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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Die Lage des Deutschtums in Galizien

Landestreu zum Verkauf ausgeboten wurden. Tatsächlich erschienen nun zahl¬
reiche Käufer, die überraschend hohe Preise boten; es fand ein förmlicher Sturm
auf die deutschen Bauerngüter statt*). Fast die Hälfte gelangte in nichtdeutschen
Besitz. Nun zogen die Deutschen nach Posen; aber nur zwei oder drei
Familien blieben dort, achtundzwanzig gingen nach Kanada. Landestreu
ist jetzt über ein Drittel mit Masuren besetzt, die Widerstandskraft einer der
besten Kolonien geschwächt. Zu den Mitteln der Agitatoren gehörte
ferner die Drohung, der Hauptvorstand des Gustav-Adolf-Vereins habe
beschlossen, den galizischen Gemeinden keine Unterstützung mehr zukommen
zu lassen. Das erregte bei vielen große Besorgnis und machte sie zur Aus¬
wanderung willfährig. So kam es, daß 1900 bis 1903 eine große Zahl von
Teutschen aus Galizien auswanderte; ihre genaue Zahl läßt sich nicht angeben, denn
nur für die evangelischen Gemeinden liegen einige Angaben vor. Die Zahl
ihrer Bewohner hat sich trotz eines 50prozcntigen Überschusses der Geburts-
über die Todesfälle allein im Jahre 1902 um 768 und im Jahre 1903 um
1459 Seelen vermindert. Dieser starke Rückgang bewog die Superintendentur,
für den 6. Oktober 1903 eine Versammlung der Vertrauensmänner der evan¬
gelischen Gemeinden Galiziens zur Besprechung der Auswanderungsfragen zu
veranlassen. An dieser nahmen hundertdreißig Geistliche, Lehrer, Presbyter und
Gemeindevertreter teil. Auch die dreiPfarrer, die an den zwei großen Besichtigungs¬
reisen nach Posen, deren Kosten die Ansiedlungskommission trug, teilgenommen
hatten, erschienen in der Versammlung, um ihre Eindrücke und Erfahrungen
mitzuteilen. Diese faßte als Antwort auf die Aufforderung, die Auswanderung
der gesamten deutsch-evangelischen Bevölkerung nach Posen zu betreiben, trotz
aller Anerbietungen den einstimmigen Beschluß, gegenüber der Auswanderung
grundsätzlich eine ablehnende Stellung einzunehmen und an alle Gemeinden den
Aufruf zu richten, sich vor übereilter Auswanderung zu hüten. In ihrer
"Kundgebung" erklärten die Versammelten auch, daß sie "bei aller Anerkennung
für die guten Absichten der hinter der Auswanderungsagitation stehenden Kreise
doch die Form, in welcher diese Aufforderung an die galizischen evangelischen
Deutschen gebracht ist, nur auf das lebhafteste bedauern können". Zugleich
wählten die Versammelten einen Ausschuß, der die Angelegenheit sofort in
gründliche Behandlung nehmen und mit allen in Betracht kommenden Organen.
Behörden und Vereinen in Verhandlung treten, auch die zur Hebung der wirt¬
schaftlichen, nationalen und kirchlichen Notstände erforderlichen Hilfsaktionen ein¬
leiten sollte. An der Spitze dieses Aktionskomitees stand als Vorsitzender der
Superintendent H. Fritsche in Biala und der Pfarrer Th. Zöckler in Stanislau.
Durch Flugblätter und das neu begründete "Evangelische Gemeindeblatt für
Galizien und die Bukowina" wurde aufklärend gewirkt, falsche Behauptungen
abgewehrt, die Kolonisten zum Zusammenhalten und Ausharren ermutigt. Die



*) Überraschend hohe Preise wurden auch in anderen Orten für deutsche Güter gezahlt.
Die Lage des Deutschtums in Galizien

Landestreu zum Verkauf ausgeboten wurden. Tatsächlich erschienen nun zahl¬
reiche Käufer, die überraschend hohe Preise boten; es fand ein förmlicher Sturm
auf die deutschen Bauerngüter statt*). Fast die Hälfte gelangte in nichtdeutschen
Besitz. Nun zogen die Deutschen nach Posen; aber nur zwei oder drei
Familien blieben dort, achtundzwanzig gingen nach Kanada. Landestreu
ist jetzt über ein Drittel mit Masuren besetzt, die Widerstandskraft einer der
besten Kolonien geschwächt. Zu den Mitteln der Agitatoren gehörte
ferner die Drohung, der Hauptvorstand des Gustav-Adolf-Vereins habe
beschlossen, den galizischen Gemeinden keine Unterstützung mehr zukommen
zu lassen. Das erregte bei vielen große Besorgnis und machte sie zur Aus¬
wanderung willfährig. So kam es, daß 1900 bis 1903 eine große Zahl von
Teutschen aus Galizien auswanderte; ihre genaue Zahl läßt sich nicht angeben, denn
nur für die evangelischen Gemeinden liegen einige Angaben vor. Die Zahl
ihrer Bewohner hat sich trotz eines 50prozcntigen Überschusses der Geburts-
über die Todesfälle allein im Jahre 1902 um 768 und im Jahre 1903 um
1459 Seelen vermindert. Dieser starke Rückgang bewog die Superintendentur,
für den 6. Oktober 1903 eine Versammlung der Vertrauensmänner der evan¬
gelischen Gemeinden Galiziens zur Besprechung der Auswanderungsfragen zu
veranlassen. An dieser nahmen hundertdreißig Geistliche, Lehrer, Presbyter und
Gemeindevertreter teil. Auch die dreiPfarrer, die an den zwei großen Besichtigungs¬
reisen nach Posen, deren Kosten die Ansiedlungskommission trug, teilgenommen
hatten, erschienen in der Versammlung, um ihre Eindrücke und Erfahrungen
mitzuteilen. Diese faßte als Antwort auf die Aufforderung, die Auswanderung
der gesamten deutsch-evangelischen Bevölkerung nach Posen zu betreiben, trotz
aller Anerbietungen den einstimmigen Beschluß, gegenüber der Auswanderung
grundsätzlich eine ablehnende Stellung einzunehmen und an alle Gemeinden den
Aufruf zu richten, sich vor übereilter Auswanderung zu hüten. In ihrer
„Kundgebung" erklärten die Versammelten auch, daß sie „bei aller Anerkennung
für die guten Absichten der hinter der Auswanderungsagitation stehenden Kreise
doch die Form, in welcher diese Aufforderung an die galizischen evangelischen
Deutschen gebracht ist, nur auf das lebhafteste bedauern können". Zugleich
wählten die Versammelten einen Ausschuß, der die Angelegenheit sofort in
gründliche Behandlung nehmen und mit allen in Betracht kommenden Organen.
Behörden und Vereinen in Verhandlung treten, auch die zur Hebung der wirt¬
schaftlichen, nationalen und kirchlichen Notstände erforderlichen Hilfsaktionen ein¬
leiten sollte. An der Spitze dieses Aktionskomitees stand als Vorsitzender der
Superintendent H. Fritsche in Biala und der Pfarrer Th. Zöckler in Stanislau.
Durch Flugblätter und das neu begründete „Evangelische Gemeindeblatt für
Galizien und die Bukowina" wurde aufklärend gewirkt, falsche Behauptungen
abgewehrt, die Kolonisten zum Zusammenhalten und Ausharren ermutigt. Die



*) Überraschend hohe Preise wurden auch in anderen Orten für deutsche Güter gezahlt.
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[0585] Die Lage des Deutschtums in Galizien Landestreu zum Verkauf ausgeboten wurden. Tatsächlich erschienen nun zahl¬ reiche Käufer, die überraschend hohe Preise boten; es fand ein förmlicher Sturm auf die deutschen Bauerngüter statt*). Fast die Hälfte gelangte in nichtdeutschen Besitz. Nun zogen die Deutschen nach Posen; aber nur zwei oder drei Familien blieben dort, achtundzwanzig gingen nach Kanada. Landestreu ist jetzt über ein Drittel mit Masuren besetzt, die Widerstandskraft einer der besten Kolonien geschwächt. Zu den Mitteln der Agitatoren gehörte ferner die Drohung, der Hauptvorstand des Gustav-Adolf-Vereins habe beschlossen, den galizischen Gemeinden keine Unterstützung mehr zukommen zu lassen. Das erregte bei vielen große Besorgnis und machte sie zur Aus¬ wanderung willfährig. So kam es, daß 1900 bis 1903 eine große Zahl von Teutschen aus Galizien auswanderte; ihre genaue Zahl läßt sich nicht angeben, denn nur für die evangelischen Gemeinden liegen einige Angaben vor. Die Zahl ihrer Bewohner hat sich trotz eines 50prozcntigen Überschusses der Geburts- über die Todesfälle allein im Jahre 1902 um 768 und im Jahre 1903 um 1459 Seelen vermindert. Dieser starke Rückgang bewog die Superintendentur, für den 6. Oktober 1903 eine Versammlung der Vertrauensmänner der evan¬ gelischen Gemeinden Galiziens zur Besprechung der Auswanderungsfragen zu veranlassen. An dieser nahmen hundertdreißig Geistliche, Lehrer, Presbyter und Gemeindevertreter teil. Auch die dreiPfarrer, die an den zwei großen Besichtigungs¬ reisen nach Posen, deren Kosten die Ansiedlungskommission trug, teilgenommen hatten, erschienen in der Versammlung, um ihre Eindrücke und Erfahrungen mitzuteilen. Diese faßte als Antwort auf die Aufforderung, die Auswanderung der gesamten deutsch-evangelischen Bevölkerung nach Posen zu betreiben, trotz aller Anerbietungen den einstimmigen Beschluß, gegenüber der Auswanderung grundsätzlich eine ablehnende Stellung einzunehmen und an alle Gemeinden den Aufruf zu richten, sich vor übereilter Auswanderung zu hüten. In ihrer „Kundgebung" erklärten die Versammelten auch, daß sie „bei aller Anerkennung für die guten Absichten der hinter der Auswanderungsagitation stehenden Kreise doch die Form, in welcher diese Aufforderung an die galizischen evangelischen Deutschen gebracht ist, nur auf das lebhafteste bedauern können". Zugleich wählten die Versammelten einen Ausschuß, der die Angelegenheit sofort in gründliche Behandlung nehmen und mit allen in Betracht kommenden Organen. Behörden und Vereinen in Verhandlung treten, auch die zur Hebung der wirt¬ schaftlichen, nationalen und kirchlichen Notstände erforderlichen Hilfsaktionen ein¬ leiten sollte. An der Spitze dieses Aktionskomitees stand als Vorsitzender der Superintendent H. Fritsche in Biala und der Pfarrer Th. Zöckler in Stanislau. Durch Flugblätter und das neu begründete „Evangelische Gemeindeblatt für Galizien und die Bukowina" wurde aufklärend gewirkt, falsche Behauptungen abgewehrt, die Kolonisten zum Zusammenhalten und Ausharren ermutigt. Die *) Überraschend hohe Preise wurden auch in anderen Orten für deutsche Güter gezahlt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/585>, abgerufen am 27.05.2024.