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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Marwitz

Entblößt von allen Offizieren, in Flucht und Verwirrung kreuzten die
Eskadronen seinen Weg. Vergebens suchte er sie mit gezogenem Säbel aufzuhalten
und zurückzutreiben. Sein Arm sank gelähmt herab.

"Wo ist der Leutnant Veit?" schrie er sie an. Keiner der kopflosen Reiter
hatte ihn gesehen. Aber noch fühlte Marwitz die beiden Augen anfeuernd auf
sich gerichtet.

Die Reihen der Flüchtlinge durchbrechend ritt er hinüber nach dem Waldes¬
rande, wo französische Kürassiere gegen das letzte Häuflein der preußischen Husaren
wüteten, wo auch der Rest der Offiziere sich gesammelt hatte. Hier lagen Tote
und Verwundete durcheinander aufgetürmt zwischen umgestürzten Geschützen und
zappelnden Pferdeleibern. Marwitz sah nichts von alledem. Nur zwei Fragen
bewegten ihn noch und trieben ihn vorwärts, in das Getümmel hinein: "Werde
ich ihn noch treffen? Wird er mich freigeben aus seinem Bann?"

Da erteilten die Augen selbst ihm Antwort. Irgendwo in der fahlen
Dämmerung glaubte er sie wiederzuerkennen, wie sie starr, glasig und gebrochen
ihn noch immer zu durchbohren suchten.

Von Entsetzen geschüttelt parierte er sein Pferd. Verwundet brach es unter
ihm zusammen.

Ein Offizier half Marwitz wieder auf die Füße, sprach ihm, der sich schwindlig
fühlte, ermunternd zu; es war der Leutnant von Gerlach.

"Wo ist Veit?" fragte Marwitz atemlos.

"Veit? -- Weshalb? -- Der arme Bursch ... ein Degenstoß durch die
Kehle..."

Vorwärts taumelnd, halb besinnungslos drang Marwitz zu Fuß gegen die
anstürmenden Kürassiere vor. Er dachte nicht ans Leben und nicht ans Sterben.
Denken hatte nun für ihn den letzten Sinn verloren. Nur ein Ruf erdröhnte noch
aus wundersamer Tiefe und erfüllte ihn ganz: sich einem sinnlos schönen Nichts
zu weihen, an der Hand eines schwärmenden Mädchens Tänzer und Tänzerin zu
spielen mitten in der verlorenen Schlacht.

Ihn und die Freundin deckte das Getümmel. Beide verschwanden sie fast
im gleichen Augenblick. Weder tot noch lebendig sah man sie jemals wieder.




Marwitz

Entblößt von allen Offizieren, in Flucht und Verwirrung kreuzten die
Eskadronen seinen Weg. Vergebens suchte er sie mit gezogenem Säbel aufzuhalten
und zurückzutreiben. Sein Arm sank gelähmt herab.

„Wo ist der Leutnant Veit?" schrie er sie an. Keiner der kopflosen Reiter
hatte ihn gesehen. Aber noch fühlte Marwitz die beiden Augen anfeuernd auf
sich gerichtet.

Die Reihen der Flüchtlinge durchbrechend ritt er hinüber nach dem Waldes¬
rande, wo französische Kürassiere gegen das letzte Häuflein der preußischen Husaren
wüteten, wo auch der Rest der Offiziere sich gesammelt hatte. Hier lagen Tote
und Verwundete durcheinander aufgetürmt zwischen umgestürzten Geschützen und
zappelnden Pferdeleibern. Marwitz sah nichts von alledem. Nur zwei Fragen
bewegten ihn noch und trieben ihn vorwärts, in das Getümmel hinein: „Werde
ich ihn noch treffen? Wird er mich freigeben aus seinem Bann?"

Da erteilten die Augen selbst ihm Antwort. Irgendwo in der fahlen
Dämmerung glaubte er sie wiederzuerkennen, wie sie starr, glasig und gebrochen
ihn noch immer zu durchbohren suchten.

Von Entsetzen geschüttelt parierte er sein Pferd. Verwundet brach es unter
ihm zusammen.

Ein Offizier half Marwitz wieder auf die Füße, sprach ihm, der sich schwindlig
fühlte, ermunternd zu; es war der Leutnant von Gerlach.

„Wo ist Veit?" fragte Marwitz atemlos.

„Veit? — Weshalb? — Der arme Bursch ... ein Degenstoß durch die
Kehle..."

Vorwärts taumelnd, halb besinnungslos drang Marwitz zu Fuß gegen die
anstürmenden Kürassiere vor. Er dachte nicht ans Leben und nicht ans Sterben.
Denken hatte nun für ihn den letzten Sinn verloren. Nur ein Ruf erdröhnte noch
aus wundersamer Tiefe und erfüllte ihn ganz: sich einem sinnlos schönen Nichts
zu weihen, an der Hand eines schwärmenden Mädchens Tänzer und Tänzerin zu
spielen mitten in der verlorenen Schlacht.

Ihn und die Freundin deckte das Getümmel. Beide verschwanden sie fast
im gleichen Augenblick. Weder tot noch lebendig sah man sie jemals wieder.




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[0644] Marwitz Entblößt von allen Offizieren, in Flucht und Verwirrung kreuzten die Eskadronen seinen Weg. Vergebens suchte er sie mit gezogenem Säbel aufzuhalten und zurückzutreiben. Sein Arm sank gelähmt herab. „Wo ist der Leutnant Veit?" schrie er sie an. Keiner der kopflosen Reiter hatte ihn gesehen. Aber noch fühlte Marwitz die beiden Augen anfeuernd auf sich gerichtet. Die Reihen der Flüchtlinge durchbrechend ritt er hinüber nach dem Waldes¬ rande, wo französische Kürassiere gegen das letzte Häuflein der preußischen Husaren wüteten, wo auch der Rest der Offiziere sich gesammelt hatte. Hier lagen Tote und Verwundete durcheinander aufgetürmt zwischen umgestürzten Geschützen und zappelnden Pferdeleibern. Marwitz sah nichts von alledem. Nur zwei Fragen bewegten ihn noch und trieben ihn vorwärts, in das Getümmel hinein: „Werde ich ihn noch treffen? Wird er mich freigeben aus seinem Bann?" Da erteilten die Augen selbst ihm Antwort. Irgendwo in der fahlen Dämmerung glaubte er sie wiederzuerkennen, wie sie starr, glasig und gebrochen ihn noch immer zu durchbohren suchten. Von Entsetzen geschüttelt parierte er sein Pferd. Verwundet brach es unter ihm zusammen. Ein Offizier half Marwitz wieder auf die Füße, sprach ihm, der sich schwindlig fühlte, ermunternd zu; es war der Leutnant von Gerlach. „Wo ist Veit?" fragte Marwitz atemlos. „Veit? — Weshalb? — Der arme Bursch ... ein Degenstoß durch die Kehle..." Vorwärts taumelnd, halb besinnungslos drang Marwitz zu Fuß gegen die anstürmenden Kürassiere vor. Er dachte nicht ans Leben und nicht ans Sterben. Denken hatte nun für ihn den letzten Sinn verloren. Nur ein Ruf erdröhnte noch aus wundersamer Tiefe und erfüllte ihn ganz: sich einem sinnlos schönen Nichts zu weihen, an der Hand eines schwärmenden Mädchens Tänzer und Tänzerin zu spielen mitten in der verlorenen Schlacht. Ihn und die Freundin deckte das Getümmel. Beide verschwanden sie fast im gleichen Augenblick. Weder tot noch lebendig sah man sie jemals wieder.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/644>, abgerufen am 27.05.2024.