Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Krisis in der allislcnnischen Bewegung

Zusammenschluß aller rechtgläubigen Orden zu einer allislamischen Priester¬
herrschaft mit Ausschluß jeder weltlichen Macht".

Man sieht, die Parteien, die sich zugunsten des Allislamismus einsetzten,
zogen tatsächlich an ganz verschiedenen Stricken und nach abweichenden Rich¬
tungen hin. Hier sollte er Schrittmacher der dynastischen, dort der priester¬
lichen, dort wieder der demokratischen Gewalt sein. Solange in den Haupt¬
sitzen des Mohammedanertums der Absolutismus Herr war, betätigten sich nun
diese Energien zwar antagonistisch, aber doch wieder in gewisser Gebundenheit
und Übereinstimmung als natürliches Gegenspiel der Kräfte eines Organismus,
des islamischen Staats, dessen Grundformen und Lebensprinzipien unverändert
und ungebrochen fortbestanden. Dann aber wurden gerade diese Fundamente
mit gewaltigen Schlägen ebenso in Konstantinopel wie in Teheran umgestürzt.
Der Despotismus hatte der Verfassungsfreiheit zu weichen, und es ist klar,
daß diese Umwälzung der ganzen politischen Ordnung den Allislamismus in
eine schwere Krisis hineinziehen mußte, die seine heutige Lethargie leicht ver¬
ständlich macht. Die Selbstherrlichkeit des Padischah war zerstört und damit
der allislamischen Bewegung der Rückhalt am Khalifat entzogen. Die sieg¬
reichen Jungtürken waren der Freigeisterei verdächtig; mit ihnen konnte kein
gläubiger Muslim paktieren. Der Triumph des Konstitutionalismus bedeutete
zugleich einen Sieg des Nationalismus. Das Losungswort von der Freiheit
und Gleichheit aller wurde nicht eigentlich im bürgerlich-individuellen, sondern
im völkischen und konfessionellen Parteisinn gedeutet; daher war die Verkündung
der Verfassung für all die Nationalitäten, die das türkische Riesenreich umfaßt,
zugleich das Signal, sich für die Erhaltung ihrer Eigenart und Sonderrechte
zu rüsten. So zerbröckelten die Bindemittel, die das lockere allislamische Gefüge
notdürftig zusammengehalten, in eben dem Maß, als die auseinandertreibenden
Kräfte sich verstärkten. In: Rausch der ersten Begeisterung für die universa¬
listischen Einheitsideen hat man sich nicht viel um deren innere Widersprüche
gekümmert; jetzt, da eine rauhe, schicksalsschwere Hand die ganze politische
Konstellation umgekehrt hat, da jeder Nachbar, ängstlich geworden, nur darauf
bedacht ist, sein eigenes Haus sturmfest zu machen, verflüchtigten sich die Ver¬
brüderungsideale wie eine Fata Morgana, die eine leicht erreichbare Oase voll
von herrlichsten Früchten und mit der Labsal sprudelnder Quellen der wege¬
müden Karawane vortäuscht.

Und doch! Wie das Trugbild der Wüste der Spiegel einer Wirklichkeit ist,
so steckt zweifellos im Allislamismus ein lebenskräftiges Prinzip, das sich in
irgendeiner Form durchsetzen und für dessen Verwirklichung nach der heutigen
Ernüchterung, nach einsichtigerer Abwägung von Hoffnungen und Möglichkeiten,
Ideen und Wirklichkeiten der Kampf mit neuem Eifer aufgenommen werden
wird. Die Linien dieses Entwicklungsganges lassen sich schon heute, wenn auch
nur schwach und schattenhaft, erkennen. Das Jungtürkentum hat nach der
Gegenrevolution eingesehen, daß der Islam trotz den Einströmungen liberaler


Die Krisis in der allislcnnischen Bewegung

Zusammenschluß aller rechtgläubigen Orden zu einer allislamischen Priester¬
herrschaft mit Ausschluß jeder weltlichen Macht".

Man sieht, die Parteien, die sich zugunsten des Allislamismus einsetzten,
zogen tatsächlich an ganz verschiedenen Stricken und nach abweichenden Rich¬
tungen hin. Hier sollte er Schrittmacher der dynastischen, dort der priester¬
lichen, dort wieder der demokratischen Gewalt sein. Solange in den Haupt¬
sitzen des Mohammedanertums der Absolutismus Herr war, betätigten sich nun
diese Energien zwar antagonistisch, aber doch wieder in gewisser Gebundenheit
und Übereinstimmung als natürliches Gegenspiel der Kräfte eines Organismus,
des islamischen Staats, dessen Grundformen und Lebensprinzipien unverändert
und ungebrochen fortbestanden. Dann aber wurden gerade diese Fundamente
mit gewaltigen Schlägen ebenso in Konstantinopel wie in Teheran umgestürzt.
Der Despotismus hatte der Verfassungsfreiheit zu weichen, und es ist klar,
daß diese Umwälzung der ganzen politischen Ordnung den Allislamismus in
eine schwere Krisis hineinziehen mußte, die seine heutige Lethargie leicht ver¬
ständlich macht. Die Selbstherrlichkeit des Padischah war zerstört und damit
der allislamischen Bewegung der Rückhalt am Khalifat entzogen. Die sieg¬
reichen Jungtürken waren der Freigeisterei verdächtig; mit ihnen konnte kein
gläubiger Muslim paktieren. Der Triumph des Konstitutionalismus bedeutete
zugleich einen Sieg des Nationalismus. Das Losungswort von der Freiheit
und Gleichheit aller wurde nicht eigentlich im bürgerlich-individuellen, sondern
im völkischen und konfessionellen Parteisinn gedeutet; daher war die Verkündung
der Verfassung für all die Nationalitäten, die das türkische Riesenreich umfaßt,
zugleich das Signal, sich für die Erhaltung ihrer Eigenart und Sonderrechte
zu rüsten. So zerbröckelten die Bindemittel, die das lockere allislamische Gefüge
notdürftig zusammengehalten, in eben dem Maß, als die auseinandertreibenden
Kräfte sich verstärkten. In: Rausch der ersten Begeisterung für die universa¬
listischen Einheitsideen hat man sich nicht viel um deren innere Widersprüche
gekümmert; jetzt, da eine rauhe, schicksalsschwere Hand die ganze politische
Konstellation umgekehrt hat, da jeder Nachbar, ängstlich geworden, nur darauf
bedacht ist, sein eigenes Haus sturmfest zu machen, verflüchtigten sich die Ver¬
brüderungsideale wie eine Fata Morgana, die eine leicht erreichbare Oase voll
von herrlichsten Früchten und mit der Labsal sprudelnder Quellen der wege¬
müden Karawane vortäuscht.

Und doch! Wie das Trugbild der Wüste der Spiegel einer Wirklichkeit ist,
so steckt zweifellos im Allislamismus ein lebenskräftiges Prinzip, das sich in
irgendeiner Form durchsetzen und für dessen Verwirklichung nach der heutigen
Ernüchterung, nach einsichtigerer Abwägung von Hoffnungen und Möglichkeiten,
Ideen und Wirklichkeiten der Kampf mit neuem Eifer aufgenommen werden
wird. Die Linien dieses Entwicklungsganges lassen sich schon heute, wenn auch
nur schwach und schattenhaft, erkennen. Das Jungtürkentum hat nach der
Gegenrevolution eingesehen, daß der Islam trotz den Einströmungen liberaler


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0113" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317064"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Krisis in der allislcnnischen Bewegung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_432" prev="#ID_431"> Zusammenschluß aller rechtgläubigen Orden zu einer allislamischen Priester¬<lb/>
herrschaft mit Ausschluß jeder weltlichen Macht".</p><lb/>
          <p xml:id="ID_433"> Man sieht, die Parteien, die sich zugunsten des Allislamismus einsetzten,<lb/>
zogen tatsächlich an ganz verschiedenen Stricken und nach abweichenden Rich¬<lb/>
tungen hin. Hier sollte er Schrittmacher der dynastischen, dort der priester¬<lb/>
lichen, dort wieder der demokratischen Gewalt sein. Solange in den Haupt¬<lb/>
sitzen des Mohammedanertums der Absolutismus Herr war, betätigten sich nun<lb/>
diese Energien zwar antagonistisch, aber doch wieder in gewisser Gebundenheit<lb/>
und Übereinstimmung als natürliches Gegenspiel der Kräfte eines Organismus,<lb/>
des islamischen Staats, dessen Grundformen und Lebensprinzipien unverändert<lb/>
und ungebrochen fortbestanden. Dann aber wurden gerade diese Fundamente<lb/>
mit gewaltigen Schlägen ebenso in Konstantinopel wie in Teheran umgestürzt.<lb/>
Der Despotismus hatte der Verfassungsfreiheit zu weichen, und es ist klar,<lb/>
daß diese Umwälzung der ganzen politischen Ordnung den Allislamismus in<lb/>
eine schwere Krisis hineinziehen mußte, die seine heutige Lethargie leicht ver¬<lb/>
ständlich macht. Die Selbstherrlichkeit des Padischah war zerstört und damit<lb/>
der allislamischen Bewegung der Rückhalt am Khalifat entzogen. Die sieg¬<lb/>
reichen Jungtürken waren der Freigeisterei verdächtig; mit ihnen konnte kein<lb/>
gläubiger Muslim paktieren. Der Triumph des Konstitutionalismus bedeutete<lb/>
zugleich einen Sieg des Nationalismus. Das Losungswort von der Freiheit<lb/>
und Gleichheit aller wurde nicht eigentlich im bürgerlich-individuellen, sondern<lb/>
im völkischen und konfessionellen Parteisinn gedeutet; daher war die Verkündung<lb/>
der Verfassung für all die Nationalitäten, die das türkische Riesenreich umfaßt,<lb/>
zugleich das Signal, sich für die Erhaltung ihrer Eigenart und Sonderrechte<lb/>
zu rüsten. So zerbröckelten die Bindemittel, die das lockere allislamische Gefüge<lb/>
notdürftig zusammengehalten, in eben dem Maß, als die auseinandertreibenden<lb/>
Kräfte sich verstärkten. In: Rausch der ersten Begeisterung für die universa¬<lb/>
listischen Einheitsideen hat man sich nicht viel um deren innere Widersprüche<lb/>
gekümmert; jetzt, da eine rauhe, schicksalsschwere Hand die ganze politische<lb/>
Konstellation umgekehrt hat, da jeder Nachbar, ängstlich geworden, nur darauf<lb/>
bedacht ist, sein eigenes Haus sturmfest zu machen, verflüchtigten sich die Ver¬<lb/>
brüderungsideale wie eine Fata Morgana, die eine leicht erreichbare Oase voll<lb/>
von herrlichsten Früchten und mit der Labsal sprudelnder Quellen der wege¬<lb/>
müden Karawane vortäuscht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_434" next="#ID_435"> Und doch! Wie das Trugbild der Wüste der Spiegel einer Wirklichkeit ist,<lb/>
so steckt zweifellos im Allislamismus ein lebenskräftiges Prinzip, das sich in<lb/>
irgendeiner Form durchsetzen und für dessen Verwirklichung nach der heutigen<lb/>
Ernüchterung, nach einsichtigerer Abwägung von Hoffnungen und Möglichkeiten,<lb/>
Ideen und Wirklichkeiten der Kampf mit neuem Eifer aufgenommen werden<lb/>
wird. Die Linien dieses Entwicklungsganges lassen sich schon heute, wenn auch<lb/>
nur schwach und schattenhaft, erkennen. Das Jungtürkentum hat nach der<lb/>
Gegenrevolution eingesehen, daß der Islam trotz den Einströmungen liberaler</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0113] Die Krisis in der allislcnnischen Bewegung Zusammenschluß aller rechtgläubigen Orden zu einer allislamischen Priester¬ herrschaft mit Ausschluß jeder weltlichen Macht". Man sieht, die Parteien, die sich zugunsten des Allislamismus einsetzten, zogen tatsächlich an ganz verschiedenen Stricken und nach abweichenden Rich¬ tungen hin. Hier sollte er Schrittmacher der dynastischen, dort der priester¬ lichen, dort wieder der demokratischen Gewalt sein. Solange in den Haupt¬ sitzen des Mohammedanertums der Absolutismus Herr war, betätigten sich nun diese Energien zwar antagonistisch, aber doch wieder in gewisser Gebundenheit und Übereinstimmung als natürliches Gegenspiel der Kräfte eines Organismus, des islamischen Staats, dessen Grundformen und Lebensprinzipien unverändert und ungebrochen fortbestanden. Dann aber wurden gerade diese Fundamente mit gewaltigen Schlägen ebenso in Konstantinopel wie in Teheran umgestürzt. Der Despotismus hatte der Verfassungsfreiheit zu weichen, und es ist klar, daß diese Umwälzung der ganzen politischen Ordnung den Allislamismus in eine schwere Krisis hineinziehen mußte, die seine heutige Lethargie leicht ver¬ ständlich macht. Die Selbstherrlichkeit des Padischah war zerstört und damit der allislamischen Bewegung der Rückhalt am Khalifat entzogen. Die sieg¬ reichen Jungtürken waren der Freigeisterei verdächtig; mit ihnen konnte kein gläubiger Muslim paktieren. Der Triumph des Konstitutionalismus bedeutete zugleich einen Sieg des Nationalismus. Das Losungswort von der Freiheit und Gleichheit aller wurde nicht eigentlich im bürgerlich-individuellen, sondern im völkischen und konfessionellen Parteisinn gedeutet; daher war die Verkündung der Verfassung für all die Nationalitäten, die das türkische Riesenreich umfaßt, zugleich das Signal, sich für die Erhaltung ihrer Eigenart und Sonderrechte zu rüsten. So zerbröckelten die Bindemittel, die das lockere allislamische Gefüge notdürftig zusammengehalten, in eben dem Maß, als die auseinandertreibenden Kräfte sich verstärkten. In: Rausch der ersten Begeisterung für die universa¬ listischen Einheitsideen hat man sich nicht viel um deren innere Widersprüche gekümmert; jetzt, da eine rauhe, schicksalsschwere Hand die ganze politische Konstellation umgekehrt hat, da jeder Nachbar, ängstlich geworden, nur darauf bedacht ist, sein eigenes Haus sturmfest zu machen, verflüchtigten sich die Ver¬ brüderungsideale wie eine Fata Morgana, die eine leicht erreichbare Oase voll von herrlichsten Früchten und mit der Labsal sprudelnder Quellen der wege¬ müden Karawane vortäuscht. Und doch! Wie das Trugbild der Wüste der Spiegel einer Wirklichkeit ist, so steckt zweifellos im Allislamismus ein lebenskräftiges Prinzip, das sich in irgendeiner Form durchsetzen und für dessen Verwirklichung nach der heutigen Ernüchterung, nach einsichtigerer Abwägung von Hoffnungen und Möglichkeiten, Ideen und Wirklichkeiten der Kampf mit neuem Eifer aufgenommen werden wird. Die Linien dieses Entwicklungsganges lassen sich schon heute, wenn auch nur schwach und schattenhaft, erkennen. Das Jungtürkentum hat nach der Gegenrevolution eingesehen, daß der Islam trotz den Einströmungen liberaler

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/113
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/113>, abgerufen am 10.06.2024.