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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Der Selbstmord, seine Zunahme und die Prävcntivmittcl

herrschen, muß die öffentliche Wohltätigkeit eingreifen; fehlt lokale Arbeits¬
gelegenheit, dann sind öffentliche Unternehmungen in Angriff zu nehmen;
unberechtigte Streiks erheischen Bestrafung. Mehr Sparsamkeit zu Zeiten besseren
Verdienstes wendet viel Not im Proletariat ab. Künstler, Techniker und
Gelehrte, die sich oft mühsam bis zur Anerkennung durchringen müssen, sollten
durch Stiftungen und Fonds reichlicher unterstützt werden. Die Vereinigung
für Mutterschutz wird viele Mütter und besonders uneheliche Schwangere vor
dem Klubs- und Selbstmord bewahren, wenn die Verwandten sich gänzlich von
ihnen lossagen und sie mittellos sich selbst überlassen. Selbstmordkandidaten
werden, bis sie sich beruhigt haben, wie in München in eine Anstalt über
geführt. Geistes- und Gemütskranke, bei denen suspicio suiLiäii vorliegt,
sollten in gut überwachte Heilanstalten gebracht werden. Der Ansteckung durch
Syphilis, die in ihren Endstadien gern Paralyse erzeugt, wird am sichersten
durch sexuelle Abstinenz, die noch niemand geschädigt hat, und Meiden des
Verkehrs mit Prostituierten vorgebeugt. Gelegentlich verschuldet die Bühne bei
wenig kritischen Individuen auf suggestiven Wege oder durch geistiges Kontagium
den Selbstmord, wenn der Selbstmörder in dichterischem Sinne als Held gefeiert
wird. Weit schlimmer wirkt aber in dieser Hinsicht die Tagespresse, die über
alle Selbstmorde und Liebesdramen in allen Einzelheiten das Publikum unter¬
richtet. Ein Dienstmädchen, das von einer Vergiftung mit Lysol oder
Veronal nichts gelesen hat, kommt weniger aus den Gedanken, sich in ungünstiger
Lage damit zu vergiften. Die Mordschundliteratur muß verschwinden, leicht
fühlt sich der unreife Leser in die Empfindungen des Selbstmörders ein und
macht sie zu den seinigen. Die Lektüre von Werken Schopenhauers und
Nietzsches paßt nicht für die kritiklose Jugend. Werthers Leiden erregte längere
Zeit in schwankenden Gemütern das "Wertherfieber".

Den Menschen nur als Produkt unabänderlicher, natürlicher Notwendigkeiten
hinzustellen, ist verkehrt. Die Konstitution bleibt nicht unwandelbar, das Milieu
wechselt. Wer zwingt den einzelnen, wenn er geistig gesund ist, das Verbrechen
zu begehn? Warum sucht das allgemein angenommene Gesetz diesen und nicht
jenen aus, obgleich sie unter gleichen Verhältnissen leben? Vorläufig ist die
Handlungsweise bei Gesunden eine freiwillige und der Selbstmord geistig Gesunder,
deren Zahl die der Psychopathen wesentlich übertrifft, ist von dem der Geistes¬
kranken wohl zu trennen. Moral und Sitte haben den Willen zu beeinflussen,
charakterfeste, den Leidenschaften nicht sklavisch unterworfene Menschen unterliegen
nicht ohne weiteres der Selbstmordneigung. Die Statistik gibt ein Massenbild
und lehrt das Walten eines Naturgesetzes in mancher Hinsicht; die Schwankungen
in der Frequenz und das Sinken der Selbstmordziffer in einzelnen Staaten
beweisen jedoch seine Veränderlichkeit, und viele Ausnahmen werfen ein Gesetz um.




Der Selbstmord, seine Zunahme und die Prävcntivmittcl

herrschen, muß die öffentliche Wohltätigkeit eingreifen; fehlt lokale Arbeits¬
gelegenheit, dann sind öffentliche Unternehmungen in Angriff zu nehmen;
unberechtigte Streiks erheischen Bestrafung. Mehr Sparsamkeit zu Zeiten besseren
Verdienstes wendet viel Not im Proletariat ab. Künstler, Techniker und
Gelehrte, die sich oft mühsam bis zur Anerkennung durchringen müssen, sollten
durch Stiftungen und Fonds reichlicher unterstützt werden. Die Vereinigung
für Mutterschutz wird viele Mütter und besonders uneheliche Schwangere vor
dem Klubs- und Selbstmord bewahren, wenn die Verwandten sich gänzlich von
ihnen lossagen und sie mittellos sich selbst überlassen. Selbstmordkandidaten
werden, bis sie sich beruhigt haben, wie in München in eine Anstalt über
geführt. Geistes- und Gemütskranke, bei denen suspicio suiLiäii vorliegt,
sollten in gut überwachte Heilanstalten gebracht werden. Der Ansteckung durch
Syphilis, die in ihren Endstadien gern Paralyse erzeugt, wird am sichersten
durch sexuelle Abstinenz, die noch niemand geschädigt hat, und Meiden des
Verkehrs mit Prostituierten vorgebeugt. Gelegentlich verschuldet die Bühne bei
wenig kritischen Individuen auf suggestiven Wege oder durch geistiges Kontagium
den Selbstmord, wenn der Selbstmörder in dichterischem Sinne als Held gefeiert
wird. Weit schlimmer wirkt aber in dieser Hinsicht die Tagespresse, die über
alle Selbstmorde und Liebesdramen in allen Einzelheiten das Publikum unter¬
richtet. Ein Dienstmädchen, das von einer Vergiftung mit Lysol oder
Veronal nichts gelesen hat, kommt weniger aus den Gedanken, sich in ungünstiger
Lage damit zu vergiften. Die Mordschundliteratur muß verschwinden, leicht
fühlt sich der unreife Leser in die Empfindungen des Selbstmörders ein und
macht sie zu den seinigen. Die Lektüre von Werken Schopenhauers und
Nietzsches paßt nicht für die kritiklose Jugend. Werthers Leiden erregte längere
Zeit in schwankenden Gemütern das „Wertherfieber".

Den Menschen nur als Produkt unabänderlicher, natürlicher Notwendigkeiten
hinzustellen, ist verkehrt. Die Konstitution bleibt nicht unwandelbar, das Milieu
wechselt. Wer zwingt den einzelnen, wenn er geistig gesund ist, das Verbrechen
zu begehn? Warum sucht das allgemein angenommene Gesetz diesen und nicht
jenen aus, obgleich sie unter gleichen Verhältnissen leben? Vorläufig ist die
Handlungsweise bei Gesunden eine freiwillige und der Selbstmord geistig Gesunder,
deren Zahl die der Psychopathen wesentlich übertrifft, ist von dem der Geistes¬
kranken wohl zu trennen. Moral und Sitte haben den Willen zu beeinflussen,
charakterfeste, den Leidenschaften nicht sklavisch unterworfene Menschen unterliegen
nicht ohne weiteres der Selbstmordneigung. Die Statistik gibt ein Massenbild
und lehrt das Walten eines Naturgesetzes in mancher Hinsicht; die Schwankungen
in der Frequenz und das Sinken der Selbstmordziffer in einzelnen Staaten
beweisen jedoch seine Veränderlichkeit, und viele Ausnahmen werfen ein Gesetz um.




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[0226] Der Selbstmord, seine Zunahme und die Prävcntivmittcl herrschen, muß die öffentliche Wohltätigkeit eingreifen; fehlt lokale Arbeits¬ gelegenheit, dann sind öffentliche Unternehmungen in Angriff zu nehmen; unberechtigte Streiks erheischen Bestrafung. Mehr Sparsamkeit zu Zeiten besseren Verdienstes wendet viel Not im Proletariat ab. Künstler, Techniker und Gelehrte, die sich oft mühsam bis zur Anerkennung durchringen müssen, sollten durch Stiftungen und Fonds reichlicher unterstützt werden. Die Vereinigung für Mutterschutz wird viele Mütter und besonders uneheliche Schwangere vor dem Klubs- und Selbstmord bewahren, wenn die Verwandten sich gänzlich von ihnen lossagen und sie mittellos sich selbst überlassen. Selbstmordkandidaten werden, bis sie sich beruhigt haben, wie in München in eine Anstalt über geführt. Geistes- und Gemütskranke, bei denen suspicio suiLiäii vorliegt, sollten in gut überwachte Heilanstalten gebracht werden. Der Ansteckung durch Syphilis, die in ihren Endstadien gern Paralyse erzeugt, wird am sichersten durch sexuelle Abstinenz, die noch niemand geschädigt hat, und Meiden des Verkehrs mit Prostituierten vorgebeugt. Gelegentlich verschuldet die Bühne bei wenig kritischen Individuen auf suggestiven Wege oder durch geistiges Kontagium den Selbstmord, wenn der Selbstmörder in dichterischem Sinne als Held gefeiert wird. Weit schlimmer wirkt aber in dieser Hinsicht die Tagespresse, die über alle Selbstmorde und Liebesdramen in allen Einzelheiten das Publikum unter¬ richtet. Ein Dienstmädchen, das von einer Vergiftung mit Lysol oder Veronal nichts gelesen hat, kommt weniger aus den Gedanken, sich in ungünstiger Lage damit zu vergiften. Die Mordschundliteratur muß verschwinden, leicht fühlt sich der unreife Leser in die Empfindungen des Selbstmörders ein und macht sie zu den seinigen. Die Lektüre von Werken Schopenhauers und Nietzsches paßt nicht für die kritiklose Jugend. Werthers Leiden erregte längere Zeit in schwankenden Gemütern das „Wertherfieber". Den Menschen nur als Produkt unabänderlicher, natürlicher Notwendigkeiten hinzustellen, ist verkehrt. Die Konstitution bleibt nicht unwandelbar, das Milieu wechselt. Wer zwingt den einzelnen, wenn er geistig gesund ist, das Verbrechen zu begehn? Warum sucht das allgemein angenommene Gesetz diesen und nicht jenen aus, obgleich sie unter gleichen Verhältnissen leben? Vorläufig ist die Handlungsweise bei Gesunden eine freiwillige und der Selbstmord geistig Gesunder, deren Zahl die der Psychopathen wesentlich übertrifft, ist von dem der Geistes¬ kranken wohl zu trennen. Moral und Sitte haben den Willen zu beeinflussen, charakterfeste, den Leidenschaften nicht sklavisch unterworfene Menschen unterliegen nicht ohne weiteres der Selbstmordneigung. Die Statistik gibt ein Massenbild und lehrt das Walten eines Naturgesetzes in mancher Hinsicht; die Schwankungen in der Frequenz und das Sinken der Selbstmordziffer in einzelnen Staaten beweisen jedoch seine Veränderlichkeit, und viele Ausnahmen werfen ein Gesetz um.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/226>, abgerufen am 15.05.2024.