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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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plato für die Gegenwart

Preis end anz, der zweite Übersetzer, übersetzt im Geiste Kaßuers, frei und
bisweilen etwas bequem, aber mit Geschmack und Wärme, wenn er auch die
Bilder der griechischen Sprache nicht immer ausschöpft.

Anders muß Kiefer beurteilt werden, der Kaßners Werk fortsetzte. Die
Art, wie er schon früher Plotins Enneaden dem Publikum zubereitete, bewies
schon seine mangelhafte Selbsteinschätzung. Zu Platos Persönlichkeit hat er kein
Verhältnis; es ist wohl klar, daß für die vorliegende Aufgabe, die Laien zu
Plato zu führen, ein bloß wissender Philologe nicht genügt. Wenn ihm "die
Gesetze" unangenehm waren, dann hätte er auf seine Aufgabe verzichten sollen;
wer als Lehrer vor ein großes Publikum treten will, darf sich nicht mit einem
Wunsche des Verlages entschuldigen. Er entschließt sich mit folgenden:
Stoßseufzer: ". . . . Das Buch X, das einigermaßen allgemeines Interesse
beanspruchen kann, wenn es uns auch den Philosophen in der wenig schönen
Stellung eines ziemlich einseitigen Fanatikers zeigt und in seiner fast katholischen
Verfolgung aller "Ungläubigen" geradezu deu Geist mittelalterlicher Ketzerrichter
atmet." -- Dreist und falsch! Wer Plato liest, sollte über den Konfessionen
stehen. .Fast katholisch' -- da ist ganz katholisch wohl eine Schande? Es
ist ja richtig, daß der Katholizismus Plato unendlich viel entnommen hat, aber
Plato bedeutet in Hellas nicht, was in unserer Entwicklung der mittelalterliche
Katholizismus bedeutet. Seiner Verurteilung des Atheismus in den Gesetzen
müßte vielmehr Rousseaus Staatsideal angeglichen werden, welcher in seinem
LontrÄt 8vLial IV die Ablehnung der Stantsreligion mit Verbannung, das
Vergehen trotz des Bekenntnisses mit dem Tode bedroht. Rousseau gehört also
auch in Kiefers dunkles Mittelalter. Das Bekenntnis, das Plato in den Gesetzen
fordert, ist, wenn man den philosophischen Sinn erfaßt, sehr weitherzig; jeder,
der nicht extremer Materialist ist, also heute fast alle Philosophen, könnten sich
dazu bekennen.

Zum Timaios gibt Kiefer Plato den gutgemeinten Ratschlag, er hätte dem
Augenschein mehr trauen sollen (Anm. 85). Vielleicht ist Kiefers Scheu vor
den: dunklen Mittelalter so groß, daß ihm auch die Entdeckung des Kreislaufs
der Erde, die doch dem .Augenschein' widerspricht, unbekannt geblieben ist.
Der Verlag Diederichs hätte Lob verdient, daß er den Timaios, der bei
Schleiermacher und späteren Übersetzern fehlt, aufgenommen hat; aber man sieht
mit Schmerz dies Werk in diesen Händen.




plato für die Gegenwart

Preis end anz, der zweite Übersetzer, übersetzt im Geiste Kaßuers, frei und
bisweilen etwas bequem, aber mit Geschmack und Wärme, wenn er auch die
Bilder der griechischen Sprache nicht immer ausschöpft.

Anders muß Kiefer beurteilt werden, der Kaßners Werk fortsetzte. Die
Art, wie er schon früher Plotins Enneaden dem Publikum zubereitete, bewies
schon seine mangelhafte Selbsteinschätzung. Zu Platos Persönlichkeit hat er kein
Verhältnis; es ist wohl klar, daß für die vorliegende Aufgabe, die Laien zu
Plato zu führen, ein bloß wissender Philologe nicht genügt. Wenn ihm „die
Gesetze" unangenehm waren, dann hätte er auf seine Aufgabe verzichten sollen;
wer als Lehrer vor ein großes Publikum treten will, darf sich nicht mit einem
Wunsche des Verlages entschuldigen. Er entschließt sich mit folgenden:
Stoßseufzer: „. . . . Das Buch X, das einigermaßen allgemeines Interesse
beanspruchen kann, wenn es uns auch den Philosophen in der wenig schönen
Stellung eines ziemlich einseitigen Fanatikers zeigt und in seiner fast katholischen
Verfolgung aller „Ungläubigen" geradezu deu Geist mittelalterlicher Ketzerrichter
atmet." — Dreist und falsch! Wer Plato liest, sollte über den Konfessionen
stehen. .Fast katholisch' — da ist ganz katholisch wohl eine Schande? Es
ist ja richtig, daß der Katholizismus Plato unendlich viel entnommen hat, aber
Plato bedeutet in Hellas nicht, was in unserer Entwicklung der mittelalterliche
Katholizismus bedeutet. Seiner Verurteilung des Atheismus in den Gesetzen
müßte vielmehr Rousseaus Staatsideal angeglichen werden, welcher in seinem
LontrÄt 8vLial IV die Ablehnung der Stantsreligion mit Verbannung, das
Vergehen trotz des Bekenntnisses mit dem Tode bedroht. Rousseau gehört also
auch in Kiefers dunkles Mittelalter. Das Bekenntnis, das Plato in den Gesetzen
fordert, ist, wenn man den philosophischen Sinn erfaßt, sehr weitherzig; jeder,
der nicht extremer Materialist ist, also heute fast alle Philosophen, könnten sich
dazu bekennen.

Zum Timaios gibt Kiefer Plato den gutgemeinten Ratschlag, er hätte dem
Augenschein mehr trauen sollen (Anm. 85). Vielleicht ist Kiefers Scheu vor
den: dunklen Mittelalter so groß, daß ihm auch die Entdeckung des Kreislaufs
der Erde, die doch dem .Augenschein' widerspricht, unbekannt geblieben ist.
Der Verlag Diederichs hätte Lob verdient, daß er den Timaios, der bei
Schleiermacher und späteren Übersetzern fehlt, aufgenommen hat; aber man sieht
mit Schmerz dies Werk in diesen Händen.




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[0467] plato für die Gegenwart Preis end anz, der zweite Übersetzer, übersetzt im Geiste Kaßuers, frei und bisweilen etwas bequem, aber mit Geschmack und Wärme, wenn er auch die Bilder der griechischen Sprache nicht immer ausschöpft. Anders muß Kiefer beurteilt werden, der Kaßners Werk fortsetzte. Die Art, wie er schon früher Plotins Enneaden dem Publikum zubereitete, bewies schon seine mangelhafte Selbsteinschätzung. Zu Platos Persönlichkeit hat er kein Verhältnis; es ist wohl klar, daß für die vorliegende Aufgabe, die Laien zu Plato zu führen, ein bloß wissender Philologe nicht genügt. Wenn ihm „die Gesetze" unangenehm waren, dann hätte er auf seine Aufgabe verzichten sollen; wer als Lehrer vor ein großes Publikum treten will, darf sich nicht mit einem Wunsche des Verlages entschuldigen. Er entschließt sich mit folgenden: Stoßseufzer: „. . . . Das Buch X, das einigermaßen allgemeines Interesse beanspruchen kann, wenn es uns auch den Philosophen in der wenig schönen Stellung eines ziemlich einseitigen Fanatikers zeigt und in seiner fast katholischen Verfolgung aller „Ungläubigen" geradezu deu Geist mittelalterlicher Ketzerrichter atmet." — Dreist und falsch! Wer Plato liest, sollte über den Konfessionen stehen. .Fast katholisch' — da ist ganz katholisch wohl eine Schande? Es ist ja richtig, daß der Katholizismus Plato unendlich viel entnommen hat, aber Plato bedeutet in Hellas nicht, was in unserer Entwicklung der mittelalterliche Katholizismus bedeutet. Seiner Verurteilung des Atheismus in den Gesetzen müßte vielmehr Rousseaus Staatsideal angeglichen werden, welcher in seinem LontrÄt 8vLial IV die Ablehnung der Stantsreligion mit Verbannung, das Vergehen trotz des Bekenntnisses mit dem Tode bedroht. Rousseau gehört also auch in Kiefers dunkles Mittelalter. Das Bekenntnis, das Plato in den Gesetzen fordert, ist, wenn man den philosophischen Sinn erfaßt, sehr weitherzig; jeder, der nicht extremer Materialist ist, also heute fast alle Philosophen, könnten sich dazu bekennen. Zum Timaios gibt Kiefer Plato den gutgemeinten Ratschlag, er hätte dem Augenschein mehr trauen sollen (Anm. 85). Vielleicht ist Kiefers Scheu vor den: dunklen Mittelalter so groß, daß ihm auch die Entdeckung des Kreislaufs der Erde, die doch dem .Augenschein' widerspricht, unbekannt geblieben ist. Der Verlag Diederichs hätte Lob verdient, daß er den Timaios, der bei Schleiermacher und späteren Übersetzern fehlt, aufgenommen hat; aber man sieht mit Schmerz dies Werk in diesen Händen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/467>, abgerufen am 18.05.2024.