischen Ein¬ strömung begonnen hat, nicht mehr aufzuhalten ist, vielmehr schließlich die ganze Masse in Bewegung und zur Auflösung bringen wird. Die britische Regierung hat sich, wenig geschickt, aus bereits angedeuteten Gründen den Neformgemeinden bisher durchaus unfreundlich gegenübergestellt, ja deren Führer, obgleich sie innerhalb der nationalistischen Opposition die gemäßigte und loyale Richtung vertreten, vielfach mit gleichen Gewaltmaßregeln verfolgt wie die radikalen Umstürzler. Auf die Dauer ist diese Taktik natürlich unhaltbar; denn wenn England dem heutigen von Morley und Minto festgelegten Programm nach die Selbstverwaltungsrechte des indischen Volks allmählich erweitert, so muß es wohl oder übel auch an dem Abbruch des Kastengebäudes, das mit verfassungs¬ mäßigein Leben nicht vereinbar ist, mitwirken. Eine diplomatische und Erfolg versprechende Politik, die denn auch in England immer mehr Befürworter findet, müßte vielmehr in Gemeinschaft mit der religiös-sozialen Reformbewegung an der Wiedergeburt Indiens zu wirken und so zugleich eine Brücke über die tiefe Kluft, die heute die fremden Herren von den Untertanen trennt, zu bauen suchen. In solcher solidarischer Arbeit läge eine zuverlässige Frühlingshoffming sowohl für das indische Volk auf Erlösung von seinen Leiden wie auch für den Westen auf einen friedlichen Sieg seiner Kultur in dem heißumstrittenen Kampf¬ gebiet des fernen Ostens.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/274>, abgerufen am 18.05.2024.