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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Geselligkeit, Gcselligkeitsformen und Gcsclligkeitsslirrogate

gegengesetzte Meinung, sehen in menschenreichen Veranstaltungen mit lukullischer
Bewirtung und etlichen künstlerischen Produktionen Ziel und Heil aller Geselligkeit.

Bei so viel gutem Willen scheint es fast unbegreiflich, daß wir immer
noch keine Geselligkeit haben -- scheint es aber nur. Ließe sich Geselligkeit
einführen wie eine neue Steuer oder eine neue Sektmarke, so besäßen wir sie
längst. Aber sie läßt sich nicht von heute auf morgen einführen, sondern
bedarf, wie jede Kulturerscheinung, einer langsamen, sorgsam gehüteten Ent¬
wicklung. . . . Darum iverden wir in Deutschland überhaupt keine Geselligkeit
höheren Stils mehr bekommen, denn unser Jahrhundert ist nicht nur in
Deutschland, sondern auch anderwärts jener Geselligkeit, die ich um ihrer
Vorbildlichkeit willen "klassisch" nennen möchte, abhold. Alle möglichen Er¬
rungenschaften der Moderne, die wir mit Recht als Fortschritt empfinden,
bedrängen die zierliche Nokokodame Geselligkeit mehr und mehr, daß ihr der
Atem versagt. Und auch andere Merkmale der Neuzeit, die wir vielleicht nicht
als durchaus rühmlich empfinden, sind einer Geselligkeit klassischen Stils
durchaus hinderlich. Zu den letzteren gehört ein gewisser Amerikanismus, der
im neuen Deutschland mehr und mehr um sich greift und der gerade für die
Geselligkeit mörderisch ist. Es ist ja schließlich selbstverständlich, daß in
Millionenstädten gesellige Veranstaltungen gleich einen Monstrecharakter an¬
nehmen, aber es ist beinahe ebenso selbstverständlich, daß hundert oder Hunderte
voll Menschen, die man kunterbunt zusammenlädt, wohl ein glänzendes oder
künstlerisches Bild, nimmermehr aber eine edle Geselligkeit darstellen können.
Die Bewirtung dagegen, auf deren Reichtum oder Einfachheit so verschiedenartig
Wert gelegt wird, scheint mir nebensächlich, war es auch immer: bei der Marschallin
d'Estrses, einem berühmten Salon der Regentschaft, bekamen die Gäste eines
Abends überhaupt nichts zu essen, weil der Butterhändler sich geweigert hatte, der
Frau Marschallin länger Kredit zu geben, wogegen Frau v. Staöl, die Millionärin,
auf fürstlichem Fuß lebte. Aber weder die Ärmlichkeit der einen noch der Luxus
der andern hat die Geselligkeit unterbunden, weil es einem geistig angeregten
Kreise eben gleichgültig ist, was und wie er speist.

Neben dem Amerikanismus kommen zivei weitere Errungenschaften der Neuzeit
gegen die Geselligkeit in Betracht: der Sport und das Reisen. Wer irgend kann,
verbringt heute, gleichviel ob Sommer oder Winter, seine Zeit draußen im Freien;
mit Rad, Rodelschlitten, Skiern oder Tennisschläger erteilt er dem Bezirk der zier¬
lichen Rokokodame, die nur im geschlossenen Raum, am behaglichen Kaminfeuer
ihre artigen Künste spielen lassen kann. Und wie könnte eine harmonische
Geselligkeit entstehen bei einer Gesellschaft, die, kaum vom Sommeraufenthalt
heimgekehrt, schon wieder an Winter- und Frühjahrsreisen, also an häufigste
Entfernung von Geselligkeitsmöglichkeiten denkt! Denn die sattsam bekannte
"reizende Reisegesellschaft", die Reunions in Kurhäusern oder das Zusammen-
sitzen in den Halts moderner Hotelpaläste wird wohl kein ernsthafter Mensch
als Geselligkeitsformen ansehen.


Geselligkeit, Gcselligkeitsformen und Gcsclligkeitsslirrogate

gegengesetzte Meinung, sehen in menschenreichen Veranstaltungen mit lukullischer
Bewirtung und etlichen künstlerischen Produktionen Ziel und Heil aller Geselligkeit.

Bei so viel gutem Willen scheint es fast unbegreiflich, daß wir immer
noch keine Geselligkeit haben — scheint es aber nur. Ließe sich Geselligkeit
einführen wie eine neue Steuer oder eine neue Sektmarke, so besäßen wir sie
längst. Aber sie läßt sich nicht von heute auf morgen einführen, sondern
bedarf, wie jede Kulturerscheinung, einer langsamen, sorgsam gehüteten Ent¬
wicklung. . . . Darum iverden wir in Deutschland überhaupt keine Geselligkeit
höheren Stils mehr bekommen, denn unser Jahrhundert ist nicht nur in
Deutschland, sondern auch anderwärts jener Geselligkeit, die ich um ihrer
Vorbildlichkeit willen „klassisch" nennen möchte, abhold. Alle möglichen Er¬
rungenschaften der Moderne, die wir mit Recht als Fortschritt empfinden,
bedrängen die zierliche Nokokodame Geselligkeit mehr und mehr, daß ihr der
Atem versagt. Und auch andere Merkmale der Neuzeit, die wir vielleicht nicht
als durchaus rühmlich empfinden, sind einer Geselligkeit klassischen Stils
durchaus hinderlich. Zu den letzteren gehört ein gewisser Amerikanismus, der
im neuen Deutschland mehr und mehr um sich greift und der gerade für die
Geselligkeit mörderisch ist. Es ist ja schließlich selbstverständlich, daß in
Millionenstädten gesellige Veranstaltungen gleich einen Monstrecharakter an¬
nehmen, aber es ist beinahe ebenso selbstverständlich, daß hundert oder Hunderte
voll Menschen, die man kunterbunt zusammenlädt, wohl ein glänzendes oder
künstlerisches Bild, nimmermehr aber eine edle Geselligkeit darstellen können.
Die Bewirtung dagegen, auf deren Reichtum oder Einfachheit so verschiedenartig
Wert gelegt wird, scheint mir nebensächlich, war es auch immer: bei der Marschallin
d'Estrses, einem berühmten Salon der Regentschaft, bekamen die Gäste eines
Abends überhaupt nichts zu essen, weil der Butterhändler sich geweigert hatte, der
Frau Marschallin länger Kredit zu geben, wogegen Frau v. Staöl, die Millionärin,
auf fürstlichem Fuß lebte. Aber weder die Ärmlichkeit der einen noch der Luxus
der andern hat die Geselligkeit unterbunden, weil es einem geistig angeregten
Kreise eben gleichgültig ist, was und wie er speist.

Neben dem Amerikanismus kommen zivei weitere Errungenschaften der Neuzeit
gegen die Geselligkeit in Betracht: der Sport und das Reisen. Wer irgend kann,
verbringt heute, gleichviel ob Sommer oder Winter, seine Zeit draußen im Freien;
mit Rad, Rodelschlitten, Skiern oder Tennisschläger erteilt er dem Bezirk der zier¬
lichen Rokokodame, die nur im geschlossenen Raum, am behaglichen Kaminfeuer
ihre artigen Künste spielen lassen kann. Und wie könnte eine harmonische
Geselligkeit entstehen bei einer Gesellschaft, die, kaum vom Sommeraufenthalt
heimgekehrt, schon wieder an Winter- und Frühjahrsreisen, also an häufigste
Entfernung von Geselligkeitsmöglichkeiten denkt! Denn die sattsam bekannte
„reizende Reisegesellschaft", die Reunions in Kurhäusern oder das Zusammen-
sitzen in den Halts moderner Hotelpaläste wird wohl kein ernsthafter Mensch
als Geselligkeitsformen ansehen.


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[0182] Geselligkeit, Gcselligkeitsformen und Gcsclligkeitsslirrogate gegengesetzte Meinung, sehen in menschenreichen Veranstaltungen mit lukullischer Bewirtung und etlichen künstlerischen Produktionen Ziel und Heil aller Geselligkeit. Bei so viel gutem Willen scheint es fast unbegreiflich, daß wir immer noch keine Geselligkeit haben — scheint es aber nur. Ließe sich Geselligkeit einführen wie eine neue Steuer oder eine neue Sektmarke, so besäßen wir sie längst. Aber sie läßt sich nicht von heute auf morgen einführen, sondern bedarf, wie jede Kulturerscheinung, einer langsamen, sorgsam gehüteten Ent¬ wicklung. . . . Darum iverden wir in Deutschland überhaupt keine Geselligkeit höheren Stils mehr bekommen, denn unser Jahrhundert ist nicht nur in Deutschland, sondern auch anderwärts jener Geselligkeit, die ich um ihrer Vorbildlichkeit willen „klassisch" nennen möchte, abhold. Alle möglichen Er¬ rungenschaften der Moderne, die wir mit Recht als Fortschritt empfinden, bedrängen die zierliche Nokokodame Geselligkeit mehr und mehr, daß ihr der Atem versagt. Und auch andere Merkmale der Neuzeit, die wir vielleicht nicht als durchaus rühmlich empfinden, sind einer Geselligkeit klassischen Stils durchaus hinderlich. Zu den letzteren gehört ein gewisser Amerikanismus, der im neuen Deutschland mehr und mehr um sich greift und der gerade für die Geselligkeit mörderisch ist. Es ist ja schließlich selbstverständlich, daß in Millionenstädten gesellige Veranstaltungen gleich einen Monstrecharakter an¬ nehmen, aber es ist beinahe ebenso selbstverständlich, daß hundert oder Hunderte voll Menschen, die man kunterbunt zusammenlädt, wohl ein glänzendes oder künstlerisches Bild, nimmermehr aber eine edle Geselligkeit darstellen können. Die Bewirtung dagegen, auf deren Reichtum oder Einfachheit so verschiedenartig Wert gelegt wird, scheint mir nebensächlich, war es auch immer: bei der Marschallin d'Estrses, einem berühmten Salon der Regentschaft, bekamen die Gäste eines Abends überhaupt nichts zu essen, weil der Butterhändler sich geweigert hatte, der Frau Marschallin länger Kredit zu geben, wogegen Frau v. Staöl, die Millionärin, auf fürstlichem Fuß lebte. Aber weder die Ärmlichkeit der einen noch der Luxus der andern hat die Geselligkeit unterbunden, weil es einem geistig angeregten Kreise eben gleichgültig ist, was und wie er speist. Neben dem Amerikanismus kommen zivei weitere Errungenschaften der Neuzeit gegen die Geselligkeit in Betracht: der Sport und das Reisen. Wer irgend kann, verbringt heute, gleichviel ob Sommer oder Winter, seine Zeit draußen im Freien; mit Rad, Rodelschlitten, Skiern oder Tennisschläger erteilt er dem Bezirk der zier¬ lichen Rokokodame, die nur im geschlossenen Raum, am behaglichen Kaminfeuer ihre artigen Künste spielen lassen kann. Und wie könnte eine harmonische Geselligkeit entstehen bei einer Gesellschaft, die, kaum vom Sommeraufenthalt heimgekehrt, schon wieder an Winter- und Frühjahrsreisen, also an häufigste Entfernung von Geselligkeitsmöglichkeiten denkt! Denn die sattsam bekannte „reizende Reisegesellschaft", die Reunions in Kurhäusern oder das Zusammen- sitzen in den Halts moderner Hotelpaläste wird wohl kein ernsthafter Mensch als Geselligkeitsformen ansehen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/182>, abgerufen am 16.06.2024.