Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Reichsspiegel

"Diese Auslassung gilt auch für sämtliche anderen Arbeiterschichten, die unter
der Teuerung und den neuen Steuern nicht minder wie die Bauarbeiter zu
leiden haben. Sie wird bei den kommenden Auseinandersetzungen mit den
Unternehmern den Arbeitern gute Dienste leisten." Adolf Weber aber sagt
hierzu: "Der Schiedsspruch wirkt geradezu anregend für neue Kämpfe." Und
wieder rüsten die Gewerkschaften in: Kohlenrevier ebenso wie in den Großstädten
für neue Lohnkämpfe. Gegen diese zu immer neuen Forderungen treibenden
Organisationen gilt es aufzutreten. Der Kampf gegen die Gewerkschaften
hat nicht und darf auch nicht den Zweck haben, das Los der arbeitenden
Klassen zugunsten der Unternehmerklasse verschlechtern zu wollen. Schon die
Tatsache, daß 43,34 pCt. auf die Arbeiterbevölkerung und nur 26,54 auf die
Unternehmerkreise fallen, spräche dagegen. Er erscheint aber im gegenwärtigen
Zeitpunkt geboten, um die Gesamtheit der nationalen Wirtschaft vor allen
den Gefahren zu bewahren, die als notwendige Folge übergroßer Ansprüche
alle aufstrebenden Nationen treffen können. Alle Gewerkschaften, freie, Hirsch-
Dunckersche und christliche, haben zum Ausgangspunkt ihrer Politik das Prinzip
des Klassengegensatzes. Der Kampf, den die Gewerkschaften gegen das Unter¬
nehmertum führen, stellt sich infolgedessen nur theoretisch dar, als ein Ringen
um die Produktionsmittel. In der Praxis bleibt er durch die zur Anwendung
kommenden Mittel (Streiks und einseitig geleitete Einigungsämter) lediglich ein
Kampf uni höhere Löhne. Sein bisheriges Ergebnis ist nun allerdings eine
relative Steigerung der Lohnzahlen, aber auch eine absolute Verteuerung der
gesamten Lebenshaltung. Und damit sind auch die Grenzen gegeben, die den
neuen Forderungen der ^Gewerkschaften gesteckt werden müssen. Die bisherigen
Siege der Arbeiterorganisationen sind nicht etwa auf Kosten der Unternehmer,
sondern und vor allen Dingen auf Kosten des kleinen Mittelstandes, der
Staats- und Privatangestellten und derjenigen Teile des Proletariats, die sich
gar nicht oder doch nur schwer zusammenschließen können, errungen worden;
zu dieser Kategorie gehören die Heimarbeiter, Frauen und Kinder.
Der Genosse Parvus und nach ihm Adolf Weber ("Der Kampf zwischen
Kapital und Arbeit". Verlag von I. C. B. Mohr, Tübingen 1910, 579 S.
Pr. 12 M.) bestätigen ausdrücklich, daß "die Gewerkschaften dem höheren Lohne
nachgehen" und daß "sie. . . dort am stärksten, wo die Löhne am höchsten sind".
"Dort also", fügt Weber auf S. 532 seines sehr lesenswerten Werkes hinzu,
"können die Gewerkschaften am leichtesten Erhöhung der Löhne erzielen, wo ihre
Mitglieder materiell sowieso schon besser stehen als die Kollegen in anderen
Branchen." Damit aber ist auch der Punkt gewiesen, wo die Gewerkschaften
angreifbar sind, und von wo aus sie im Interesse des Volksganzen und der
nationalen Wirtschaft reformiert werden müssen. Denn nun treten dieselben
Gründe gegen sie auf, die früher für sie und gegen das Unternehmertum geltend
gemacht werden konnten. Nur noch verschürft. Denn zu allen Zeiten hat das
Unternehmertum sich vor der Masse der Arbeitnehmer ausgezeichnet durch


Reichsspiegel

„Diese Auslassung gilt auch für sämtliche anderen Arbeiterschichten, die unter
der Teuerung und den neuen Steuern nicht minder wie die Bauarbeiter zu
leiden haben. Sie wird bei den kommenden Auseinandersetzungen mit den
Unternehmern den Arbeitern gute Dienste leisten." Adolf Weber aber sagt
hierzu: „Der Schiedsspruch wirkt geradezu anregend für neue Kämpfe." Und
wieder rüsten die Gewerkschaften in: Kohlenrevier ebenso wie in den Großstädten
für neue Lohnkämpfe. Gegen diese zu immer neuen Forderungen treibenden
Organisationen gilt es aufzutreten. Der Kampf gegen die Gewerkschaften
hat nicht und darf auch nicht den Zweck haben, das Los der arbeitenden
Klassen zugunsten der Unternehmerklasse verschlechtern zu wollen. Schon die
Tatsache, daß 43,34 pCt. auf die Arbeiterbevölkerung und nur 26,54 auf die
Unternehmerkreise fallen, spräche dagegen. Er erscheint aber im gegenwärtigen
Zeitpunkt geboten, um die Gesamtheit der nationalen Wirtschaft vor allen
den Gefahren zu bewahren, die als notwendige Folge übergroßer Ansprüche
alle aufstrebenden Nationen treffen können. Alle Gewerkschaften, freie, Hirsch-
Dunckersche und christliche, haben zum Ausgangspunkt ihrer Politik das Prinzip
des Klassengegensatzes. Der Kampf, den die Gewerkschaften gegen das Unter¬
nehmertum führen, stellt sich infolgedessen nur theoretisch dar, als ein Ringen
um die Produktionsmittel. In der Praxis bleibt er durch die zur Anwendung
kommenden Mittel (Streiks und einseitig geleitete Einigungsämter) lediglich ein
Kampf uni höhere Löhne. Sein bisheriges Ergebnis ist nun allerdings eine
relative Steigerung der Lohnzahlen, aber auch eine absolute Verteuerung der
gesamten Lebenshaltung. Und damit sind auch die Grenzen gegeben, die den
neuen Forderungen der ^Gewerkschaften gesteckt werden müssen. Die bisherigen
Siege der Arbeiterorganisationen sind nicht etwa auf Kosten der Unternehmer,
sondern und vor allen Dingen auf Kosten des kleinen Mittelstandes, der
Staats- und Privatangestellten und derjenigen Teile des Proletariats, die sich
gar nicht oder doch nur schwer zusammenschließen können, errungen worden;
zu dieser Kategorie gehören die Heimarbeiter, Frauen und Kinder.
Der Genosse Parvus und nach ihm Adolf Weber („Der Kampf zwischen
Kapital und Arbeit". Verlag von I. C. B. Mohr, Tübingen 1910, 579 S.
Pr. 12 M.) bestätigen ausdrücklich, daß „die Gewerkschaften dem höheren Lohne
nachgehen" und daß „sie. . . dort am stärksten, wo die Löhne am höchsten sind".
„Dort also", fügt Weber auf S. 532 seines sehr lesenswerten Werkes hinzu,
„können die Gewerkschaften am leichtesten Erhöhung der Löhne erzielen, wo ihre
Mitglieder materiell sowieso schon besser stehen als die Kollegen in anderen
Branchen." Damit aber ist auch der Punkt gewiesen, wo die Gewerkschaften
angreifbar sind, und von wo aus sie im Interesse des Volksganzen und der
nationalen Wirtschaft reformiert werden müssen. Denn nun treten dieselben
Gründe gegen sie auf, die früher für sie und gegen das Unternehmertum geltend
gemacht werden konnten. Nur noch verschürft. Denn zu allen Zeiten hat das
Unternehmertum sich vor der Masse der Arbeitnehmer ausgezeichnet durch


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0114" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317727"/>
            <fw type="header" place="top"> Reichsspiegel</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_537" prev="#ID_536" next="#ID_538"> &#x201E;Diese Auslassung gilt auch für sämtliche anderen Arbeiterschichten, die unter<lb/>
der Teuerung und den neuen Steuern nicht minder wie die Bauarbeiter zu<lb/>
leiden haben. Sie wird bei den kommenden Auseinandersetzungen mit den<lb/>
Unternehmern den Arbeitern gute Dienste leisten." Adolf Weber aber sagt<lb/>
hierzu: &#x201E;Der Schiedsspruch wirkt geradezu anregend für neue Kämpfe." Und<lb/>
wieder rüsten die Gewerkschaften in: Kohlenrevier ebenso wie in den Großstädten<lb/>
für neue Lohnkämpfe. Gegen diese zu immer neuen Forderungen treibenden<lb/>
Organisationen gilt es aufzutreten. Der Kampf gegen die Gewerkschaften<lb/>
hat nicht und darf auch nicht den Zweck haben, das Los der arbeitenden<lb/>
Klassen zugunsten der Unternehmerklasse verschlechtern zu wollen. Schon die<lb/>
Tatsache, daß 43,34 pCt. auf die Arbeiterbevölkerung und nur 26,54 auf die<lb/>
Unternehmerkreise fallen, spräche dagegen. Er erscheint aber im gegenwärtigen<lb/>
Zeitpunkt geboten, um die Gesamtheit der nationalen Wirtschaft vor allen<lb/>
den Gefahren zu bewahren, die als notwendige Folge übergroßer Ansprüche<lb/>
alle aufstrebenden Nationen treffen können. Alle Gewerkschaften, freie, Hirsch-<lb/>
Dunckersche und christliche, haben zum Ausgangspunkt ihrer Politik das Prinzip<lb/>
des Klassengegensatzes. Der Kampf, den die Gewerkschaften gegen das Unter¬<lb/>
nehmertum führen, stellt sich infolgedessen nur theoretisch dar, als ein Ringen<lb/>
um die Produktionsmittel. In der Praxis bleibt er durch die zur Anwendung<lb/>
kommenden Mittel (Streiks und einseitig geleitete Einigungsämter) lediglich ein<lb/>
Kampf uni höhere Löhne. Sein bisheriges Ergebnis ist nun allerdings eine<lb/>
relative Steigerung der Lohnzahlen, aber auch eine absolute Verteuerung der<lb/>
gesamten Lebenshaltung. Und damit sind auch die Grenzen gegeben, die den<lb/>
neuen Forderungen der ^Gewerkschaften gesteckt werden müssen. Die bisherigen<lb/>
Siege der Arbeiterorganisationen sind nicht etwa auf Kosten der Unternehmer,<lb/>
sondern und vor allen Dingen auf Kosten des kleinen Mittelstandes, der<lb/>
Staats- und Privatangestellten und derjenigen Teile des Proletariats, die sich<lb/>
gar nicht oder doch nur schwer zusammenschließen können, errungen worden;<lb/>
zu dieser Kategorie gehören die Heimarbeiter, Frauen und Kinder.<lb/>
Der Genosse Parvus und nach ihm Adolf Weber (&#x201E;Der Kampf zwischen<lb/>
Kapital und Arbeit". Verlag von I. C. B. Mohr, Tübingen 1910, 579 S.<lb/>
Pr. 12 M.) bestätigen ausdrücklich, daß &#x201E;die Gewerkschaften dem höheren Lohne<lb/>
nachgehen" und daß &#x201E;sie. . . dort am stärksten, wo die Löhne am höchsten sind".<lb/>
&#x201E;Dort also", fügt Weber auf S. 532 seines sehr lesenswerten Werkes hinzu,<lb/>
&#x201E;können die Gewerkschaften am leichtesten Erhöhung der Löhne erzielen, wo ihre<lb/>
Mitglieder materiell sowieso schon besser stehen als die Kollegen in anderen<lb/>
Branchen." Damit aber ist auch der Punkt gewiesen, wo die Gewerkschaften<lb/>
angreifbar sind, und von wo aus sie im Interesse des Volksganzen und der<lb/>
nationalen Wirtschaft reformiert werden müssen. Denn nun treten dieselben<lb/>
Gründe gegen sie auf, die früher für sie und gegen das Unternehmertum geltend<lb/>
gemacht werden konnten. Nur noch verschürft. Denn zu allen Zeiten hat das<lb/>
Unternehmertum sich vor der Masse der Arbeitnehmer ausgezeichnet durch</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0114] Reichsspiegel „Diese Auslassung gilt auch für sämtliche anderen Arbeiterschichten, die unter der Teuerung und den neuen Steuern nicht minder wie die Bauarbeiter zu leiden haben. Sie wird bei den kommenden Auseinandersetzungen mit den Unternehmern den Arbeitern gute Dienste leisten." Adolf Weber aber sagt hierzu: „Der Schiedsspruch wirkt geradezu anregend für neue Kämpfe." Und wieder rüsten die Gewerkschaften in: Kohlenrevier ebenso wie in den Großstädten für neue Lohnkämpfe. Gegen diese zu immer neuen Forderungen treibenden Organisationen gilt es aufzutreten. Der Kampf gegen die Gewerkschaften hat nicht und darf auch nicht den Zweck haben, das Los der arbeitenden Klassen zugunsten der Unternehmerklasse verschlechtern zu wollen. Schon die Tatsache, daß 43,34 pCt. auf die Arbeiterbevölkerung und nur 26,54 auf die Unternehmerkreise fallen, spräche dagegen. Er erscheint aber im gegenwärtigen Zeitpunkt geboten, um die Gesamtheit der nationalen Wirtschaft vor allen den Gefahren zu bewahren, die als notwendige Folge übergroßer Ansprüche alle aufstrebenden Nationen treffen können. Alle Gewerkschaften, freie, Hirsch- Dunckersche und christliche, haben zum Ausgangspunkt ihrer Politik das Prinzip des Klassengegensatzes. Der Kampf, den die Gewerkschaften gegen das Unter¬ nehmertum führen, stellt sich infolgedessen nur theoretisch dar, als ein Ringen um die Produktionsmittel. In der Praxis bleibt er durch die zur Anwendung kommenden Mittel (Streiks und einseitig geleitete Einigungsämter) lediglich ein Kampf uni höhere Löhne. Sein bisheriges Ergebnis ist nun allerdings eine relative Steigerung der Lohnzahlen, aber auch eine absolute Verteuerung der gesamten Lebenshaltung. Und damit sind auch die Grenzen gegeben, die den neuen Forderungen der ^Gewerkschaften gesteckt werden müssen. Die bisherigen Siege der Arbeiterorganisationen sind nicht etwa auf Kosten der Unternehmer, sondern und vor allen Dingen auf Kosten des kleinen Mittelstandes, der Staats- und Privatangestellten und derjenigen Teile des Proletariats, die sich gar nicht oder doch nur schwer zusammenschließen können, errungen worden; zu dieser Kategorie gehören die Heimarbeiter, Frauen und Kinder. Der Genosse Parvus und nach ihm Adolf Weber („Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit". Verlag von I. C. B. Mohr, Tübingen 1910, 579 S. Pr. 12 M.) bestätigen ausdrücklich, daß „die Gewerkschaften dem höheren Lohne nachgehen" und daß „sie. . . dort am stärksten, wo die Löhne am höchsten sind". „Dort also", fügt Weber auf S. 532 seines sehr lesenswerten Werkes hinzu, „können die Gewerkschaften am leichtesten Erhöhung der Löhne erzielen, wo ihre Mitglieder materiell sowieso schon besser stehen als die Kollegen in anderen Branchen." Damit aber ist auch der Punkt gewiesen, wo die Gewerkschaften angreifbar sind, und von wo aus sie im Interesse des Volksganzen und der nationalen Wirtschaft reformiert werden müssen. Denn nun treten dieselben Gründe gegen sie auf, die früher für sie und gegen das Unternehmertum geltend gemacht werden konnten. Nur noch verschürft. Denn zu allen Zeiten hat das Unternehmertum sich vor der Masse der Arbeitnehmer ausgezeichnet durch

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/114
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/114>, abgerufen am 21.05.2024.