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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Die Uunst, (Österreich zu regieren

Weise wieder zu einer Verfassung kommen, die seinen Interessen gemäß ist. Die
schlechteste Verfassung, die größte Mitzregierung kann doch schließlich nicht Millionen
Menschen, die ein Land dicht bevölkern, von der Karte wegwischen. Bei
einem Völkerstaat wie Österreich liegen die Dinge aber wesentlich anders. Hier
greift der nationale Wille einzelner Völker den Staat als solchen an; es können
Verhältnisse geschaffen werden, die unwiderruflich sind, der Wille zur Gemein¬
schaft kann dauernd ausgelöscht werden, kurzum das Übel trägt seine Heilmittel
durchaus nicht in sich selbst.

In einem Nationalstaat scheiden sich die Parteien nach politischen, wirt¬
schaftlichen, konfessionellen Gesichtspunkten. Diese Scheidungen gibt es in Österreich
auch, aber neben ihnen laufen noch die nationalen; man kann ein klerikaler
Deutscher, ein agrarischer Tscheche, ein freisinniger Pole, ein sozialdemokratischer
Italiener sein; und je weitergehend das Wahlrecht ist, desto größer ist die Aussicht,
daß alle diese Schattierungen in der Volksvertretung zum Ausdruck kommen.
Tatsächlich finden sie auch höchstens in der numerisch geringen Zahl mancher
Nationalitäten ihre Grenze, so daß schließlich jede Spielart politischer Gesinnung
nicht mehr durch eine Zahleneinheit dargestellt werden kann. Das Ergebnis ist
eine politische Atomisierung, der der nationale Zusammenschluß noch als das
stärkste Bindemittel gegenübersteht; für die Aufgabe, mit dem Parlament zu
regieren, entstehen aber recht eigenartige und nicht ganz einfache Probleme.

Das Parlament ist in Österreich rund fünfzig Jahre alt; von seinem Vor¬
läufer, dem achtundvierziger Reichstag, kann man wohl absehen, da er ein zu
kurzes Dasein geführt hat. In der ersten Zeit des österreichischen Ver¬
fassungslebens hat es an Staatsstreichen und Verfassungsänderungen ohne
Mitwirkung des Reichsrath nicht gefehlt; die Gegensätze drehten sich im allgemeinen
um Zentralismus und Föderalismus. Die Anstöße zu den Veränderungen selbst
gingen aber keineswegs vom Parlament aus, das damals von den Landtagen
gewählt, eine für die Negierung sehr leicht zu handhabende Körperschaft war.
Die ersten zwanzig Jahre des österreichischen Parlamentarismus sind gekenn¬
zeichnet durch die Herrschaft des freiheitlichen deutschen Bürgertums. Dabei
klang die nationale Note aber nur ganz verstohlen mit; das deutsche Volk war
eben wirtschaftlich und politisch am weitesten entwickelt, es konnte in erster Linie
die Kräfte stellen, die zur Umschaffung in einen modernen Staat befähigt
waren. Außerdem hatte gerade das deutsche Bürgertum den engsten Zusammen¬
hang mit der früher allmächtigen Bureaukratie, und der Übergang, oder wohl
besser gesagt die Teilung der Gewalt, konnte sich so mit den geringsten Er¬
schütterungen vollziehen. Die erste nationale Auseinandersetzung findet in dieser
Zeit mit den Polen statt, denen Galizien auf Kosten des Zentralismus als
Herrschaftsgebiet überlassen wird. Mit dem Ministerium Tciaffe, das das dritte
Jahrzehnt des österreichischen Parlamentarismus vollkommen ausfüllt, treten die
nationalen Fragen in deu Vordergrund; sie decken sich nicht vollkommen mit den
Gegensätzen Zentralismus und Föderalismus. So treten die Deutschklerikalen


Die Uunst, (Österreich zu regieren

Weise wieder zu einer Verfassung kommen, die seinen Interessen gemäß ist. Die
schlechteste Verfassung, die größte Mitzregierung kann doch schließlich nicht Millionen
Menschen, die ein Land dicht bevölkern, von der Karte wegwischen. Bei
einem Völkerstaat wie Österreich liegen die Dinge aber wesentlich anders. Hier
greift der nationale Wille einzelner Völker den Staat als solchen an; es können
Verhältnisse geschaffen werden, die unwiderruflich sind, der Wille zur Gemein¬
schaft kann dauernd ausgelöscht werden, kurzum das Übel trägt seine Heilmittel
durchaus nicht in sich selbst.

In einem Nationalstaat scheiden sich die Parteien nach politischen, wirt¬
schaftlichen, konfessionellen Gesichtspunkten. Diese Scheidungen gibt es in Österreich
auch, aber neben ihnen laufen noch die nationalen; man kann ein klerikaler
Deutscher, ein agrarischer Tscheche, ein freisinniger Pole, ein sozialdemokratischer
Italiener sein; und je weitergehend das Wahlrecht ist, desto größer ist die Aussicht,
daß alle diese Schattierungen in der Volksvertretung zum Ausdruck kommen.
Tatsächlich finden sie auch höchstens in der numerisch geringen Zahl mancher
Nationalitäten ihre Grenze, so daß schließlich jede Spielart politischer Gesinnung
nicht mehr durch eine Zahleneinheit dargestellt werden kann. Das Ergebnis ist
eine politische Atomisierung, der der nationale Zusammenschluß noch als das
stärkste Bindemittel gegenübersteht; für die Aufgabe, mit dem Parlament zu
regieren, entstehen aber recht eigenartige und nicht ganz einfache Probleme.

Das Parlament ist in Österreich rund fünfzig Jahre alt; von seinem Vor¬
läufer, dem achtundvierziger Reichstag, kann man wohl absehen, da er ein zu
kurzes Dasein geführt hat. In der ersten Zeit des österreichischen Ver¬
fassungslebens hat es an Staatsstreichen und Verfassungsänderungen ohne
Mitwirkung des Reichsrath nicht gefehlt; die Gegensätze drehten sich im allgemeinen
um Zentralismus und Föderalismus. Die Anstöße zu den Veränderungen selbst
gingen aber keineswegs vom Parlament aus, das damals von den Landtagen
gewählt, eine für die Negierung sehr leicht zu handhabende Körperschaft war.
Die ersten zwanzig Jahre des österreichischen Parlamentarismus sind gekenn¬
zeichnet durch die Herrschaft des freiheitlichen deutschen Bürgertums. Dabei
klang die nationale Note aber nur ganz verstohlen mit; das deutsche Volk war
eben wirtschaftlich und politisch am weitesten entwickelt, es konnte in erster Linie
die Kräfte stellen, die zur Umschaffung in einen modernen Staat befähigt
waren. Außerdem hatte gerade das deutsche Bürgertum den engsten Zusammen¬
hang mit der früher allmächtigen Bureaukratie, und der Übergang, oder wohl
besser gesagt die Teilung der Gewalt, konnte sich so mit den geringsten Er¬
schütterungen vollziehen. Die erste nationale Auseinandersetzung findet in dieser
Zeit mit den Polen statt, denen Galizien auf Kosten des Zentralismus als
Herrschaftsgebiet überlassen wird. Mit dem Ministerium Tciaffe, das das dritte
Jahrzehnt des österreichischen Parlamentarismus vollkommen ausfüllt, treten die
nationalen Fragen in deu Vordergrund; sie decken sich nicht vollkommen mit den
Gegensätzen Zentralismus und Föderalismus. So treten die Deutschklerikalen


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[0472] Die Uunst, (Österreich zu regieren Weise wieder zu einer Verfassung kommen, die seinen Interessen gemäß ist. Die schlechteste Verfassung, die größte Mitzregierung kann doch schließlich nicht Millionen Menschen, die ein Land dicht bevölkern, von der Karte wegwischen. Bei einem Völkerstaat wie Österreich liegen die Dinge aber wesentlich anders. Hier greift der nationale Wille einzelner Völker den Staat als solchen an; es können Verhältnisse geschaffen werden, die unwiderruflich sind, der Wille zur Gemein¬ schaft kann dauernd ausgelöscht werden, kurzum das Übel trägt seine Heilmittel durchaus nicht in sich selbst. In einem Nationalstaat scheiden sich die Parteien nach politischen, wirt¬ schaftlichen, konfessionellen Gesichtspunkten. Diese Scheidungen gibt es in Österreich auch, aber neben ihnen laufen noch die nationalen; man kann ein klerikaler Deutscher, ein agrarischer Tscheche, ein freisinniger Pole, ein sozialdemokratischer Italiener sein; und je weitergehend das Wahlrecht ist, desto größer ist die Aussicht, daß alle diese Schattierungen in der Volksvertretung zum Ausdruck kommen. Tatsächlich finden sie auch höchstens in der numerisch geringen Zahl mancher Nationalitäten ihre Grenze, so daß schließlich jede Spielart politischer Gesinnung nicht mehr durch eine Zahleneinheit dargestellt werden kann. Das Ergebnis ist eine politische Atomisierung, der der nationale Zusammenschluß noch als das stärkste Bindemittel gegenübersteht; für die Aufgabe, mit dem Parlament zu regieren, entstehen aber recht eigenartige und nicht ganz einfache Probleme. Das Parlament ist in Österreich rund fünfzig Jahre alt; von seinem Vor¬ läufer, dem achtundvierziger Reichstag, kann man wohl absehen, da er ein zu kurzes Dasein geführt hat. In der ersten Zeit des österreichischen Ver¬ fassungslebens hat es an Staatsstreichen und Verfassungsänderungen ohne Mitwirkung des Reichsrath nicht gefehlt; die Gegensätze drehten sich im allgemeinen um Zentralismus und Föderalismus. Die Anstöße zu den Veränderungen selbst gingen aber keineswegs vom Parlament aus, das damals von den Landtagen gewählt, eine für die Negierung sehr leicht zu handhabende Körperschaft war. Die ersten zwanzig Jahre des österreichischen Parlamentarismus sind gekenn¬ zeichnet durch die Herrschaft des freiheitlichen deutschen Bürgertums. Dabei klang die nationale Note aber nur ganz verstohlen mit; das deutsche Volk war eben wirtschaftlich und politisch am weitesten entwickelt, es konnte in erster Linie die Kräfte stellen, die zur Umschaffung in einen modernen Staat befähigt waren. Außerdem hatte gerade das deutsche Bürgertum den engsten Zusammen¬ hang mit der früher allmächtigen Bureaukratie, und der Übergang, oder wohl besser gesagt die Teilung der Gewalt, konnte sich so mit den geringsten Er¬ schütterungen vollziehen. Die erste nationale Auseinandersetzung findet in dieser Zeit mit den Polen statt, denen Galizien auf Kosten des Zentralismus als Herrschaftsgebiet überlassen wird. Mit dem Ministerium Tciaffe, das das dritte Jahrzehnt des österreichischen Parlamentarismus vollkommen ausfüllt, treten die nationalen Fragen in deu Vordergrund; sie decken sich nicht vollkommen mit den Gegensätzen Zentralismus und Föderalismus. So treten die Deutschklerikalen

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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/472>, abgerufen am 21.05.2024.