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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Bncherlisto

liebe Ruhe und geselliges Zusammenkommen haben ihre bestimmte Kleidung, deren
Wahl etwas sehr Wichtiges wird. Die Sprache erfindet gesellschaftliche Formeln,
das Gespräch bewegt sich gesetzmäßig, nicht mehr in willkürlichem Durcheinander,
sondern in geordneter Rücksicht. Die Kultur der Sinne blüht wieder auf, Natur
und Kunst werden gesellschaftliche Faktoren. Auch die Kirche, und es ist gar kein
Zweifel, dasz die Hochblüte der Kultur und Kunst im italienischen Mittelalter auf
dieser Vergesellschaftlichung der Gesamtheit beruht.

Als die Macht von Italien nach dein Westen wandelt, gibt die Gesellschaft
ihr Zepter an Frankreich ab, in dessen Händen es bis in die Neuzeit ruhen sollte.
Sicher nicht zum Vorteil der Gesellschaft. Der Franzose ist ein gesellschaftlicher
Mensch, ein Mensch von Formen, aber diese seine Eigenschaften sind mehr passiver
Natur, seine Höflichkeit war jederzeit mehr ein Zurückweichen als ein Erobern.
So erlebt deun Europa im maßgeblichen Frankreich des Rokoko die Erstarrung
und bald darauf die Entartung weiblicher Kultur. Die gesellschaftliche Herrschaft
der Frau artet ins Sinnliche aus, damit verlieren alle gesellschaftlichen Formen
ihren großen Sinn und Zweck, werden zierlich und spielerisch und vergessen
durchaus ihre soziologische Bedeutung. Die gesellschaftliche Manneskultur des
Rokoko ist ohne Zusammenhang mit der großen Menschheitskultur, eine Auerhahn-
balz um das Weibchen, reizvoll genug mitunter, aber morsch und verderblich.

Aufklärung und Revolution geben dieser sterbenden Gesellschaft den
Todesstoß aus dem rauchenden Blute der Hingerichteten aber steigt die
neue, die bürgerliche Gesellschaft, die in den Händen der germanischen Völker liegt,
an welche inzwischen auch das allgemeine Übergewicht übergegangen ist.


Lothar Brieger-Wasservogel






Für vorstehende Inserate verantwortlich: Karl Schulze in Berlin-Schmargendorf.
Druck: "Der Reichsbote" G. in. b. H. in Berlin ZV. 11, Dessau-r Straße 87.
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liebe Ruhe und geselliges Zusammenkommen haben ihre bestimmte Kleidung, deren
Wahl etwas sehr Wichtiges wird. Die Sprache erfindet gesellschaftliche Formeln,
das Gespräch bewegt sich gesetzmäßig, nicht mehr in willkürlichem Durcheinander,
sondern in geordneter Rücksicht. Die Kultur der Sinne blüht wieder auf, Natur
und Kunst werden gesellschaftliche Faktoren. Auch die Kirche, und es ist gar kein
Zweifel, dasz die Hochblüte der Kultur und Kunst im italienischen Mittelalter auf
dieser Vergesellschaftlichung der Gesamtheit beruht.

Als die Macht von Italien nach dein Westen wandelt, gibt die Gesellschaft
ihr Zepter an Frankreich ab, in dessen Händen es bis in die Neuzeit ruhen sollte.
Sicher nicht zum Vorteil der Gesellschaft. Der Franzose ist ein gesellschaftlicher
Mensch, ein Mensch von Formen, aber diese seine Eigenschaften sind mehr passiver
Natur, seine Höflichkeit war jederzeit mehr ein Zurückweichen als ein Erobern.
So erlebt deun Europa im maßgeblichen Frankreich des Rokoko die Erstarrung
und bald darauf die Entartung weiblicher Kultur. Die gesellschaftliche Herrschaft
der Frau artet ins Sinnliche aus, damit verlieren alle gesellschaftlichen Formen
ihren großen Sinn und Zweck, werden zierlich und spielerisch und vergessen
durchaus ihre soziologische Bedeutung. Die gesellschaftliche Manneskultur des
Rokoko ist ohne Zusammenhang mit der großen Menschheitskultur, eine Auerhahn-
balz um das Weibchen, reizvoll genug mitunter, aber morsch und verderblich.

Aufklärung und Revolution geben dieser sterbenden Gesellschaft den
Todesstoß aus dem rauchenden Blute der Hingerichteten aber steigt die
neue, die bürgerliche Gesellschaft, die in den Händen der germanischen Völker liegt,
an welche inzwischen auch das allgemeine Übergewicht übergegangen ist.


Lothar Brieger-Wasservogel






Für vorstehende Inserate verantwortlich: Karl Schulze in Berlin-Schmargendorf.
Druck: „Der Reichsbote" G. in. b. H. in Berlin ZV. 11, Dessau-r Straße 87.
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[0348] Bncherlisto liebe Ruhe und geselliges Zusammenkommen haben ihre bestimmte Kleidung, deren Wahl etwas sehr Wichtiges wird. Die Sprache erfindet gesellschaftliche Formeln, das Gespräch bewegt sich gesetzmäßig, nicht mehr in willkürlichem Durcheinander, sondern in geordneter Rücksicht. Die Kultur der Sinne blüht wieder auf, Natur und Kunst werden gesellschaftliche Faktoren. Auch die Kirche, und es ist gar kein Zweifel, dasz die Hochblüte der Kultur und Kunst im italienischen Mittelalter auf dieser Vergesellschaftlichung der Gesamtheit beruht. Als die Macht von Italien nach dein Westen wandelt, gibt die Gesellschaft ihr Zepter an Frankreich ab, in dessen Händen es bis in die Neuzeit ruhen sollte. Sicher nicht zum Vorteil der Gesellschaft. Der Franzose ist ein gesellschaftlicher Mensch, ein Mensch von Formen, aber diese seine Eigenschaften sind mehr passiver Natur, seine Höflichkeit war jederzeit mehr ein Zurückweichen als ein Erobern. So erlebt deun Europa im maßgeblichen Frankreich des Rokoko die Erstarrung und bald darauf die Entartung weiblicher Kultur. Die gesellschaftliche Herrschaft der Frau artet ins Sinnliche aus, damit verlieren alle gesellschaftlichen Formen ihren großen Sinn und Zweck, werden zierlich und spielerisch und vergessen durchaus ihre soziologische Bedeutung. Die gesellschaftliche Manneskultur des Rokoko ist ohne Zusammenhang mit der großen Menschheitskultur, eine Auerhahn- balz um das Weibchen, reizvoll genug mitunter, aber morsch und verderblich. Aufklärung und Revolution geben dieser sterbenden Gesellschaft den Todesstoß aus dem rauchenden Blute der Hingerichteten aber steigt die neue, die bürgerliche Gesellschaft, die in den Händen der germanischen Völker liegt, an welche inzwischen auch das allgemeine Übergewicht übergegangen ist. Lothar Brieger-Wasservogel Für vorstehende Inserate verantwortlich: Karl Schulze in Berlin-Schmargendorf. Druck: „Der Reichsbote" G. in. b. H. in Berlin ZV. 11, Dessau-r Straße 87.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/348>, abgerufen am 16.05.2024.