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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Biologie und Politik

Staaten als etwas Entsprechendes betrachten wollten, würden wir einen ver¬
hängnisvollen Fehler machen. Vor allen Dingen fehlt die generative Geschlossen¬
heit dieser Tierstaaten. Wie wir uns aber auch die Entstehung der menschlichen
Staaten denken mögen, die biologische Grundlage ist jedenfalls auch hier der allem
Lebenden innewohnende Trieb zur Vergesellschaftung. Dieser Trieb ist ebenso
elementar wie der Selbsterhaltungstrieb, oder besser der Trieb zur Selbst¬
behauptung, der zum allgemeinen Wettbewerb, zum "Kampf ums Dasein" führt,
und kann nicht wegen eines etwaigen Nutzens erst durch letzteren entstanden sein.
Es würde zu weit führen, diese Behauptung hier aus Tatsachen des tierischen
Lebens abzuleiten; es genügt, darauf hinzuweisen, daß er auch beim Menschen
noch unmittelbar wirksam ist, auch gegen das Prinzip der Selbstbehauptung und
unabhängig von der Herausbildung einer natürlichen Einheit höherer Ordnung,
Familie, Horde, Volksstamm, bei denen der Trieb zur Selbstbehauptung, zum
Kollektivegoismus erweitert ist. Es handelt sich um die im öffentlichen Leben
fast täglich zu beobachtende Neigung der Menschheit, eine "Masse" zu bilden
im Sinne von Gustave Le Bon, dessen lehrreiche Ausführungen ("Psychologie
der Massen", deutsch von Rud. Eifler, Leipzig 1908) allen Politikern zur
wiederholten Lesung dringend empfohlen werden können, wenn auch seine Auf¬
fassung der Rasse naturwissenschaftlich auf schwachen Füßen steht und seine
Schlußbetrachtungen über Werden und Verfall der Kulturen dadurch sehr an¬
greifbar werden.

"An einer psychologischen Masse", sagt er (S. 12), "ist das Sonderbarste
dies: Welcher Art auch die sie zusammensetzenden Individuen sein mögen, wie
ähnlich oder unähnlich ihre Lebensweise, Beschäftigung, ihr Charakter oder ihre
Intelligenz ist, durch den bloßen Umstand ihrer Umformung zur Masse besitzen
sie eine Art Kollektivseele, vermöge deren sie in ganz anderer Weise fühlen,
denken und handeln, als jeder von ihnen für sich fühlen, denken und handeln
würde." Als wichtigste Ursache der Massenbildung bezeichnet Le Bon die
Suggestibilität, die in den zur "Masse" vereinigten Individuen "besondere Eigen¬
schaften hervorruft, welche denen des isolierten Individuums völlig entgegengesetzt
sind". S. 17: "So sieht man Geschworene Urteile abgeben, die jeder Geschworene
einzeln mißbilligen würde, Parlamente Gesetze und Maßnahmen annehmen, die
jedes Mitglied als einzelner ablehnen würde. Die Männer des Konvents waren
jeder für sich aufgeklärte Bürger mit friedlichen Gewohnheiten. Zur Masse
vereinigt, zauberten sie nicht, die grausamsten Vorschläge zu billigen, die offen¬
bar unschuldigsten Individuen aufs Schafott zu schicken und im Gegensatz zu
allen ihren Interessen auf ihre Unverletzlichkeit zu verzichten und sich selbst zu
dezimieren." Aber wesentlich erleichtert und gefördert wird die Bildung einer
"Masse", wie ebenfalls Le Bon zutreffend ausführt, durch den Untergrund einer
gemeinsamen Rassenangehörigkeit. Erst wenn die "Massenseele" zur Volksseele
wird, haben wir die Naturgewalt, die die einzig zuverlässige Triebkraft für die
Maschinerie der Politik bildet, solange die Nassenkraft des Volkes vorhält. Aber


Biologie und Politik

Staaten als etwas Entsprechendes betrachten wollten, würden wir einen ver¬
hängnisvollen Fehler machen. Vor allen Dingen fehlt die generative Geschlossen¬
heit dieser Tierstaaten. Wie wir uns aber auch die Entstehung der menschlichen
Staaten denken mögen, die biologische Grundlage ist jedenfalls auch hier der allem
Lebenden innewohnende Trieb zur Vergesellschaftung. Dieser Trieb ist ebenso
elementar wie der Selbsterhaltungstrieb, oder besser der Trieb zur Selbst¬
behauptung, der zum allgemeinen Wettbewerb, zum „Kampf ums Dasein" führt,
und kann nicht wegen eines etwaigen Nutzens erst durch letzteren entstanden sein.
Es würde zu weit führen, diese Behauptung hier aus Tatsachen des tierischen
Lebens abzuleiten; es genügt, darauf hinzuweisen, daß er auch beim Menschen
noch unmittelbar wirksam ist, auch gegen das Prinzip der Selbstbehauptung und
unabhängig von der Herausbildung einer natürlichen Einheit höherer Ordnung,
Familie, Horde, Volksstamm, bei denen der Trieb zur Selbstbehauptung, zum
Kollektivegoismus erweitert ist. Es handelt sich um die im öffentlichen Leben
fast täglich zu beobachtende Neigung der Menschheit, eine „Masse" zu bilden
im Sinne von Gustave Le Bon, dessen lehrreiche Ausführungen („Psychologie
der Massen", deutsch von Rud. Eifler, Leipzig 1908) allen Politikern zur
wiederholten Lesung dringend empfohlen werden können, wenn auch seine Auf¬
fassung der Rasse naturwissenschaftlich auf schwachen Füßen steht und seine
Schlußbetrachtungen über Werden und Verfall der Kulturen dadurch sehr an¬
greifbar werden.

„An einer psychologischen Masse", sagt er (S. 12), „ist das Sonderbarste
dies: Welcher Art auch die sie zusammensetzenden Individuen sein mögen, wie
ähnlich oder unähnlich ihre Lebensweise, Beschäftigung, ihr Charakter oder ihre
Intelligenz ist, durch den bloßen Umstand ihrer Umformung zur Masse besitzen
sie eine Art Kollektivseele, vermöge deren sie in ganz anderer Weise fühlen,
denken und handeln, als jeder von ihnen für sich fühlen, denken und handeln
würde." Als wichtigste Ursache der Massenbildung bezeichnet Le Bon die
Suggestibilität, die in den zur „Masse" vereinigten Individuen „besondere Eigen¬
schaften hervorruft, welche denen des isolierten Individuums völlig entgegengesetzt
sind". S. 17: „So sieht man Geschworene Urteile abgeben, die jeder Geschworene
einzeln mißbilligen würde, Parlamente Gesetze und Maßnahmen annehmen, die
jedes Mitglied als einzelner ablehnen würde. Die Männer des Konvents waren
jeder für sich aufgeklärte Bürger mit friedlichen Gewohnheiten. Zur Masse
vereinigt, zauberten sie nicht, die grausamsten Vorschläge zu billigen, die offen¬
bar unschuldigsten Individuen aufs Schafott zu schicken und im Gegensatz zu
allen ihren Interessen auf ihre Unverletzlichkeit zu verzichten und sich selbst zu
dezimieren." Aber wesentlich erleichtert und gefördert wird die Bildung einer
„Masse", wie ebenfalls Le Bon zutreffend ausführt, durch den Untergrund einer
gemeinsamen Rassenangehörigkeit. Erst wenn die „Massenseele" zur Volksseele
wird, haben wir die Naturgewalt, die die einzig zuverlässige Triebkraft für die
Maschinerie der Politik bildet, solange die Nassenkraft des Volkes vorhält. Aber


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[0158] Biologie und Politik Staaten als etwas Entsprechendes betrachten wollten, würden wir einen ver¬ hängnisvollen Fehler machen. Vor allen Dingen fehlt die generative Geschlossen¬ heit dieser Tierstaaten. Wie wir uns aber auch die Entstehung der menschlichen Staaten denken mögen, die biologische Grundlage ist jedenfalls auch hier der allem Lebenden innewohnende Trieb zur Vergesellschaftung. Dieser Trieb ist ebenso elementar wie der Selbsterhaltungstrieb, oder besser der Trieb zur Selbst¬ behauptung, der zum allgemeinen Wettbewerb, zum „Kampf ums Dasein" führt, und kann nicht wegen eines etwaigen Nutzens erst durch letzteren entstanden sein. Es würde zu weit führen, diese Behauptung hier aus Tatsachen des tierischen Lebens abzuleiten; es genügt, darauf hinzuweisen, daß er auch beim Menschen noch unmittelbar wirksam ist, auch gegen das Prinzip der Selbstbehauptung und unabhängig von der Herausbildung einer natürlichen Einheit höherer Ordnung, Familie, Horde, Volksstamm, bei denen der Trieb zur Selbstbehauptung, zum Kollektivegoismus erweitert ist. Es handelt sich um die im öffentlichen Leben fast täglich zu beobachtende Neigung der Menschheit, eine „Masse" zu bilden im Sinne von Gustave Le Bon, dessen lehrreiche Ausführungen („Psychologie der Massen", deutsch von Rud. Eifler, Leipzig 1908) allen Politikern zur wiederholten Lesung dringend empfohlen werden können, wenn auch seine Auf¬ fassung der Rasse naturwissenschaftlich auf schwachen Füßen steht und seine Schlußbetrachtungen über Werden und Verfall der Kulturen dadurch sehr an¬ greifbar werden. „An einer psychologischen Masse", sagt er (S. 12), „ist das Sonderbarste dies: Welcher Art auch die sie zusammensetzenden Individuen sein mögen, wie ähnlich oder unähnlich ihre Lebensweise, Beschäftigung, ihr Charakter oder ihre Intelligenz ist, durch den bloßen Umstand ihrer Umformung zur Masse besitzen sie eine Art Kollektivseele, vermöge deren sie in ganz anderer Weise fühlen, denken und handeln, als jeder von ihnen für sich fühlen, denken und handeln würde." Als wichtigste Ursache der Massenbildung bezeichnet Le Bon die Suggestibilität, die in den zur „Masse" vereinigten Individuen „besondere Eigen¬ schaften hervorruft, welche denen des isolierten Individuums völlig entgegengesetzt sind". S. 17: „So sieht man Geschworene Urteile abgeben, die jeder Geschworene einzeln mißbilligen würde, Parlamente Gesetze und Maßnahmen annehmen, die jedes Mitglied als einzelner ablehnen würde. Die Männer des Konvents waren jeder für sich aufgeklärte Bürger mit friedlichen Gewohnheiten. Zur Masse vereinigt, zauberten sie nicht, die grausamsten Vorschläge zu billigen, die offen¬ bar unschuldigsten Individuen aufs Schafott zu schicken und im Gegensatz zu allen ihren Interessen auf ihre Unverletzlichkeit zu verzichten und sich selbst zu dezimieren." Aber wesentlich erleichtert und gefördert wird die Bildung einer „Masse", wie ebenfalls Le Bon zutreffend ausführt, durch den Untergrund einer gemeinsamen Rassenangehörigkeit. Erst wenn die „Massenseele" zur Volksseele wird, haben wir die Naturgewalt, die die einzig zuverlässige Triebkraft für die Maschinerie der Politik bildet, solange die Nassenkraft des Volkes vorhält. Aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/158>, abgerufen am 17.06.2024.