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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Biologie n"d Schule

und gar auf Grund von Schülerbeobachtungen und -versuchen keine so einfache
Sache ist. Die aufgestellte Forderung besagt nichts weniger, als daß die durch
Jahrhunderte sich hinziehende Beobachtungs- und Denkarbeit zahlreicher Forscher
in der knappen Unterrichtszeit von den einzelnen Schülern selbsttätig wieder
geleistet werden soll! Das ist natürlich einfach unmöglich. Man übertrage sie
nur einmal in Gedanken auf den Unterricht in der Geschichte. Die Methode
der Geschichtsforschung ist ja dieselbe wie die der naturgeschichtlichen, und bei
beiden handelt es sich um Erforschung des ursächlichen Zusammenhanges der
Erscheinungen und des Fortganges der Entwickelung; warum also nicht auch
hier fordern, daß die ganze Tätigkeit des Lehrers sich darauf zu beschränken
hat, die Schüler anzuleiten, die Dokumente der Geschichte selber aufzufinden,
selber zu prüfen und zu vergleichen und selber die Schlüsse daraus zu ziehen!
-- Ich stelle gewiß nicht in Abrede, daß bei aller grundsätzlichen Überein¬
stimmung der Vergleich des Naturgeschichtsunterrichts mit dem geschichtlichen
nicht vollständig durchzuführen ist. Was dem naturgeschichtlichen seine besondere
Stellung anweist, ist die Tatsache der leichteren Zugänglichkeit vieler natur-
geschichtlicher Einzelerkenntnisse für die unmittelbare Beobachtung. Dem natur¬
geschichtlichen und überhaupt dem naturwissenschaftlichen Unterricht fällt daher
in: Gesamtplan der Schule die Aufgabe der formalen Schulung der Beobachtungs-
fähigkeit zu und der Fähigkeit, von den beobachteten Tatsachen zur logischen
Begriffsbildung, zur systematischen Zusammenfassung und zur Aufstellung all¬
gemeiner Gesetze fortzuschreiten. Das sind Fähigkeiten, die in jeden: künftigen
Spezialfach des Schülers und in jeder praktischen Lebenslage von Nutzen sind.
Aber die induktive Methode ist nur teilweise wirklich durchführbar, wenn sie
nicht zu einem Gaukelspiel ausarten und den Inhalt des Faches auf ein fürs
Leben uubrauchbares Mindermaß herabsetzen soll.

Als einen für die formale Schulung besonders geeigneten Zweig muß ich
neben dem einführenden Unterricht in der Physik und Chemie auf biologischen
Gebiete den morphologisch-systematischen bezeichnen. Während jener in die
Oberstufe fällt, kann dieser auf der Uuterstufe, wo der Sammeltrieb rege ist
und das sachliche Interesse das spekulative noch überwiegt, zu gedachtem Zwecke
wirksam ausgenutzt und zugleich durch das Hilfsmittel des Zeichnens die
Beobachtung verschärft und besser als durch fertige Bilder befestigt werden. Die
vorzugsweise Beschäftigung mit der Gestaltlehre und Systematik in den ersten
Jahren des naturgeschichtlichen Unterrichts entspricht auch dem Entwickelungs¬
gange der Wissenschaft und damit dein biogenetischen Grundgesetz! Dieser von
den Heißspornen der Biologie verpönte Unterricht ist zugleich unentbehrlich,
weil die hier gewonnene Einzelkenntnis der Naturformen und der Einblick in
ihre verwandtschaftlichen Beziehungen in späteren Jahren nicht leicht nachgeholt,
aber wohl ergänzt und vertieft wird. Ohne diese Einzelkenntnis aber bleibt
die Entwickelungslehre später unverständlich, die doch das Endproblem aller
biologischen Forschung darstellt. -- Natürlich sind auch auf der Unterstufe die


Biologie n»d Schule

und gar auf Grund von Schülerbeobachtungen und -versuchen keine so einfache
Sache ist. Die aufgestellte Forderung besagt nichts weniger, als daß die durch
Jahrhunderte sich hinziehende Beobachtungs- und Denkarbeit zahlreicher Forscher
in der knappen Unterrichtszeit von den einzelnen Schülern selbsttätig wieder
geleistet werden soll! Das ist natürlich einfach unmöglich. Man übertrage sie
nur einmal in Gedanken auf den Unterricht in der Geschichte. Die Methode
der Geschichtsforschung ist ja dieselbe wie die der naturgeschichtlichen, und bei
beiden handelt es sich um Erforschung des ursächlichen Zusammenhanges der
Erscheinungen und des Fortganges der Entwickelung; warum also nicht auch
hier fordern, daß die ganze Tätigkeit des Lehrers sich darauf zu beschränken
hat, die Schüler anzuleiten, die Dokumente der Geschichte selber aufzufinden,
selber zu prüfen und zu vergleichen und selber die Schlüsse daraus zu ziehen!
— Ich stelle gewiß nicht in Abrede, daß bei aller grundsätzlichen Überein¬
stimmung der Vergleich des Naturgeschichtsunterrichts mit dem geschichtlichen
nicht vollständig durchzuführen ist. Was dem naturgeschichtlichen seine besondere
Stellung anweist, ist die Tatsache der leichteren Zugänglichkeit vieler natur-
geschichtlicher Einzelerkenntnisse für die unmittelbare Beobachtung. Dem natur¬
geschichtlichen und überhaupt dem naturwissenschaftlichen Unterricht fällt daher
in: Gesamtplan der Schule die Aufgabe der formalen Schulung der Beobachtungs-
fähigkeit zu und der Fähigkeit, von den beobachteten Tatsachen zur logischen
Begriffsbildung, zur systematischen Zusammenfassung und zur Aufstellung all¬
gemeiner Gesetze fortzuschreiten. Das sind Fähigkeiten, die in jeden: künftigen
Spezialfach des Schülers und in jeder praktischen Lebenslage von Nutzen sind.
Aber die induktive Methode ist nur teilweise wirklich durchführbar, wenn sie
nicht zu einem Gaukelspiel ausarten und den Inhalt des Faches auf ein fürs
Leben uubrauchbares Mindermaß herabsetzen soll.

Als einen für die formale Schulung besonders geeigneten Zweig muß ich
neben dem einführenden Unterricht in der Physik und Chemie auf biologischen
Gebiete den morphologisch-systematischen bezeichnen. Während jener in die
Oberstufe fällt, kann dieser auf der Uuterstufe, wo der Sammeltrieb rege ist
und das sachliche Interesse das spekulative noch überwiegt, zu gedachtem Zwecke
wirksam ausgenutzt und zugleich durch das Hilfsmittel des Zeichnens die
Beobachtung verschärft und besser als durch fertige Bilder befestigt werden. Die
vorzugsweise Beschäftigung mit der Gestaltlehre und Systematik in den ersten
Jahren des naturgeschichtlichen Unterrichts entspricht auch dem Entwickelungs¬
gange der Wissenschaft und damit dein biogenetischen Grundgesetz! Dieser von
den Heißspornen der Biologie verpönte Unterricht ist zugleich unentbehrlich,
weil die hier gewonnene Einzelkenntnis der Naturformen und der Einblick in
ihre verwandtschaftlichen Beziehungen in späteren Jahren nicht leicht nachgeholt,
aber wohl ergänzt und vertieft wird. Ohne diese Einzelkenntnis aber bleibt
die Entwickelungslehre später unverständlich, die doch das Endproblem aller
biologischen Forschung darstellt. — Natürlich sind auch auf der Unterstufe die


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[0310] Biologie n»d Schule und gar auf Grund von Schülerbeobachtungen und -versuchen keine so einfache Sache ist. Die aufgestellte Forderung besagt nichts weniger, als daß die durch Jahrhunderte sich hinziehende Beobachtungs- und Denkarbeit zahlreicher Forscher in der knappen Unterrichtszeit von den einzelnen Schülern selbsttätig wieder geleistet werden soll! Das ist natürlich einfach unmöglich. Man übertrage sie nur einmal in Gedanken auf den Unterricht in der Geschichte. Die Methode der Geschichtsforschung ist ja dieselbe wie die der naturgeschichtlichen, und bei beiden handelt es sich um Erforschung des ursächlichen Zusammenhanges der Erscheinungen und des Fortganges der Entwickelung; warum also nicht auch hier fordern, daß die ganze Tätigkeit des Lehrers sich darauf zu beschränken hat, die Schüler anzuleiten, die Dokumente der Geschichte selber aufzufinden, selber zu prüfen und zu vergleichen und selber die Schlüsse daraus zu ziehen! — Ich stelle gewiß nicht in Abrede, daß bei aller grundsätzlichen Überein¬ stimmung der Vergleich des Naturgeschichtsunterrichts mit dem geschichtlichen nicht vollständig durchzuführen ist. Was dem naturgeschichtlichen seine besondere Stellung anweist, ist die Tatsache der leichteren Zugänglichkeit vieler natur- geschichtlicher Einzelerkenntnisse für die unmittelbare Beobachtung. Dem natur¬ geschichtlichen und überhaupt dem naturwissenschaftlichen Unterricht fällt daher in: Gesamtplan der Schule die Aufgabe der formalen Schulung der Beobachtungs- fähigkeit zu und der Fähigkeit, von den beobachteten Tatsachen zur logischen Begriffsbildung, zur systematischen Zusammenfassung und zur Aufstellung all¬ gemeiner Gesetze fortzuschreiten. Das sind Fähigkeiten, die in jeden: künftigen Spezialfach des Schülers und in jeder praktischen Lebenslage von Nutzen sind. Aber die induktive Methode ist nur teilweise wirklich durchführbar, wenn sie nicht zu einem Gaukelspiel ausarten und den Inhalt des Faches auf ein fürs Leben uubrauchbares Mindermaß herabsetzen soll. Als einen für die formale Schulung besonders geeigneten Zweig muß ich neben dem einführenden Unterricht in der Physik und Chemie auf biologischen Gebiete den morphologisch-systematischen bezeichnen. Während jener in die Oberstufe fällt, kann dieser auf der Uuterstufe, wo der Sammeltrieb rege ist und das sachliche Interesse das spekulative noch überwiegt, zu gedachtem Zwecke wirksam ausgenutzt und zugleich durch das Hilfsmittel des Zeichnens die Beobachtung verschärft und besser als durch fertige Bilder befestigt werden. Die vorzugsweise Beschäftigung mit der Gestaltlehre und Systematik in den ersten Jahren des naturgeschichtlichen Unterrichts entspricht auch dem Entwickelungs¬ gange der Wissenschaft und damit dein biogenetischen Grundgesetz! Dieser von den Heißspornen der Biologie verpönte Unterricht ist zugleich unentbehrlich, weil die hier gewonnene Einzelkenntnis der Naturformen und der Einblick in ihre verwandtschaftlichen Beziehungen in späteren Jahren nicht leicht nachgeholt, aber wohl ergänzt und vertieft wird. Ohne diese Einzelkenntnis aber bleibt die Entwickelungslehre später unverständlich, die doch das Endproblem aller biologischen Forschung darstellt. — Natürlich sind auch auf der Unterstufe die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/310>, abgerufen am 15.05.2024.