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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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?as Iivcckverbandsgesctz für Groß-Lerlin

Man ist versucht zu sagen: Endlich einmal ein Lichtblick! Anscheinend gibt
es doch noch Persönlichkeiten, die über die an sich gewiß berechtigten und in
ihrem Kern gesunden egoistischen Triebe der einzelnen die Notwendigkeiten der
Gesamtheit nicht übersehen. Denn die Wünsche der einzelnen dürfen doch bei
der Fassung von folgenschweren Entschließungen und Entscheidungen nicht allein
maßgeblich sein. In erster Linie muß dies stets der Grundsatz sein: 3ain8
publica 8uprema lex L8to. Ein Schulbeispiel für die Nichtbefolgung dieses
Grundsatzes bietet die Aufnahme, die der Zwangsverbandsgesetzentwurf für Groß-
Berlin bei den beteiligten Gemeinden und Kommunalverbänden und auch bei
manchen Kommunalpolitikern gefunden hat. Nicht eine einzige Petition -- und
fast alle in Betracht kommenden größeren Gemeinden und die beiden Kommunal¬
verbände Teltow und Niederbarnim haben solche an den Landtag gerichtet --
läßt erkennen, daß ihre Verfasser sich von den altgewohnten partikularistischen
Gedankengängen haben losmachen können, die zum Teil wenigstens an den
heutigen beklagenswerten Groß-Berliner Mißständen nicht ganz unschuldig sind.
Jede Petition ist von dem Gedanken beherrscht: Fromme es meiner Gemeinde
oder nicht? Daß das Gesetz für eine Gemeinde augenblickliche Nachteile zwar
haben kann, daß hierdurch anderseits aber der Gesamtheit Groß-Berlin Vorteile
erwachsen können, daran ist nicht gedacht.

Die erste Einladung über den in Verkehrsangelegenheiten zu gründenden
Zweckverband ging seinerzeit voll Berlin aus. Die Verhandlungen nahmen
anfangs einen erfreulichen Verlauf. Auch im Berliner Stadtparlament wurde
die Vorlage allseitig warn: begrüßt und von dem Führer der Mehrheit, Cassel,
als außerordentlich gut begründet bezeichnet. In Berlin hatte man keine Bedenken,
auch in den Vororten nicht. Das änderte sich indessen bald. Die Vororte
sahen ein, daß, wenn der Verkehrszweckverband lediglich ein Mittel zur Bekämpfung
der Großen Berliner Straßenbahn sein solle, sie an der Bildung des Verbandes
kein großes Interesse hätten. Die Übernahme der Straßenbahn ist bekanntlich
unter rund 1 Milliarde Mark nicht durchzuführen, und die Vororte hätten der¬
gestalt nur geholfen, Berlin das Risiko zu erleichtern, von dem dieses nach der
Realisierung bei weitem den größten, wenn nicht ausschließlichen Nutzen gehabt
hätte. Die Vororte verlangten daher, Berlin solle die Einbeziehung des Erwerbes,
Baues und Betriebes von Schnellbahnen in den Aufgabenkreis des Verbandes
zulassen oder sich an der Gründung eines weiteren Zweckverbandes be¬
teiligen, der die planmäßige Schaffung eines Schnellbahnnetzes für Groß-Berlin
regete. Hierauf ist Berlin nicht eingegangen, da jede neue Schnellbahn die
schon in weitesten Maße bestehende Flucht der leistungsfähigen Steuerzahler aus
Berlin in höherem Grade fördert. Die Stadtgemeinde Berlin wollte sich also
helfen lassen, war aber zu Gegenleistungen nicht bereit. Das alte Schauspiel:
Hie Berlin, hie Vororte! Ans demselben Grunde ist Berlin gegen den neuen
Entwurf des Zwangszweckverbandsgesetzes, der im H 4 Abs. 1 die Schnell¬
bahneil einbegreift. Das gleiche ist mit dem Wald- und Wiesengürtel der Fall,


?as Iivcckverbandsgesctz für Groß-Lerlin

Man ist versucht zu sagen: Endlich einmal ein Lichtblick! Anscheinend gibt
es doch noch Persönlichkeiten, die über die an sich gewiß berechtigten und in
ihrem Kern gesunden egoistischen Triebe der einzelnen die Notwendigkeiten der
Gesamtheit nicht übersehen. Denn die Wünsche der einzelnen dürfen doch bei
der Fassung von folgenschweren Entschließungen und Entscheidungen nicht allein
maßgeblich sein. In erster Linie muß dies stets der Grundsatz sein: 3ain8
publica 8uprema lex L8to. Ein Schulbeispiel für die Nichtbefolgung dieses
Grundsatzes bietet die Aufnahme, die der Zwangsverbandsgesetzentwurf für Groß-
Berlin bei den beteiligten Gemeinden und Kommunalverbänden und auch bei
manchen Kommunalpolitikern gefunden hat. Nicht eine einzige Petition — und
fast alle in Betracht kommenden größeren Gemeinden und die beiden Kommunal¬
verbände Teltow und Niederbarnim haben solche an den Landtag gerichtet —
läßt erkennen, daß ihre Verfasser sich von den altgewohnten partikularistischen
Gedankengängen haben losmachen können, die zum Teil wenigstens an den
heutigen beklagenswerten Groß-Berliner Mißständen nicht ganz unschuldig sind.
Jede Petition ist von dem Gedanken beherrscht: Fromme es meiner Gemeinde
oder nicht? Daß das Gesetz für eine Gemeinde augenblickliche Nachteile zwar
haben kann, daß hierdurch anderseits aber der Gesamtheit Groß-Berlin Vorteile
erwachsen können, daran ist nicht gedacht.

Die erste Einladung über den in Verkehrsangelegenheiten zu gründenden
Zweckverband ging seinerzeit voll Berlin aus. Die Verhandlungen nahmen
anfangs einen erfreulichen Verlauf. Auch im Berliner Stadtparlament wurde
die Vorlage allseitig warn: begrüßt und von dem Führer der Mehrheit, Cassel,
als außerordentlich gut begründet bezeichnet. In Berlin hatte man keine Bedenken,
auch in den Vororten nicht. Das änderte sich indessen bald. Die Vororte
sahen ein, daß, wenn der Verkehrszweckverband lediglich ein Mittel zur Bekämpfung
der Großen Berliner Straßenbahn sein solle, sie an der Bildung des Verbandes
kein großes Interesse hätten. Die Übernahme der Straßenbahn ist bekanntlich
unter rund 1 Milliarde Mark nicht durchzuführen, und die Vororte hätten der¬
gestalt nur geholfen, Berlin das Risiko zu erleichtern, von dem dieses nach der
Realisierung bei weitem den größten, wenn nicht ausschließlichen Nutzen gehabt
hätte. Die Vororte verlangten daher, Berlin solle die Einbeziehung des Erwerbes,
Baues und Betriebes von Schnellbahnen in den Aufgabenkreis des Verbandes
zulassen oder sich an der Gründung eines weiteren Zweckverbandes be¬
teiligen, der die planmäßige Schaffung eines Schnellbahnnetzes für Groß-Berlin
regete. Hierauf ist Berlin nicht eingegangen, da jede neue Schnellbahn die
schon in weitesten Maße bestehende Flucht der leistungsfähigen Steuerzahler aus
Berlin in höherem Grade fördert. Die Stadtgemeinde Berlin wollte sich also
helfen lassen, war aber zu Gegenleistungen nicht bereit. Das alte Schauspiel:
Hie Berlin, hie Vororte! Ans demselben Grunde ist Berlin gegen den neuen
Entwurf des Zwangszweckverbandsgesetzes, der im H 4 Abs. 1 die Schnell¬
bahneil einbegreift. Das gleiche ist mit dem Wald- und Wiesengürtel der Fall,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/432>, abgerufen am 21.05.2024.