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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Reichsspicgel

habe eine große .Schuld' auf sich geladen. Das Ablassen von der üblen
Gewohnheit erscheint aber in weitaus den meisten Fällen den damit Behafteten --
bei ihrer geschwächten psychophysischen Energie -- als eine ihre Kräfte über¬
steigende Aufgabe. Der Schüler also argumentiert: Ich lade andauernd eine
.Schuld' auf mich, der ich nicht zu entrinnen vermag. ,Der Übel größtes aber
ist die Schuld/ Wertvoller als das Leben -- das nicht der Güter höchstes
ist -- ist die Schuldlosigkeit. -- Und mit der unaufhebbaren Notwendigkeit
eines Syllogismus folgt aus den Prämissen dieser Argumentation sür die irre¬
geleitete .idealistische' Logik unseres Schülers der Entschluß, dieses schuldbeladene
Leben von sich zu werfen. Solche Beispiele, in denen ein überspannter Idealismus
einem Schüler die tödliche Waffe in die Hand drücken kann, lassen sich hundert¬
fältig häufen. Jeder möge sie aus seinen persönlichen Erfahrungen ergänzen.
Es genügt bei einer sensiblen Natur oft schon das innige Sich-Hinein-Denken und
Verstehen oder vielleicht auch Mißverstehen eines einzigen Gedankenganges eines
Idealisten, um in der jungen Seele ein Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit
hervorzurufen, welches das Leben als unerträglich erscheinen läßt. Man nehme
etwa die Forderungen des ethischen Rigorismus eines Fichte, die Behauptung
dieses Idealisten, daß nur derjenige das Recht zu leben habe, der den unbedingten
Anforderungen des Sittengesetzes standhalten kann, und vergegenwärtige sich, in
welch verhängnisvoller Weise ein solcher Ausspruch auf ein jugendliches Gemüt
wirken kann, das die Worte der Philosophen noch nicht aus ihren philosophie¬
geschichtlichen Bedingungen heraus verstehen und einzuschätzen gelernt hat."

Die Ausführungen des Berner Schulmannes werden durch die Fest¬
stellung der amtlichen Statistik, daß die Großstädte am meisten Selbstmorde
von Schülern aufweisen, nicht abgeschwächt. Der leicht herbeigezogene Grund,
die Laster der Großstadt seien schuld an dieser Erscheinung, kann doch nur in
den seltensten Fällen als stichhaltig gelten. Man erinnere sich nur der Tatsache,
wie viele Eltern aus der Provinz ihre Söhne in die mit reichen Stipendien
ausgerüsteten Großstadtschulen, einschließlich der großen Alumnate, geben. Sollte
nicht häufig in diesem Zusammenhange ein Unglück geschehen sein? Es wäre eine
dankbare Aufgabe der Schulverwaltung, auch darüber Angaben zu ver¬
öffentlichen, ob die jugendlichen Selbstmörder in den Großstädten von der
Provinz hereingekommen sind oder nicht. Ebenso scheint mirAuskunft erwünscht über
eine andere Frage. Stammen die jugendlichen Selbstmörder aus Familien mit
zahlreichen Kindern oder mit wenigen? Oder lassen sich in dieser Beziehung
Normen nicht feststellen? Zusammen mit anderen Daten könnte man aus der
Beantwortung dieser Frage Schlüsse auf Degenerationserscheinungen ziehen, die
auch den Weg zur Abhilfe wiesen. Ich habe z. B. auch bei einigen Selbst¬
morden beobachtet, daß es sich dabei um das einzige Kind oder um ein Kind
von nur zweien handelte, während mir kein Fall bekannt geworden ist, wo der
Selbstmörder einer mit zahlreichen Kindern gesegneten Familie angehörte.


G. Li,
Reichsspicgel

habe eine große .Schuld' auf sich geladen. Das Ablassen von der üblen
Gewohnheit erscheint aber in weitaus den meisten Fällen den damit Behafteten —
bei ihrer geschwächten psychophysischen Energie — als eine ihre Kräfte über¬
steigende Aufgabe. Der Schüler also argumentiert: Ich lade andauernd eine
.Schuld' auf mich, der ich nicht zu entrinnen vermag. ,Der Übel größtes aber
ist die Schuld/ Wertvoller als das Leben — das nicht der Güter höchstes
ist — ist die Schuldlosigkeit. — Und mit der unaufhebbaren Notwendigkeit
eines Syllogismus folgt aus den Prämissen dieser Argumentation sür die irre¬
geleitete .idealistische' Logik unseres Schülers der Entschluß, dieses schuldbeladene
Leben von sich zu werfen. Solche Beispiele, in denen ein überspannter Idealismus
einem Schüler die tödliche Waffe in die Hand drücken kann, lassen sich hundert¬
fältig häufen. Jeder möge sie aus seinen persönlichen Erfahrungen ergänzen.
Es genügt bei einer sensiblen Natur oft schon das innige Sich-Hinein-Denken und
Verstehen oder vielleicht auch Mißverstehen eines einzigen Gedankenganges eines
Idealisten, um in der jungen Seele ein Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit
hervorzurufen, welches das Leben als unerträglich erscheinen läßt. Man nehme
etwa die Forderungen des ethischen Rigorismus eines Fichte, die Behauptung
dieses Idealisten, daß nur derjenige das Recht zu leben habe, der den unbedingten
Anforderungen des Sittengesetzes standhalten kann, und vergegenwärtige sich, in
welch verhängnisvoller Weise ein solcher Ausspruch auf ein jugendliches Gemüt
wirken kann, das die Worte der Philosophen noch nicht aus ihren philosophie¬
geschichtlichen Bedingungen heraus verstehen und einzuschätzen gelernt hat."

Die Ausführungen des Berner Schulmannes werden durch die Fest¬
stellung der amtlichen Statistik, daß die Großstädte am meisten Selbstmorde
von Schülern aufweisen, nicht abgeschwächt. Der leicht herbeigezogene Grund,
die Laster der Großstadt seien schuld an dieser Erscheinung, kann doch nur in
den seltensten Fällen als stichhaltig gelten. Man erinnere sich nur der Tatsache,
wie viele Eltern aus der Provinz ihre Söhne in die mit reichen Stipendien
ausgerüsteten Großstadtschulen, einschließlich der großen Alumnate, geben. Sollte
nicht häufig in diesem Zusammenhange ein Unglück geschehen sein? Es wäre eine
dankbare Aufgabe der Schulverwaltung, auch darüber Angaben zu ver¬
öffentlichen, ob die jugendlichen Selbstmörder in den Großstädten von der
Provinz hereingekommen sind oder nicht. Ebenso scheint mirAuskunft erwünscht über
eine andere Frage. Stammen die jugendlichen Selbstmörder aus Familien mit
zahlreichen Kindern oder mit wenigen? Oder lassen sich in dieser Beziehung
Normen nicht feststellen? Zusammen mit anderen Daten könnte man aus der
Beantwortung dieser Frage Schlüsse auf Degenerationserscheinungen ziehen, die
auch den Weg zur Abhilfe wiesen. Ich habe z. B. auch bei einigen Selbst¬
morden beobachtet, daß es sich dabei um das einzige Kind oder um ein Kind
von nur zweien handelte, während mir kein Fall bekannt geworden ist, wo der
Selbstmörder einer mit zahlreichen Kindern gesegneten Familie angehörte.


G. Li,
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[0146] Reichsspicgel habe eine große .Schuld' auf sich geladen. Das Ablassen von der üblen Gewohnheit erscheint aber in weitaus den meisten Fällen den damit Behafteten — bei ihrer geschwächten psychophysischen Energie — als eine ihre Kräfte über¬ steigende Aufgabe. Der Schüler also argumentiert: Ich lade andauernd eine .Schuld' auf mich, der ich nicht zu entrinnen vermag. ,Der Übel größtes aber ist die Schuld/ Wertvoller als das Leben — das nicht der Güter höchstes ist — ist die Schuldlosigkeit. — Und mit der unaufhebbaren Notwendigkeit eines Syllogismus folgt aus den Prämissen dieser Argumentation sür die irre¬ geleitete .idealistische' Logik unseres Schülers der Entschluß, dieses schuldbeladene Leben von sich zu werfen. Solche Beispiele, in denen ein überspannter Idealismus einem Schüler die tödliche Waffe in die Hand drücken kann, lassen sich hundert¬ fältig häufen. Jeder möge sie aus seinen persönlichen Erfahrungen ergänzen. Es genügt bei einer sensiblen Natur oft schon das innige Sich-Hinein-Denken und Verstehen oder vielleicht auch Mißverstehen eines einzigen Gedankenganges eines Idealisten, um in der jungen Seele ein Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit hervorzurufen, welches das Leben als unerträglich erscheinen läßt. Man nehme etwa die Forderungen des ethischen Rigorismus eines Fichte, die Behauptung dieses Idealisten, daß nur derjenige das Recht zu leben habe, der den unbedingten Anforderungen des Sittengesetzes standhalten kann, und vergegenwärtige sich, in welch verhängnisvoller Weise ein solcher Ausspruch auf ein jugendliches Gemüt wirken kann, das die Worte der Philosophen noch nicht aus ihren philosophie¬ geschichtlichen Bedingungen heraus verstehen und einzuschätzen gelernt hat." Die Ausführungen des Berner Schulmannes werden durch die Fest¬ stellung der amtlichen Statistik, daß die Großstädte am meisten Selbstmorde von Schülern aufweisen, nicht abgeschwächt. Der leicht herbeigezogene Grund, die Laster der Großstadt seien schuld an dieser Erscheinung, kann doch nur in den seltensten Fällen als stichhaltig gelten. Man erinnere sich nur der Tatsache, wie viele Eltern aus der Provinz ihre Söhne in die mit reichen Stipendien ausgerüsteten Großstadtschulen, einschließlich der großen Alumnate, geben. Sollte nicht häufig in diesem Zusammenhange ein Unglück geschehen sein? Es wäre eine dankbare Aufgabe der Schulverwaltung, auch darüber Angaben zu ver¬ öffentlichen, ob die jugendlichen Selbstmörder in den Großstädten von der Provinz hereingekommen sind oder nicht. Ebenso scheint mirAuskunft erwünscht über eine andere Frage. Stammen die jugendlichen Selbstmörder aus Familien mit zahlreichen Kindern oder mit wenigen? Oder lassen sich in dieser Beziehung Normen nicht feststellen? Zusammen mit anderen Daten könnte man aus der Beantwortung dieser Frage Schlüsse auf Degenerationserscheinungen ziehen, die auch den Weg zur Abhilfe wiesen. Ich habe z. B. auch bei einigen Selbst¬ morden beobachtet, daß es sich dabei um das einzige Kind oder um ein Kind von nur zweien handelte, während mir kein Fall bekannt geworden ist, wo der Selbstmörder einer mit zahlreichen Kindern gesegneten Familie angehörte. G. Li,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/146>, abgerufen am 09.06.2024.