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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Die Krisis in der allislamischen Bewegung

der alten Einheit und Herrlichkeit des islamischen Staats I Kämpfe Schulter an
Schulter wider den Andrang und die Anfeindungen des christlichen Westen!

Tatsächlich erwachte alsbald in allen Teilen der mohammedanischen Welt
neues Leben. In der Türkei verfügten die Muslims vor 1900 etwa über ein
Dutzend Zeitschriften und Zeitungen, wovon nur zwei, der "Jkdam" und
"Sabach", einige Bedeutung hatten; heute ist die Zahl ihrer Organe auf
dreihundertundachtzig gestiegen*). In gleicher Schnelligkeit wuchs plötzlich aus
dem Boden Ägyptens, Persiens, Indiens ein Blätterwald empor, dessen Rauschen
aller Welt das Erwachen des islamischen Geistes verkündete. Nicht minder
lebhaft gestaltete sich die Bewegung für Gründung neuer Schulen und Uni¬
versitäten, die dann wieder Sendboten durch ganz Asien und Afrika schickten,
um für die allislamische Sache Propaganda zu machen. Zum Bau der Hedschas-
bahn flössen die "freiwilligen", in Wirklichkeit vielfach in Form von Kopf¬
steuern erhobenen Gaben aus der ganzen muselmanischen Welt zusammen. Zu
einen: Weltkongreß des Mohammedanertums, der mit größtem Pomp in Szene
gesetzt werden sollte, wurden eifrigst die Vorbereitungen getroffen. Dann kam
die Revolution in Konstantinopel, und für den Allislamismus schien die Zeit
noch kraftvollerer Entwicklung und glückhafterer Blüte gekommen; war doch
anzunehmen, daß die Begeisterung über die errungenen demokratischen Freiheits¬
rechte unter allen Bekennern des islamischen Glaubens neue Tatenlust und
neues Vorwärtsdrängen zu den großen Weltmachtzielen hin rege machen werde.
Und heute? Heute ist es. als ob plötzlich ein Rauhreif auf die Saat des
Allislamismus gefallen wäre. Der Weltkongreß ist schmählich gescheitert. Die
Agitation erlahmt. Abspannung, Einschläferung, Zersetzung statt Hoffnungs-
freudigkeit, Rührigkeit und frischem Einsatz aller Kräfte! Was ist die Ursache
der Krisis?

Die Beantwortung der Frage erfordert die Erledigung einer Vorfrage:
Was ist das Wesen des Allislamismus? Denn merkwürdig -- so viel über die
Bewegung geschrieben wurde, so wenig Klarheit herrscht in der Zeichnung der
grundlegenden Charakterzüge. Eine erste deutsche Autorität wie Hartmann meint,
der Allislamismus habe überhaupt irgendein klar erkanntes Ziel nicht vor sich.
Der englische Fachmann Greenfield sieht in den: Haß gegen das Christentum
das einigende Band und meint, "Europa könne nie genug auf das Gefährliche
im Treiben der Allislamisten aufmerksam gemacht werden". Vambsry stellt als
bewegende Kraft den Geist der Aufklärung hin und bezeichnet den Allislamismus
als "den Versuch, mit Hilfe und Genehmigung der Welt der Mollas, Sofias,
Hodschas eine Reformation des Mohammedanismus herbeizuführen, die ihn von
allen reaktionären Fesseln befreit". Von anderer Seite wird die Bewegung
umgekehrt als eine Macht der Finsternis charakterisiert, die sich gegen den



*) Es sei bei dieser Gelegenheit auf eine kleine Schrift hingewiesen: "Die mohammedanische
Presse und die Propaganda des Islam der Gegenwart". Verlag der deutschen Orient-Mission.
Potsdam 1910.
Die Krisis in der allislamischen Bewegung

der alten Einheit und Herrlichkeit des islamischen Staats I Kämpfe Schulter an
Schulter wider den Andrang und die Anfeindungen des christlichen Westen!

Tatsächlich erwachte alsbald in allen Teilen der mohammedanischen Welt
neues Leben. In der Türkei verfügten die Muslims vor 1900 etwa über ein
Dutzend Zeitschriften und Zeitungen, wovon nur zwei, der „Jkdam" und
„Sabach", einige Bedeutung hatten; heute ist die Zahl ihrer Organe auf
dreihundertundachtzig gestiegen*). In gleicher Schnelligkeit wuchs plötzlich aus
dem Boden Ägyptens, Persiens, Indiens ein Blätterwald empor, dessen Rauschen
aller Welt das Erwachen des islamischen Geistes verkündete. Nicht minder
lebhaft gestaltete sich die Bewegung für Gründung neuer Schulen und Uni¬
versitäten, die dann wieder Sendboten durch ganz Asien und Afrika schickten,
um für die allislamische Sache Propaganda zu machen. Zum Bau der Hedschas-
bahn flössen die „freiwilligen", in Wirklichkeit vielfach in Form von Kopf¬
steuern erhobenen Gaben aus der ganzen muselmanischen Welt zusammen. Zu
einen: Weltkongreß des Mohammedanertums, der mit größtem Pomp in Szene
gesetzt werden sollte, wurden eifrigst die Vorbereitungen getroffen. Dann kam
die Revolution in Konstantinopel, und für den Allislamismus schien die Zeit
noch kraftvollerer Entwicklung und glückhafterer Blüte gekommen; war doch
anzunehmen, daß die Begeisterung über die errungenen demokratischen Freiheits¬
rechte unter allen Bekennern des islamischen Glaubens neue Tatenlust und
neues Vorwärtsdrängen zu den großen Weltmachtzielen hin rege machen werde.
Und heute? Heute ist es. als ob plötzlich ein Rauhreif auf die Saat des
Allislamismus gefallen wäre. Der Weltkongreß ist schmählich gescheitert. Die
Agitation erlahmt. Abspannung, Einschläferung, Zersetzung statt Hoffnungs-
freudigkeit, Rührigkeit und frischem Einsatz aller Kräfte! Was ist die Ursache
der Krisis?

Die Beantwortung der Frage erfordert die Erledigung einer Vorfrage:
Was ist das Wesen des Allislamismus? Denn merkwürdig — so viel über die
Bewegung geschrieben wurde, so wenig Klarheit herrscht in der Zeichnung der
grundlegenden Charakterzüge. Eine erste deutsche Autorität wie Hartmann meint,
der Allislamismus habe überhaupt irgendein klar erkanntes Ziel nicht vor sich.
Der englische Fachmann Greenfield sieht in den: Haß gegen das Christentum
das einigende Band und meint, „Europa könne nie genug auf das Gefährliche
im Treiben der Allislamisten aufmerksam gemacht werden". Vambsry stellt als
bewegende Kraft den Geist der Aufklärung hin und bezeichnet den Allislamismus
als „den Versuch, mit Hilfe und Genehmigung der Welt der Mollas, Sofias,
Hodschas eine Reformation des Mohammedanismus herbeizuführen, die ihn von
allen reaktionären Fesseln befreit". Von anderer Seite wird die Bewegung
umgekehrt als eine Macht der Finsternis charakterisiert, die sich gegen den



*) Es sei bei dieser Gelegenheit auf eine kleine Schrift hingewiesen: „Die mohammedanische
Presse und die Propaganda des Islam der Gegenwart". Verlag der deutschen Orient-Mission.
Potsdam 1910.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/110>, abgerufen am 15.05.2024.