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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Der neue deutsche Shakespeare

noch etwas anderes als den "Grafen von Luxemburg" Theater heißen machen.
In dieser Zeit unternimmt es ein junger, dem literarischen Betrieb fernstehender,
den wahren dichterischen Trieben seines Volkes um so näherer Dichter, seiner
Generation einen neuen Shakespeare zu schenken. Der Jktus, der von der ersten
Zeile der Einleitung über alle folgenden und jedes Wort der Übersetzung flammt,
hat einen solchen Ungestüm gegenwärtig atmenden Lebens, daß er -- ohne
literarhistorische Beihilfe -- den Verdacht widerlegt, das Werk sei als Beistand
einer literarischen Gattung, als Werbekraft für sie beim Publikum gemeint, ebenso
den, diese Übersetzung bedeute für ihren Verfasser die Befriedigung persönlicher Vor¬
liebe oder der jetzt so geschätzten allgemeinen Kulturinteressen, die doch nichts
sind als die -- gegenüber den siebziger Jahren verfeinerte -- Sucht nach der
Anekdote. Dein lebendigsten Eifer einer ihrer Vollendung nahen Kraft, dem
stolzen Glück eines die Gegenwart als seinen blühenden Besitz erlebenden
Ingeniums verdanken wir dieses Werk als hoch ausgerufenes Ja zu den eben¬
bürtigen Taten seiner Zeit. Solche Taten liegen nicht beim Theater. Weder
hat jemand dort den Willen, noch den Plan, noch die Kraft zu ihrer Aus¬
führung. Dagegen durchläuft die junge Generation ein sehr lebhafter Drang
zum unbedingt Dichterischen, zur Ergreifung und Formung des ihr gültigen
gegenwärtigen Weltganzen in dichterischem Gesicht und Bilde, ohne nach
Gattungen zu fragen. Diese gehören der dem lebendigen Schaffen nach¬
folgenden Erkenntnis an. Sie durch Neuschöpfungen lebendig machen zu
wollen, heißt die Bedingungen natürlichen Wachsentums verkennen. Wir suchen
den Dichter ans dem Blute, der wieder eine Gattung mache, nicht den Dichter
ans der Gattung, der gar keine ist. Nur der gilt uns Dichter, der uns eine
neue, uns eigene Art und Form künstlerischen Weltsehens und -bildens schenkt,
der das kunstmäßige Erfassen der Welt (das ist eine besondere neben allen
übrigen Pragmatiker des Erfassens) uns neu vermittelt, der uns ein neues
Organ gibt, durch das wir uns kunstmäßig der Welt bemächtigen. Das Organ,
mit dein die griechische Welt beschenkt war, war das Kultdrama, das der mittel¬
alterlichen Welt die dem Vassallitium göttlich-menschlichen Rechts zugeborene
dichterische Ruhmverkündung (heroisch-mystischen Gestus), die Epopöe. Die
nördliche (protestantische) Renaissance, erlöst von den überirdisch gegründeten
Kulten der früheren Epochen, schuf sich den Kult des heroischen Menschen, der
befreiten Weltmächte, der darum nicht weniger ein Kult, eine die zeitige
Gesellschaft umschließende geistige Lebensform war, weil er frühere bereits
dogmatisch gewordene und als solche erkennbare Kulte verwarf und an ihre
Stelle eine scheinbar zügellose Verherrlichung des menschlichen Einzellebens
setzte. Er war Kult, da er nicht etwa eine gelehrte, durch Druck und Schrift
verbreitete geistige Überzeugung war, sondern einhellig das Leben dieser Menschheit
bestimmte und sie einem über sie hinausgehenden Geistigen unterwarf. Ihr Lebens¬
ausdruck, ihr künstlerisches Mittel war das heroische Drama, die Helden- und
Tatoerehrung (statt derjenigen der Götter oder des gottmenschlichen Bundes),


Der neue deutsche Shakespeare

noch etwas anderes als den „Grafen von Luxemburg" Theater heißen machen.
In dieser Zeit unternimmt es ein junger, dem literarischen Betrieb fernstehender,
den wahren dichterischen Trieben seines Volkes um so näherer Dichter, seiner
Generation einen neuen Shakespeare zu schenken. Der Jktus, der von der ersten
Zeile der Einleitung über alle folgenden und jedes Wort der Übersetzung flammt,
hat einen solchen Ungestüm gegenwärtig atmenden Lebens, daß er — ohne
literarhistorische Beihilfe — den Verdacht widerlegt, das Werk sei als Beistand
einer literarischen Gattung, als Werbekraft für sie beim Publikum gemeint, ebenso
den, diese Übersetzung bedeute für ihren Verfasser die Befriedigung persönlicher Vor¬
liebe oder der jetzt so geschätzten allgemeinen Kulturinteressen, die doch nichts
sind als die — gegenüber den siebziger Jahren verfeinerte — Sucht nach der
Anekdote. Dein lebendigsten Eifer einer ihrer Vollendung nahen Kraft, dem
stolzen Glück eines die Gegenwart als seinen blühenden Besitz erlebenden
Ingeniums verdanken wir dieses Werk als hoch ausgerufenes Ja zu den eben¬
bürtigen Taten seiner Zeit. Solche Taten liegen nicht beim Theater. Weder
hat jemand dort den Willen, noch den Plan, noch die Kraft zu ihrer Aus¬
führung. Dagegen durchläuft die junge Generation ein sehr lebhafter Drang
zum unbedingt Dichterischen, zur Ergreifung und Formung des ihr gültigen
gegenwärtigen Weltganzen in dichterischem Gesicht und Bilde, ohne nach
Gattungen zu fragen. Diese gehören der dem lebendigen Schaffen nach¬
folgenden Erkenntnis an. Sie durch Neuschöpfungen lebendig machen zu
wollen, heißt die Bedingungen natürlichen Wachsentums verkennen. Wir suchen
den Dichter ans dem Blute, der wieder eine Gattung mache, nicht den Dichter
ans der Gattung, der gar keine ist. Nur der gilt uns Dichter, der uns eine
neue, uns eigene Art und Form künstlerischen Weltsehens und -bildens schenkt,
der das kunstmäßige Erfassen der Welt (das ist eine besondere neben allen
übrigen Pragmatiker des Erfassens) uns neu vermittelt, der uns ein neues
Organ gibt, durch das wir uns kunstmäßig der Welt bemächtigen. Das Organ,
mit dein die griechische Welt beschenkt war, war das Kultdrama, das der mittel¬
alterlichen Welt die dem Vassallitium göttlich-menschlichen Rechts zugeborene
dichterische Ruhmverkündung (heroisch-mystischen Gestus), die Epopöe. Die
nördliche (protestantische) Renaissance, erlöst von den überirdisch gegründeten
Kulten der früheren Epochen, schuf sich den Kult des heroischen Menschen, der
befreiten Weltmächte, der darum nicht weniger ein Kult, eine die zeitige
Gesellschaft umschließende geistige Lebensform war, weil er frühere bereits
dogmatisch gewordene und als solche erkennbare Kulte verwarf und an ihre
Stelle eine scheinbar zügellose Verherrlichung des menschlichen Einzellebens
setzte. Er war Kult, da er nicht etwa eine gelehrte, durch Druck und Schrift
verbreitete geistige Überzeugung war, sondern einhellig das Leben dieser Menschheit
bestimmte und sie einem über sie hinausgehenden Geistigen unterwarf. Ihr Lebens¬
ausdruck, ihr künstlerisches Mittel war das heroische Drama, die Helden- und
Tatoerehrung (statt derjenigen der Götter oder des gottmenschlichen Bundes),


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[0358] Der neue deutsche Shakespeare noch etwas anderes als den „Grafen von Luxemburg" Theater heißen machen. In dieser Zeit unternimmt es ein junger, dem literarischen Betrieb fernstehender, den wahren dichterischen Trieben seines Volkes um so näherer Dichter, seiner Generation einen neuen Shakespeare zu schenken. Der Jktus, der von der ersten Zeile der Einleitung über alle folgenden und jedes Wort der Übersetzung flammt, hat einen solchen Ungestüm gegenwärtig atmenden Lebens, daß er — ohne literarhistorische Beihilfe — den Verdacht widerlegt, das Werk sei als Beistand einer literarischen Gattung, als Werbekraft für sie beim Publikum gemeint, ebenso den, diese Übersetzung bedeute für ihren Verfasser die Befriedigung persönlicher Vor¬ liebe oder der jetzt so geschätzten allgemeinen Kulturinteressen, die doch nichts sind als die — gegenüber den siebziger Jahren verfeinerte — Sucht nach der Anekdote. Dein lebendigsten Eifer einer ihrer Vollendung nahen Kraft, dem stolzen Glück eines die Gegenwart als seinen blühenden Besitz erlebenden Ingeniums verdanken wir dieses Werk als hoch ausgerufenes Ja zu den eben¬ bürtigen Taten seiner Zeit. Solche Taten liegen nicht beim Theater. Weder hat jemand dort den Willen, noch den Plan, noch die Kraft zu ihrer Aus¬ führung. Dagegen durchläuft die junge Generation ein sehr lebhafter Drang zum unbedingt Dichterischen, zur Ergreifung und Formung des ihr gültigen gegenwärtigen Weltganzen in dichterischem Gesicht und Bilde, ohne nach Gattungen zu fragen. Diese gehören der dem lebendigen Schaffen nach¬ folgenden Erkenntnis an. Sie durch Neuschöpfungen lebendig machen zu wollen, heißt die Bedingungen natürlichen Wachsentums verkennen. Wir suchen den Dichter ans dem Blute, der wieder eine Gattung mache, nicht den Dichter ans der Gattung, der gar keine ist. Nur der gilt uns Dichter, der uns eine neue, uns eigene Art und Form künstlerischen Weltsehens und -bildens schenkt, der das kunstmäßige Erfassen der Welt (das ist eine besondere neben allen übrigen Pragmatiker des Erfassens) uns neu vermittelt, der uns ein neues Organ gibt, durch das wir uns kunstmäßig der Welt bemächtigen. Das Organ, mit dein die griechische Welt beschenkt war, war das Kultdrama, das der mittel¬ alterlichen Welt die dem Vassallitium göttlich-menschlichen Rechts zugeborene dichterische Ruhmverkündung (heroisch-mystischen Gestus), die Epopöe. Die nördliche (protestantische) Renaissance, erlöst von den überirdisch gegründeten Kulten der früheren Epochen, schuf sich den Kult des heroischen Menschen, der befreiten Weltmächte, der darum nicht weniger ein Kult, eine die zeitige Gesellschaft umschließende geistige Lebensform war, weil er frühere bereits dogmatisch gewordene und als solche erkennbare Kulte verwarf und an ihre Stelle eine scheinbar zügellose Verherrlichung des menschlichen Einzellebens setzte. Er war Kult, da er nicht etwa eine gelehrte, durch Druck und Schrift verbreitete geistige Überzeugung war, sondern einhellig das Leben dieser Menschheit bestimmte und sie einem über sie hinausgehenden Geistigen unterwarf. Ihr Lebens¬ ausdruck, ihr künstlerisches Mittel war das heroische Drama, die Helden- und Tatoerehrung (statt derjenigen der Götter oder des gottmenschlichen Bundes),

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/358>, abgerufen am 18.05.2024.