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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Das Hcimatsgeflchl der Brüder Grimm

Gewalt in der Weltgeschichte wie fast kein anderes auftretenden Volke noch ein
größerer Spielraum zuteil werde . . . Diese Russen sind natürliche Feinde alles
dessen, was Deutschland da oder anderwärts stark machen würde. Wer ich begreife
dein dänisches Gefühl, das Russen den Deutschen vorzöge. . . ." Jakob Grimm,
der in einem geeinigten und freien Deutschland die Gewähr für den Frieden und
die Wohlfahrt Europas erblickt, hat das neue Deutschland, nach dem er sich so
sehr gesehnt, nicht mehr erlebt. Aber einen merkwürdigen Blick in die Zukunft
hat er getan, als er im Jahre 1844 in Italien reiste. Er schreibt in seinen
Reiseerinnerungen: "Das heutige Italien fühlt sich in Schmach und Erniedrigung
liegen; ich las es auf dem Antlitz blühender, schuldloser Jünglinge. Was anch
kommender Zeiten Schoß in sich berge, die Macht, deren Flamme wir noch auf¬
flackern sehen, wird nicht ewig über ihm lasten, und wenn Friede und Heil des
ganzen Weltteiles auf Deutschlands Stärke und Freiheit beruhen, so muß sogar
diese durch eine in dem Knoten der Politik noch nicht abzusehende, aber dennoch
mögliche Wiederherstellung Italiens bedingt erscheinen."

Wie weit und scharf Jakob Grimm über den lebendigen Zaun seiner
Heimathliebe späht, ist aus den allgeführten Worten zu ersehen. In diesen
Stücken bleibt Wilhelm hinter dem Bruder zurück; aber Jakob zieht ihn nach,
und Wilhelm geht geistweise mit. Sind sie doch im Leben und in der Wissen-
immer miteinander gegangen und haben sich nie verlassen. Sie waren einander
treu, wie sie ihrem Volke treu waren -- treu wie Gras. Man möchte fast ver¬
muten, daß sich einmal, wenn ihre Bücher verschollen sind, die Volksphantasie
dieser beiden rührenden und großen Gestalten bemächtigen werde. Wir können
uns denken, daß man auf der Bank vor dein Hause sich einmal erzählt:


Die Brüder Grimm.
Ein deutsches Kinder- und Hausmärchen.

Es wird etwa beginnen: "Es waren einmal zwei Brüder, der eine hieß Jakob,
der jüngere Wilhelm." Was aber wird das Märchen von ihnen erzählen? Die
Geschichte vom Dornröschen, nur daß die schlafende Königstochter das deutsche
Volk mit der versunkenen Heimlichkeit seiner Sprache und Sitte sein wird, und
die beiden Knaben, Jakob voran, Wilhelm hinterdrein, brechen durch die Dornen¬
hecke und erlösen durch ihren Kuß das schlafende schöne Kind. Dann werden in
den Zuhörern alle guicn Geister des Heimatsgefühls aufwachen, und sie werden
die beiden Knaben, die das Wunder vollbracht haben, preisen und segnen.




Das Hcimatsgeflchl der Brüder Grimm

Gewalt in der Weltgeschichte wie fast kein anderes auftretenden Volke noch ein
größerer Spielraum zuteil werde . . . Diese Russen sind natürliche Feinde alles
dessen, was Deutschland da oder anderwärts stark machen würde. Wer ich begreife
dein dänisches Gefühl, das Russen den Deutschen vorzöge. . . ." Jakob Grimm,
der in einem geeinigten und freien Deutschland die Gewähr für den Frieden und
die Wohlfahrt Europas erblickt, hat das neue Deutschland, nach dem er sich so
sehr gesehnt, nicht mehr erlebt. Aber einen merkwürdigen Blick in die Zukunft
hat er getan, als er im Jahre 1844 in Italien reiste. Er schreibt in seinen
Reiseerinnerungen: „Das heutige Italien fühlt sich in Schmach und Erniedrigung
liegen; ich las es auf dem Antlitz blühender, schuldloser Jünglinge. Was anch
kommender Zeiten Schoß in sich berge, die Macht, deren Flamme wir noch auf¬
flackern sehen, wird nicht ewig über ihm lasten, und wenn Friede und Heil des
ganzen Weltteiles auf Deutschlands Stärke und Freiheit beruhen, so muß sogar
diese durch eine in dem Knoten der Politik noch nicht abzusehende, aber dennoch
mögliche Wiederherstellung Italiens bedingt erscheinen."

Wie weit und scharf Jakob Grimm über den lebendigen Zaun seiner
Heimathliebe späht, ist aus den allgeführten Worten zu ersehen. In diesen
Stücken bleibt Wilhelm hinter dem Bruder zurück; aber Jakob zieht ihn nach,
und Wilhelm geht geistweise mit. Sind sie doch im Leben und in der Wissen-
immer miteinander gegangen und haben sich nie verlassen. Sie waren einander
treu, wie sie ihrem Volke treu waren — treu wie Gras. Man möchte fast ver¬
muten, daß sich einmal, wenn ihre Bücher verschollen sind, die Volksphantasie
dieser beiden rührenden und großen Gestalten bemächtigen werde. Wir können
uns denken, daß man auf der Bank vor dein Hause sich einmal erzählt:


Die Brüder Grimm.
Ein deutsches Kinder- und Hausmärchen.

Es wird etwa beginnen: „Es waren einmal zwei Brüder, der eine hieß Jakob,
der jüngere Wilhelm." Was aber wird das Märchen von ihnen erzählen? Die
Geschichte vom Dornröschen, nur daß die schlafende Königstochter das deutsche
Volk mit der versunkenen Heimlichkeit seiner Sprache und Sitte sein wird, und
die beiden Knaben, Jakob voran, Wilhelm hinterdrein, brechen durch die Dornen¬
hecke und erlösen durch ihren Kuß das schlafende schöne Kind. Dann werden in
den Zuhörern alle guicn Geister des Heimatsgefühls aufwachen, und sie werden
die beiden Knaben, die das Wunder vollbracht haben, preisen und segnen.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/459>, abgerufen am 16.05.2024.