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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Elsaß-lothringische Fragen

verwirren und den Glauben an die Gerechtigkeit der elsaß-lothringischen Forde¬
rungen aufkommen zu lassen und zu festigen.

Nichtsdestoweniger ist zunächst der ganze Gedankengang: "die Erfüllung
der öffentlich - rechtlichen Pflichten gegenüber dem Reiche gäbe der Bevölkerung
Elsaß-Lothringens einen Anspruch, oder wenigstens ein moralisches Recht auf
Autonomie (d. i. im Sinne der Urheber dieses Gedankengangs ein Recht auf
größere Unabhängigkeit vom Reiche, auf eine gewisse Souveränität) -- und die
Nichtanerkennung dieses Anspruchs sei ein demi Land zugefügtes Unrecht" --
von Grund aus falsch.

Daß die Elsaß-Lothringer ihre Steuern bezahlen, daß sie im allgemeinen
(Ausnahmen bestätigen die Regel) auch ihrer Militärpflicht genügen, wird nicht
bestritten; es ist auch noch nicht vorgekommen, daß der Landesansschuß bei
Feststellung des Budgets die erforderlichen Kredite zur Deckung der auf Elsaß-
Lothriugen fallenden Matrikularbeiträge verweigerte; ebensowenig werden wir
wohl jemals das homerische Schauspiel erleben, daß die kampfesfrohen Herren
Wetterle, Blumenthal, Preiß, Pfleger e tutti quanti an der Spitze reisiger
alemannischer Scharen aus den Wäldern und Schluchten der Vogesen hervor¬
brechen, um den unsinnigen Versuch zu machen, die störrische Regierung der
größten Militärmacht der Welt mit Waffengewalt zu zwingen, dem Reichslande
die ersehnte Autonomie zu gewähren. Wenn die elsässischen Politiker in rührender
Bescheidenheit diese uicht bestrittenen Tatsachen als ausreichenden Beweis für
die Loyalität, Intelligenz und politische Reife des elsaß-lothringischen Volkes
angesehen wissen wollen, lmbeant sibi. -- Aber was in aller Welt haben denn
diese Tatsachen mit der Autonomie und mit der Vertretung Elsaß-Lothringens
im Bundesrat zu tuu? Und könnten nicht anderseits Hannoveraner, Hessen,
Polen mit demselben Rechte und denselben Gründen Autonomie verlangen?
Erfüllen nicht die Bewohner dieser Provinzen ihre Pflichten gegenüber
dem Reiche mindestens ebenso wie die Elsaß-Lothringer? Dabei kann Elsaß-
Lothringen nicht einmal geltend machen, daß es die Souveränität, die es
jetzt vou Deutschland als eine ganz selbstverständliche Sache fordert und
die die notwendige Voraussetzung für die Vertretung der elsaß-lothringischen
Negierung im Bundesrat mare, vor der Annexion besessen habe und daß das
Deutsche Reich von: Standpunkte der völkerrechtlichen Moral verpflichtet sei,
das durch die gewaltsame Einverleibung verübte moralische Unrecht durch
Wiedergewährung einer wenn auch uur beschränkten Souveränität (Autonomie)
wieder gut zu machen; denn politische Selbständigkeit hat Elsaß-Lothringen,
zum Unterschiede von Hannover, Hessen, Polen, niemals besessen, -- und eine
besondere elsaß-lothringische Nation gibt es nicht und hat es niemals gegeben.

Und mit den anderen Gründen für die behauptete Notwendigkeit der
Änderung des staatsrechtlichen Verhältnisses Elsaß-Lothringens zum Reiche steht
es nicht besser. Mit Phrasen wie Gewaltherrschaft, Polizeiwillkür, Unter¬
drückung des Volks und dergleichen ist diese Notwendigkeit noch nicht bewiesen.


Elsaß-lothringische Fragen

verwirren und den Glauben an die Gerechtigkeit der elsaß-lothringischen Forde¬
rungen aufkommen zu lassen und zu festigen.

Nichtsdestoweniger ist zunächst der ganze Gedankengang: „die Erfüllung
der öffentlich - rechtlichen Pflichten gegenüber dem Reiche gäbe der Bevölkerung
Elsaß-Lothringens einen Anspruch, oder wenigstens ein moralisches Recht auf
Autonomie (d. i. im Sinne der Urheber dieses Gedankengangs ein Recht auf
größere Unabhängigkeit vom Reiche, auf eine gewisse Souveränität) — und die
Nichtanerkennung dieses Anspruchs sei ein demi Land zugefügtes Unrecht" —
von Grund aus falsch.

Daß die Elsaß-Lothringer ihre Steuern bezahlen, daß sie im allgemeinen
(Ausnahmen bestätigen die Regel) auch ihrer Militärpflicht genügen, wird nicht
bestritten; es ist auch noch nicht vorgekommen, daß der Landesansschuß bei
Feststellung des Budgets die erforderlichen Kredite zur Deckung der auf Elsaß-
Lothriugen fallenden Matrikularbeiträge verweigerte; ebensowenig werden wir
wohl jemals das homerische Schauspiel erleben, daß die kampfesfrohen Herren
Wetterle, Blumenthal, Preiß, Pfleger e tutti quanti an der Spitze reisiger
alemannischer Scharen aus den Wäldern und Schluchten der Vogesen hervor¬
brechen, um den unsinnigen Versuch zu machen, die störrische Regierung der
größten Militärmacht der Welt mit Waffengewalt zu zwingen, dem Reichslande
die ersehnte Autonomie zu gewähren. Wenn die elsässischen Politiker in rührender
Bescheidenheit diese uicht bestrittenen Tatsachen als ausreichenden Beweis für
die Loyalität, Intelligenz und politische Reife des elsaß-lothringischen Volkes
angesehen wissen wollen, lmbeant sibi. — Aber was in aller Welt haben denn
diese Tatsachen mit der Autonomie und mit der Vertretung Elsaß-Lothringens
im Bundesrat zu tuu? Und könnten nicht anderseits Hannoveraner, Hessen,
Polen mit demselben Rechte und denselben Gründen Autonomie verlangen?
Erfüllen nicht die Bewohner dieser Provinzen ihre Pflichten gegenüber
dem Reiche mindestens ebenso wie die Elsaß-Lothringer? Dabei kann Elsaß-
Lothringen nicht einmal geltend machen, daß es die Souveränität, die es
jetzt vou Deutschland als eine ganz selbstverständliche Sache fordert und
die die notwendige Voraussetzung für die Vertretung der elsaß-lothringischen
Negierung im Bundesrat mare, vor der Annexion besessen habe und daß das
Deutsche Reich von: Standpunkte der völkerrechtlichen Moral verpflichtet sei,
das durch die gewaltsame Einverleibung verübte moralische Unrecht durch
Wiedergewährung einer wenn auch uur beschränkten Souveränität (Autonomie)
wieder gut zu machen; denn politische Selbständigkeit hat Elsaß-Lothringen,
zum Unterschiede von Hannover, Hessen, Polen, niemals besessen, — und eine
besondere elsaß-lothringische Nation gibt es nicht und hat es niemals gegeben.

Und mit den anderen Gründen für die behauptete Notwendigkeit der
Änderung des staatsrechtlichen Verhältnisses Elsaß-Lothringens zum Reiche steht
es nicht besser. Mit Phrasen wie Gewaltherrschaft, Polizeiwillkür, Unter¬
drückung des Volks und dergleichen ist diese Notwendigkeit noch nicht bewiesen.


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[0216] Elsaß-lothringische Fragen verwirren und den Glauben an die Gerechtigkeit der elsaß-lothringischen Forde¬ rungen aufkommen zu lassen und zu festigen. Nichtsdestoweniger ist zunächst der ganze Gedankengang: „die Erfüllung der öffentlich - rechtlichen Pflichten gegenüber dem Reiche gäbe der Bevölkerung Elsaß-Lothringens einen Anspruch, oder wenigstens ein moralisches Recht auf Autonomie (d. i. im Sinne der Urheber dieses Gedankengangs ein Recht auf größere Unabhängigkeit vom Reiche, auf eine gewisse Souveränität) — und die Nichtanerkennung dieses Anspruchs sei ein demi Land zugefügtes Unrecht" — von Grund aus falsch. Daß die Elsaß-Lothringer ihre Steuern bezahlen, daß sie im allgemeinen (Ausnahmen bestätigen die Regel) auch ihrer Militärpflicht genügen, wird nicht bestritten; es ist auch noch nicht vorgekommen, daß der Landesansschuß bei Feststellung des Budgets die erforderlichen Kredite zur Deckung der auf Elsaß- Lothriugen fallenden Matrikularbeiträge verweigerte; ebensowenig werden wir wohl jemals das homerische Schauspiel erleben, daß die kampfesfrohen Herren Wetterle, Blumenthal, Preiß, Pfleger e tutti quanti an der Spitze reisiger alemannischer Scharen aus den Wäldern und Schluchten der Vogesen hervor¬ brechen, um den unsinnigen Versuch zu machen, die störrische Regierung der größten Militärmacht der Welt mit Waffengewalt zu zwingen, dem Reichslande die ersehnte Autonomie zu gewähren. Wenn die elsässischen Politiker in rührender Bescheidenheit diese uicht bestrittenen Tatsachen als ausreichenden Beweis für die Loyalität, Intelligenz und politische Reife des elsaß-lothringischen Volkes angesehen wissen wollen, lmbeant sibi. — Aber was in aller Welt haben denn diese Tatsachen mit der Autonomie und mit der Vertretung Elsaß-Lothringens im Bundesrat zu tuu? Und könnten nicht anderseits Hannoveraner, Hessen, Polen mit demselben Rechte und denselben Gründen Autonomie verlangen? Erfüllen nicht die Bewohner dieser Provinzen ihre Pflichten gegenüber dem Reiche mindestens ebenso wie die Elsaß-Lothringer? Dabei kann Elsaß- Lothringen nicht einmal geltend machen, daß es die Souveränität, die es jetzt vou Deutschland als eine ganz selbstverständliche Sache fordert und die die notwendige Voraussetzung für die Vertretung der elsaß-lothringischen Negierung im Bundesrat mare, vor der Annexion besessen habe und daß das Deutsche Reich von: Standpunkte der völkerrechtlichen Moral verpflichtet sei, das durch die gewaltsame Einverleibung verübte moralische Unrecht durch Wiedergewährung einer wenn auch uur beschränkten Souveränität (Autonomie) wieder gut zu machen; denn politische Selbständigkeit hat Elsaß-Lothringen, zum Unterschiede von Hannover, Hessen, Polen, niemals besessen, — und eine besondere elsaß-lothringische Nation gibt es nicht und hat es niemals gegeben. Und mit den anderen Gründen für die behauptete Notwendigkeit der Änderung des staatsrechtlichen Verhältnisses Elsaß-Lothringens zum Reiche steht es nicht besser. Mit Phrasen wie Gewaltherrschaft, Polizeiwillkür, Unter¬ drückung des Volks und dergleichen ist diese Notwendigkeit noch nicht bewiesen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/216>, abgerufen am 21.05.2024.