Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Unfug des Sterbens

solcher Elemente, die, wie die Meinung der Welt oder manchmal sogar wie ein
niedriger dienender Geist, es verstehen, höher stehende Persönlichkeiten ohne
Selbstvertrauen in Abhängigkeit zu halten.

Jede Furcht führt zur Abhängigkeit und zur Sklaverei. Im Gegensatz zur
Glaubenskraft löst sie Schwäche und Unordnung aus, die als Resultat wieder
Angst und dadurch in ewiger Wechselwirkung einen unendlichen Kreis der
Erniedrigung um uns zieht. Enttäuschungen nachgehen, an Schicksalsschläge
glauben bricht die Energie und bereitet dadurch in der Tat Unglücksfälle vor. --
Im Bewußtsein, daß wir alle, daß jedes Atom in und um uns ein Teil des
Weltalls ist, befreien wir uns von dem Gespenst der Furcht.

Auch die Unselbständigkeit zielloser Menschen ist wie üble Laune eine
Krankheit des Geistes und führt zu dauernder geistiger Krankheit und zum
Krankenlager für den Körper. Das Schicksal, dem wir uns vertrauensvoll über¬
lassen, formt meist unmerklich die Wege des Lebens dem eigenen Bilde ent¬
sprechend. Durch geistige Depression bildet sich ein schädlicher mentaler Kreis,
der unsere Hoffnungen paralysiert. Tatenlust braucht eine optimistische Geistes¬
richtung, lichte, lebhafte Gedaukenströme, die siegende Kraft auslösen. Durch
unsere Stimmung wird um uns eine Atmosphäre gebildet, die anzieht oder
abstößt.

Nie fürchte man Verantwortung zu übernehmen, sonst bleibt man der
schlecht bezahlte Handlanger solcher, die wagen. Für jedes Wagnis aber kann
man die Verantwortung tragen, wenn man ohne Unruhe den Erfolg erwartet,
die Gedankenkraft in fruchtbringender Art anlegt durch ein Versenken in das
unendliche Bewußtsein durch das Vertrauen in die Güte der Vorsehung. Sie
hilft im kleinen wie im großen, im täglichen Leben wie in den Gesetzen des
Kosmos.

Täglich sollte man die Ansichten des gestrigen Tages überflügeln in der
Erkenntnis der wechselnden und wachsenden Deutung alles Geschehens. Eine
rastlose Psyche verändert zu ihrem Vorteil die Art und Beschaffenheit der Elemente,
die den Körper bilden, und verlängert dadurch das Leben. Ohne neue Nahrung
verliert die Seele die Macht über den Leib.

Hält also Mulford nicht, was er im Titel verspricht, so gibt er doch eine
Fülle praktischer Anregungen, die in unserer Zeit hastigen Lebens doppelt wertvoll
sind. Wir wollen uns keineswegs blindlings diesem amerikanischen Optimismus
ausliefern, der in seinen Folgerungen eine Rücksichtslosigkeit predigt, die bisweilen
über ein tieferes Verständnis achtlos hinwegschreitet. Wir Deutschen wollen doch
über dem Sternenhimmel der Unendlichkeit des Amerikaners die strengere Kritik
Kants und den klugen Pessimismus Schopenhauers nicht vergessen.

Für das praktische Leben ist es gewiß immer gut, wenn wir die Spann¬
kraft unserer Einzelpsyche durch das Gleichnis mit der Allseele erhöhen und
stärken. Aber nicht immer kommen wir mit vagen Begriffen der Urkraft aus,
die die Erscheinungen des Lebens meistern und die Ausstrahlungen der wirkenden


Der Unfug des Sterbens

solcher Elemente, die, wie die Meinung der Welt oder manchmal sogar wie ein
niedriger dienender Geist, es verstehen, höher stehende Persönlichkeiten ohne
Selbstvertrauen in Abhängigkeit zu halten.

Jede Furcht führt zur Abhängigkeit und zur Sklaverei. Im Gegensatz zur
Glaubenskraft löst sie Schwäche und Unordnung aus, die als Resultat wieder
Angst und dadurch in ewiger Wechselwirkung einen unendlichen Kreis der
Erniedrigung um uns zieht. Enttäuschungen nachgehen, an Schicksalsschläge
glauben bricht die Energie und bereitet dadurch in der Tat Unglücksfälle vor. —
Im Bewußtsein, daß wir alle, daß jedes Atom in und um uns ein Teil des
Weltalls ist, befreien wir uns von dem Gespenst der Furcht.

Auch die Unselbständigkeit zielloser Menschen ist wie üble Laune eine
Krankheit des Geistes und führt zu dauernder geistiger Krankheit und zum
Krankenlager für den Körper. Das Schicksal, dem wir uns vertrauensvoll über¬
lassen, formt meist unmerklich die Wege des Lebens dem eigenen Bilde ent¬
sprechend. Durch geistige Depression bildet sich ein schädlicher mentaler Kreis,
der unsere Hoffnungen paralysiert. Tatenlust braucht eine optimistische Geistes¬
richtung, lichte, lebhafte Gedaukenströme, die siegende Kraft auslösen. Durch
unsere Stimmung wird um uns eine Atmosphäre gebildet, die anzieht oder
abstößt.

Nie fürchte man Verantwortung zu übernehmen, sonst bleibt man der
schlecht bezahlte Handlanger solcher, die wagen. Für jedes Wagnis aber kann
man die Verantwortung tragen, wenn man ohne Unruhe den Erfolg erwartet,
die Gedankenkraft in fruchtbringender Art anlegt durch ein Versenken in das
unendliche Bewußtsein durch das Vertrauen in die Güte der Vorsehung. Sie
hilft im kleinen wie im großen, im täglichen Leben wie in den Gesetzen des
Kosmos.

Täglich sollte man die Ansichten des gestrigen Tages überflügeln in der
Erkenntnis der wechselnden und wachsenden Deutung alles Geschehens. Eine
rastlose Psyche verändert zu ihrem Vorteil die Art und Beschaffenheit der Elemente,
die den Körper bilden, und verlängert dadurch das Leben. Ohne neue Nahrung
verliert die Seele die Macht über den Leib.

Hält also Mulford nicht, was er im Titel verspricht, so gibt er doch eine
Fülle praktischer Anregungen, die in unserer Zeit hastigen Lebens doppelt wertvoll
sind. Wir wollen uns keineswegs blindlings diesem amerikanischen Optimismus
ausliefern, der in seinen Folgerungen eine Rücksichtslosigkeit predigt, die bisweilen
über ein tieferes Verständnis achtlos hinwegschreitet. Wir Deutschen wollen doch
über dem Sternenhimmel der Unendlichkeit des Amerikaners die strengere Kritik
Kants und den klugen Pessimismus Schopenhauers nicht vergessen.

Für das praktische Leben ist es gewiß immer gut, wenn wir die Spann¬
kraft unserer Einzelpsyche durch das Gleichnis mit der Allseele erhöhen und
stärken. Aber nicht immer kommen wir mit vagen Begriffen der Urkraft aus,
die die Erscheinungen des Lebens meistern und die Ausstrahlungen der wirkenden


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0298" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317249"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Unfug des Sterbens</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1335" prev="#ID_1334"> solcher Elemente, die, wie die Meinung der Welt oder manchmal sogar wie ein<lb/>
niedriger dienender Geist, es verstehen, höher stehende Persönlichkeiten ohne<lb/>
Selbstvertrauen in Abhängigkeit zu halten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1336"> Jede Furcht führt zur Abhängigkeit und zur Sklaverei. Im Gegensatz zur<lb/>
Glaubenskraft löst sie Schwäche und Unordnung aus, die als Resultat wieder<lb/>
Angst und dadurch in ewiger Wechselwirkung einen unendlichen Kreis der<lb/>
Erniedrigung um uns zieht. Enttäuschungen nachgehen, an Schicksalsschläge<lb/>
glauben bricht die Energie und bereitet dadurch in der Tat Unglücksfälle vor. &#x2014;<lb/>
Im Bewußtsein, daß wir alle, daß jedes Atom in und um uns ein Teil des<lb/>
Weltalls ist, befreien wir uns von dem Gespenst der Furcht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1337"> Auch die Unselbständigkeit zielloser Menschen ist wie üble Laune eine<lb/>
Krankheit des Geistes und führt zu dauernder geistiger Krankheit und zum<lb/>
Krankenlager für den Körper. Das Schicksal, dem wir uns vertrauensvoll über¬<lb/>
lassen, formt meist unmerklich die Wege des Lebens dem eigenen Bilde ent¬<lb/>
sprechend. Durch geistige Depression bildet sich ein schädlicher mentaler Kreis,<lb/>
der unsere Hoffnungen paralysiert. Tatenlust braucht eine optimistische Geistes¬<lb/>
richtung, lichte, lebhafte Gedaukenströme, die siegende Kraft auslösen. Durch<lb/>
unsere Stimmung wird um uns eine Atmosphäre gebildet, die anzieht oder<lb/>
abstößt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1338"> Nie fürchte man Verantwortung zu übernehmen, sonst bleibt man der<lb/>
schlecht bezahlte Handlanger solcher, die wagen. Für jedes Wagnis aber kann<lb/>
man die Verantwortung tragen, wenn man ohne Unruhe den Erfolg erwartet,<lb/>
die Gedankenkraft in fruchtbringender Art anlegt durch ein Versenken in das<lb/>
unendliche Bewußtsein durch das Vertrauen in die Güte der Vorsehung. Sie<lb/>
hilft im kleinen wie im großen, im täglichen Leben wie in den Gesetzen des<lb/>
Kosmos.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1339"> Täglich sollte man die Ansichten des gestrigen Tages überflügeln in der<lb/>
Erkenntnis der wechselnden und wachsenden Deutung alles Geschehens. Eine<lb/>
rastlose Psyche verändert zu ihrem Vorteil die Art und Beschaffenheit der Elemente,<lb/>
die den Körper bilden, und verlängert dadurch das Leben. Ohne neue Nahrung<lb/>
verliert die Seele die Macht über den Leib.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1340"> Hält also Mulford nicht, was er im Titel verspricht, so gibt er doch eine<lb/>
Fülle praktischer Anregungen, die in unserer Zeit hastigen Lebens doppelt wertvoll<lb/>
sind. Wir wollen uns keineswegs blindlings diesem amerikanischen Optimismus<lb/>
ausliefern, der in seinen Folgerungen eine Rücksichtslosigkeit predigt, die bisweilen<lb/>
über ein tieferes Verständnis achtlos hinwegschreitet. Wir Deutschen wollen doch<lb/>
über dem Sternenhimmel der Unendlichkeit des Amerikaners die strengere Kritik<lb/>
Kants und den klugen Pessimismus Schopenhauers nicht vergessen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1341" next="#ID_1342"> Für das praktische Leben ist es gewiß immer gut, wenn wir die Spann¬<lb/>
kraft unserer Einzelpsyche durch das Gleichnis mit der Allseele erhöhen und<lb/>
stärken. Aber nicht immer kommen wir mit vagen Begriffen der Urkraft aus,<lb/>
die die Erscheinungen des Lebens meistern und die Ausstrahlungen der wirkenden</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0298] Der Unfug des Sterbens solcher Elemente, die, wie die Meinung der Welt oder manchmal sogar wie ein niedriger dienender Geist, es verstehen, höher stehende Persönlichkeiten ohne Selbstvertrauen in Abhängigkeit zu halten. Jede Furcht führt zur Abhängigkeit und zur Sklaverei. Im Gegensatz zur Glaubenskraft löst sie Schwäche und Unordnung aus, die als Resultat wieder Angst und dadurch in ewiger Wechselwirkung einen unendlichen Kreis der Erniedrigung um uns zieht. Enttäuschungen nachgehen, an Schicksalsschläge glauben bricht die Energie und bereitet dadurch in der Tat Unglücksfälle vor. — Im Bewußtsein, daß wir alle, daß jedes Atom in und um uns ein Teil des Weltalls ist, befreien wir uns von dem Gespenst der Furcht. Auch die Unselbständigkeit zielloser Menschen ist wie üble Laune eine Krankheit des Geistes und führt zu dauernder geistiger Krankheit und zum Krankenlager für den Körper. Das Schicksal, dem wir uns vertrauensvoll über¬ lassen, formt meist unmerklich die Wege des Lebens dem eigenen Bilde ent¬ sprechend. Durch geistige Depression bildet sich ein schädlicher mentaler Kreis, der unsere Hoffnungen paralysiert. Tatenlust braucht eine optimistische Geistes¬ richtung, lichte, lebhafte Gedaukenströme, die siegende Kraft auslösen. Durch unsere Stimmung wird um uns eine Atmosphäre gebildet, die anzieht oder abstößt. Nie fürchte man Verantwortung zu übernehmen, sonst bleibt man der schlecht bezahlte Handlanger solcher, die wagen. Für jedes Wagnis aber kann man die Verantwortung tragen, wenn man ohne Unruhe den Erfolg erwartet, die Gedankenkraft in fruchtbringender Art anlegt durch ein Versenken in das unendliche Bewußtsein durch das Vertrauen in die Güte der Vorsehung. Sie hilft im kleinen wie im großen, im täglichen Leben wie in den Gesetzen des Kosmos. Täglich sollte man die Ansichten des gestrigen Tages überflügeln in der Erkenntnis der wechselnden und wachsenden Deutung alles Geschehens. Eine rastlose Psyche verändert zu ihrem Vorteil die Art und Beschaffenheit der Elemente, die den Körper bilden, und verlängert dadurch das Leben. Ohne neue Nahrung verliert die Seele die Macht über den Leib. Hält also Mulford nicht, was er im Titel verspricht, so gibt er doch eine Fülle praktischer Anregungen, die in unserer Zeit hastigen Lebens doppelt wertvoll sind. Wir wollen uns keineswegs blindlings diesem amerikanischen Optimismus ausliefern, der in seinen Folgerungen eine Rücksichtslosigkeit predigt, die bisweilen über ein tieferes Verständnis achtlos hinwegschreitet. Wir Deutschen wollen doch über dem Sternenhimmel der Unendlichkeit des Amerikaners die strengere Kritik Kants und den klugen Pessimismus Schopenhauers nicht vergessen. Für das praktische Leben ist es gewiß immer gut, wenn wir die Spann¬ kraft unserer Einzelpsyche durch das Gleichnis mit der Allseele erhöhen und stärken. Aber nicht immer kommen wir mit vagen Begriffen der Urkraft aus, die die Erscheinungen des Lebens meistern und die Ausstrahlungen der wirkenden

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/298
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/298>, abgerufen am 15.05.2024.