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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Die Verwertung der Staatsarchive in Preußen

setzte. Nach den: Ableben von Deluns-Montant wurde Joseph Reinach das
Präsidium der Kommission übertragen; er wurde beauftragt, das große Urkunden¬
werk der französischen Republik: "Die diplomatischen Ursachen des Krieges von
1870/71", herauszugeben. Der im Sommer dieses Jahres erschienene erste
Band umfaßt nicht ganz zwei Monate (24. Dezember 1863 bis 21. Februar
1864) und enthält 275 diplomatische Aktenstücke. Da das Werk einen
Zeitraum von sieben bis acht Jahren zu schildern hat, kann man sich
von dein Umfange und der Bedeutung desselben annähernd einen Begriff
machen.

Das Werk wird in bezug auf die Benutzung der Staatsarchive unzweifel¬
haft eine Revolution verursachen. Statt Privaten die Erlaubnis zur Heraus¬
gabe der Staatsakten zu erteilen, nimmt der auswärtige Minister die Arbeit
gewissermaßen selbst in die Hand; er unternimmt die Aufgabe im größten
Stil, die er bisher in bezug auf einzelne diplomatische Spezialfragen in der
Form der den Parlamenten vorgelegten Blau-, Gelb- und Weißbücher
gelöst hatte.

In dem Berichte des Ministers, der dem ersten Bande des großen fran¬
zösischen Urkundenwerkes beigefügt ist, wird der Hoffnung Ausdruck gegeben,
daß auch andere Regierungen nicht mehr mit der Veröffentlichung ihrer auf die
diplomatische Ursache des Krieges von 1870/71 bezüglichen Dokumente zurück¬
halten möchten. Und der Deputierte Reinach erklärt ergänzend, daß Frankreich
dabei vor allem die deutsche Regierung und das Berliner Archiv im Auge habe;
besonders reizen ihn die 1870 in dem Schlosse Cer?ay von einer Abteilung
mecklenburgischer Jäger erbeuteten Rouherschen Papiere, die nicht einmal Sybel
einsehen durfte. Weiterhin möchte Reinach eine Veröffentlichung der gesamten,
die Ursachen des Krieges 1870/71 umfassenden Korrespondenz Bismarcks mit
dem Könige und seinen Vertretern im Auslande bewirken; er legt die Sache
der deutschen Regierung recht warm ans Herz: "Sie haben in Deutschland eine
große Zahl Denkmäler aus Erz und aus Stein dem Ruhme Bismarcks geweiht.
Alle diese Monumente zusammengenommen dürften aber für seinen geschicht¬
lichen Nachruhm nicht die Bedeutung haben, die die Gesamtveröffentlichung
seiner Depeschen haben wird. Das papierne Monument will jetzt errichtet
werden! Im historischen Interesse möchte ich recht bald die deutsche Negierung
für die Zeit von 1863 bis 1870 tun sehen, was die französische Regierung
für sie zu tun im Zuge ist."

Ich glaube, die Erfüllung des Reinachschen Wunsches liegt in weiter Ferne.
Die deutsche Regierung wird vielmehr ruhig abwarten, ob das französische
Urkundenwerk durch tendenziöse Färbung oder Vorbringung von Irrtümern zu
tatsächlichen Berichtigungen herausfordert. Sind solche nötig, so können sie
durch die "norddeutsche Allgemeine Zeitung" gegeben werden, oder in der Form
einer Whandlung, mit deren Abfassung ein der Regierung nahestehender Schrift¬
steller betraut wird.


Grenzboten IV 1910 22
Die Verwertung der Staatsarchive in Preußen

setzte. Nach den: Ableben von Deluns-Montant wurde Joseph Reinach das
Präsidium der Kommission übertragen; er wurde beauftragt, das große Urkunden¬
werk der französischen Republik: „Die diplomatischen Ursachen des Krieges von
1870/71", herauszugeben. Der im Sommer dieses Jahres erschienene erste
Band umfaßt nicht ganz zwei Monate (24. Dezember 1863 bis 21. Februar
1864) und enthält 275 diplomatische Aktenstücke. Da das Werk einen
Zeitraum von sieben bis acht Jahren zu schildern hat, kann man sich
von dein Umfange und der Bedeutung desselben annähernd einen Begriff
machen.

Das Werk wird in bezug auf die Benutzung der Staatsarchive unzweifel¬
haft eine Revolution verursachen. Statt Privaten die Erlaubnis zur Heraus¬
gabe der Staatsakten zu erteilen, nimmt der auswärtige Minister die Arbeit
gewissermaßen selbst in die Hand; er unternimmt die Aufgabe im größten
Stil, die er bisher in bezug auf einzelne diplomatische Spezialfragen in der
Form der den Parlamenten vorgelegten Blau-, Gelb- und Weißbücher
gelöst hatte.

In dem Berichte des Ministers, der dem ersten Bande des großen fran¬
zösischen Urkundenwerkes beigefügt ist, wird der Hoffnung Ausdruck gegeben,
daß auch andere Regierungen nicht mehr mit der Veröffentlichung ihrer auf die
diplomatische Ursache des Krieges von 1870/71 bezüglichen Dokumente zurück¬
halten möchten. Und der Deputierte Reinach erklärt ergänzend, daß Frankreich
dabei vor allem die deutsche Regierung und das Berliner Archiv im Auge habe;
besonders reizen ihn die 1870 in dem Schlosse Cer?ay von einer Abteilung
mecklenburgischer Jäger erbeuteten Rouherschen Papiere, die nicht einmal Sybel
einsehen durfte. Weiterhin möchte Reinach eine Veröffentlichung der gesamten,
die Ursachen des Krieges 1870/71 umfassenden Korrespondenz Bismarcks mit
dem Könige und seinen Vertretern im Auslande bewirken; er legt die Sache
der deutschen Regierung recht warm ans Herz: „Sie haben in Deutschland eine
große Zahl Denkmäler aus Erz und aus Stein dem Ruhme Bismarcks geweiht.
Alle diese Monumente zusammengenommen dürften aber für seinen geschicht¬
lichen Nachruhm nicht die Bedeutung haben, die die Gesamtveröffentlichung
seiner Depeschen haben wird. Das papierne Monument will jetzt errichtet
werden! Im historischen Interesse möchte ich recht bald die deutsche Negierung
für die Zeit von 1863 bis 1870 tun sehen, was die französische Regierung
für sie zu tun im Zuge ist."

Ich glaube, die Erfüllung des Reinachschen Wunsches liegt in weiter Ferne.
Die deutsche Regierung wird vielmehr ruhig abwarten, ob das französische
Urkundenwerk durch tendenziöse Färbung oder Vorbringung von Irrtümern zu
tatsächlichen Berichtigungen herausfordert. Sind solche nötig, so können sie
durch die „norddeutsche Allgemeine Zeitung" gegeben werden, oder in der Form
einer Whandlung, mit deren Abfassung ein der Regierung nahestehender Schrift¬
steller betraut wird.


Grenzboten IV 1910 22
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[0181] Die Verwertung der Staatsarchive in Preußen setzte. Nach den: Ableben von Deluns-Montant wurde Joseph Reinach das Präsidium der Kommission übertragen; er wurde beauftragt, das große Urkunden¬ werk der französischen Republik: „Die diplomatischen Ursachen des Krieges von 1870/71", herauszugeben. Der im Sommer dieses Jahres erschienene erste Band umfaßt nicht ganz zwei Monate (24. Dezember 1863 bis 21. Februar 1864) und enthält 275 diplomatische Aktenstücke. Da das Werk einen Zeitraum von sieben bis acht Jahren zu schildern hat, kann man sich von dein Umfange und der Bedeutung desselben annähernd einen Begriff machen. Das Werk wird in bezug auf die Benutzung der Staatsarchive unzweifel¬ haft eine Revolution verursachen. Statt Privaten die Erlaubnis zur Heraus¬ gabe der Staatsakten zu erteilen, nimmt der auswärtige Minister die Arbeit gewissermaßen selbst in die Hand; er unternimmt die Aufgabe im größten Stil, die er bisher in bezug auf einzelne diplomatische Spezialfragen in der Form der den Parlamenten vorgelegten Blau-, Gelb- und Weißbücher gelöst hatte. In dem Berichte des Ministers, der dem ersten Bande des großen fran¬ zösischen Urkundenwerkes beigefügt ist, wird der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß auch andere Regierungen nicht mehr mit der Veröffentlichung ihrer auf die diplomatische Ursache des Krieges von 1870/71 bezüglichen Dokumente zurück¬ halten möchten. Und der Deputierte Reinach erklärt ergänzend, daß Frankreich dabei vor allem die deutsche Regierung und das Berliner Archiv im Auge habe; besonders reizen ihn die 1870 in dem Schlosse Cer?ay von einer Abteilung mecklenburgischer Jäger erbeuteten Rouherschen Papiere, die nicht einmal Sybel einsehen durfte. Weiterhin möchte Reinach eine Veröffentlichung der gesamten, die Ursachen des Krieges 1870/71 umfassenden Korrespondenz Bismarcks mit dem Könige und seinen Vertretern im Auslande bewirken; er legt die Sache der deutschen Regierung recht warm ans Herz: „Sie haben in Deutschland eine große Zahl Denkmäler aus Erz und aus Stein dem Ruhme Bismarcks geweiht. Alle diese Monumente zusammengenommen dürften aber für seinen geschicht¬ lichen Nachruhm nicht die Bedeutung haben, die die Gesamtveröffentlichung seiner Depeschen haben wird. Das papierne Monument will jetzt errichtet werden! Im historischen Interesse möchte ich recht bald die deutsche Negierung für die Zeit von 1863 bis 1870 tun sehen, was die französische Regierung für sie zu tun im Zuge ist." Ich glaube, die Erfüllung des Reinachschen Wunsches liegt in weiter Ferne. Die deutsche Regierung wird vielmehr ruhig abwarten, ob das französische Urkundenwerk durch tendenziöse Färbung oder Vorbringung von Irrtümern zu tatsächlichen Berichtigungen herausfordert. Sind solche nötig, so können sie durch die „norddeutsche Allgemeine Zeitung" gegeben werden, oder in der Form einer Whandlung, mit deren Abfassung ein der Regierung nahestehender Schrift¬ steller betraut wird. Grenzboten IV 1910 22

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/181>, abgerufen am 29.05.2024.