Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der rote Rausch

ganze wellige Land ist ein solches Umfinken wie von zahllosen Ohnmachten; jetzt
steht es vor der Tür, und jetzt, jetzt, jetzt kann das Unfaßbare geschehen . . .

Panik!

In grellen Zügen war sie um jeden verzerrten Mund gemalt, in jedes ent¬
setzte Menschenantlitz, in das friedfertige Bild der Landschaft.

Jeder Schatten war eine Drohung, jeder Hohlweg eine lauernde Gefahr, und
von den Weinbergshöhen sah der Tod mit hunderttausend hohlen Augen herab.
In den Gärten wurde die Blume des Hasses gebrochen.

Das gelbe Winzerhorn, dieser schmetternde Messingvogel, schrie Tag aus
Tag ein. Es war ein Symbol der Wachsamkeit.

"Siehst du nichts?" begehrte das Horn des einen Hügels angstvoll zu wissen.

"Ich sehe nichts!" schmetterte das Horn des anderen Hügels zurück. Und
von Hügel zu Hügel ging der klägliche Schrei des starren Vogels übers Land,
eine Panik in der blaugoldenen Luft.

Die Landschaft atmete tiefen Frieden.

Wie lange noch? Dann wird jeder Weinstock lebendig, in seinen Blntter-
fingern hält er nicht die süße Traube, sondern blitzende Bajonette; in langen
Kolonnen eilt es von den Höhen herab :

Soldaten!

"Ninon, Nana, Lolotte, Ninette, Marianne, Susanne, Babette--1"

Selbst die friedfertigsten Seelen gerieten außer sich über die Nachricht, daß
Militär nach den südlichen Provinzen geschickt werden solle, um die "Ruhe"
wieder herzustellen.

In allen Straßen, in allen Orten, wo zwei Menschen zusammentrafen, war
die eine Frage:

"Warum? Warum?"

Perpignan war überflutet von Menschen. Die Führer waren verhaftet,
Marcellin war in die Höhle des Löwen gegangen, die "Garantien" zu holen;
statt "Garantien" sollte Militär geschickt werden. Grausamer Hohn!

Neue Führer waren aufgetaucht und redeten von den Dächern herab. Jeder
wollte die Wonnen der Macht genießen, der Macht über Hunderttausende Beifall
brüllender Menschen.

"Mitbürger, haben wir mehr verlangt als unser Recht? Nein! Haben wir
den Frieden gestört? Sind wir Revolutionäre? Nein! Wir sind friedliebende
Bürger. Revolutionäre sind jene, die unser Recht mit Füßen treten und die mit
bewaffneter Hand in unsere Gärten einbrechen wollen. Müssen wir uns die
Schmach gefallen lassen? Nein! Räuber sind sie und Mörder. Wir werden uns
zu schützen wissen, Gott mit uns!"

"Sie kommen!" schrie einer, von Angst erfaßt.

"Sie kommen!" schrie das Echo hundertfach; ein Drängen, Stoßen, Flüchten
begann.

"Trapp, trapp! Horcht, der Boden zittert unter den Tritten!" Einige legten
das Ohr an die Erde.

"Einbildung!"

"Siehst du nichts?" trompeteten die Winzerhörner. "Ich sehe nichts!" klang
es von den fernen Hügeln herüber.


Der rote Rausch

ganze wellige Land ist ein solches Umfinken wie von zahllosen Ohnmachten; jetzt
steht es vor der Tür, und jetzt, jetzt, jetzt kann das Unfaßbare geschehen . . .

Panik!

In grellen Zügen war sie um jeden verzerrten Mund gemalt, in jedes ent¬
setzte Menschenantlitz, in das friedfertige Bild der Landschaft.

Jeder Schatten war eine Drohung, jeder Hohlweg eine lauernde Gefahr, und
von den Weinbergshöhen sah der Tod mit hunderttausend hohlen Augen herab.
In den Gärten wurde die Blume des Hasses gebrochen.

Das gelbe Winzerhorn, dieser schmetternde Messingvogel, schrie Tag aus
Tag ein. Es war ein Symbol der Wachsamkeit.

„Siehst du nichts?" begehrte das Horn des einen Hügels angstvoll zu wissen.

„Ich sehe nichts!" schmetterte das Horn des anderen Hügels zurück. Und
von Hügel zu Hügel ging der klägliche Schrei des starren Vogels übers Land,
eine Panik in der blaugoldenen Luft.

Die Landschaft atmete tiefen Frieden.

Wie lange noch? Dann wird jeder Weinstock lebendig, in seinen Blntter-
fingern hält er nicht die süße Traube, sondern blitzende Bajonette; in langen
Kolonnen eilt es von den Höhen herab :

Soldaten!

„Ninon, Nana, Lolotte, Ninette, Marianne, Susanne, Babette--1"

Selbst die friedfertigsten Seelen gerieten außer sich über die Nachricht, daß
Militär nach den südlichen Provinzen geschickt werden solle, um die „Ruhe"
wieder herzustellen.

In allen Straßen, in allen Orten, wo zwei Menschen zusammentrafen, war
die eine Frage:

„Warum? Warum?"

Perpignan war überflutet von Menschen. Die Führer waren verhaftet,
Marcellin war in die Höhle des Löwen gegangen, die „Garantien" zu holen;
statt „Garantien" sollte Militär geschickt werden. Grausamer Hohn!

Neue Führer waren aufgetaucht und redeten von den Dächern herab. Jeder
wollte die Wonnen der Macht genießen, der Macht über Hunderttausende Beifall
brüllender Menschen.

„Mitbürger, haben wir mehr verlangt als unser Recht? Nein! Haben wir
den Frieden gestört? Sind wir Revolutionäre? Nein! Wir sind friedliebende
Bürger. Revolutionäre sind jene, die unser Recht mit Füßen treten und die mit
bewaffneter Hand in unsere Gärten einbrechen wollen. Müssen wir uns die
Schmach gefallen lassen? Nein! Räuber sind sie und Mörder. Wir werden uns
zu schützen wissen, Gott mit uns!"

„Sie kommen!" schrie einer, von Angst erfaßt.

„Sie kommen!" schrie das Echo hundertfach; ein Drängen, Stoßen, Flüchten
begann.

„Trapp, trapp! Horcht, der Boden zittert unter den Tritten!" Einige legten
das Ohr an die Erde.

„Einbildung!"

„Siehst du nichts?" trompeteten die Winzerhörner. „Ich sehe nichts!" klang
es von den fernen Hügeln herüber.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0179" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318462"/>
          <fw type="header" place="top"> Der rote Rausch</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_774" prev="#ID_773"> ganze wellige Land ist ein solches Umfinken wie von zahllosen Ohnmachten; jetzt<lb/>
steht es vor der Tür, und jetzt, jetzt, jetzt kann das Unfaßbare geschehen . . .</p><lb/>
          <p xml:id="ID_775"> Panik!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_776"> In grellen Zügen war sie um jeden verzerrten Mund gemalt, in jedes ent¬<lb/>
setzte Menschenantlitz, in das friedfertige Bild der Landschaft.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_777"> Jeder Schatten war eine Drohung, jeder Hohlweg eine lauernde Gefahr, und<lb/>
von den Weinbergshöhen sah der Tod mit hunderttausend hohlen Augen herab.<lb/>
In den Gärten wurde die Blume des Hasses gebrochen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_778"> Das gelbe Winzerhorn, dieser schmetternde Messingvogel, schrie Tag aus<lb/>
Tag ein. Es war ein Symbol der Wachsamkeit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_779"> &#x201E;Siehst du nichts?" begehrte das Horn des einen Hügels angstvoll zu wissen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_780"> &#x201E;Ich sehe nichts!" schmetterte das Horn des anderen Hügels zurück. Und<lb/>
von Hügel zu Hügel ging der klägliche Schrei des starren Vogels übers Land,<lb/>
eine Panik in der blaugoldenen Luft.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_781"> Die Landschaft atmete tiefen Frieden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_782"> Wie lange noch? Dann wird jeder Weinstock lebendig, in seinen Blntter-<lb/>
fingern hält er nicht die süße Traube, sondern blitzende Bajonette; in langen<lb/>
Kolonnen eilt es von den Höhen herab :</p><lb/>
          <p xml:id="ID_783"> Soldaten!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_784"> &#x201E;Ninon, Nana, Lolotte, Ninette, Marianne, Susanne, Babette--1"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_785"> Selbst die friedfertigsten Seelen gerieten außer sich über die Nachricht, daß<lb/>
Militär nach den südlichen Provinzen geschickt werden solle, um die &#x201E;Ruhe"<lb/>
wieder herzustellen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_786"> In allen Straßen, in allen Orten, wo zwei Menschen zusammentrafen, war<lb/>
die eine Frage:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_787"> &#x201E;Warum? Warum?"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_788"> Perpignan war überflutet von Menschen. Die Führer waren verhaftet,<lb/>
Marcellin war in die Höhle des Löwen gegangen, die &#x201E;Garantien" zu holen;<lb/>
statt &#x201E;Garantien" sollte Militär geschickt werden. Grausamer Hohn!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_789"> Neue Führer waren aufgetaucht und redeten von den Dächern herab. Jeder<lb/>
wollte die Wonnen der Macht genießen, der Macht über Hunderttausende Beifall<lb/>
brüllender Menschen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_790"> &#x201E;Mitbürger, haben wir mehr verlangt als unser Recht? Nein! Haben wir<lb/>
den Frieden gestört? Sind wir Revolutionäre? Nein! Wir sind friedliebende<lb/>
Bürger. Revolutionäre sind jene, die unser Recht mit Füßen treten und die mit<lb/>
bewaffneter Hand in unsere Gärten einbrechen wollen. Müssen wir uns die<lb/>
Schmach gefallen lassen? Nein! Räuber sind sie und Mörder. Wir werden uns<lb/>
zu schützen wissen, Gott mit uns!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_791"> &#x201E;Sie kommen!" schrie einer, von Angst erfaßt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_792"> &#x201E;Sie kommen!" schrie das Echo hundertfach; ein Drängen, Stoßen, Flüchten<lb/>
begann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_793"> &#x201E;Trapp, trapp! Horcht, der Boden zittert unter den Tritten!" Einige legten<lb/>
das Ohr an die Erde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_794"> &#x201E;Einbildung!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_795"> &#x201E;Siehst du nichts?" trompeteten die Winzerhörner. &#x201E;Ich sehe nichts!" klang<lb/>
es von den fernen Hügeln herüber.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0179] Der rote Rausch ganze wellige Land ist ein solches Umfinken wie von zahllosen Ohnmachten; jetzt steht es vor der Tür, und jetzt, jetzt, jetzt kann das Unfaßbare geschehen . . . Panik! In grellen Zügen war sie um jeden verzerrten Mund gemalt, in jedes ent¬ setzte Menschenantlitz, in das friedfertige Bild der Landschaft. Jeder Schatten war eine Drohung, jeder Hohlweg eine lauernde Gefahr, und von den Weinbergshöhen sah der Tod mit hunderttausend hohlen Augen herab. In den Gärten wurde die Blume des Hasses gebrochen. Das gelbe Winzerhorn, dieser schmetternde Messingvogel, schrie Tag aus Tag ein. Es war ein Symbol der Wachsamkeit. „Siehst du nichts?" begehrte das Horn des einen Hügels angstvoll zu wissen. „Ich sehe nichts!" schmetterte das Horn des anderen Hügels zurück. Und von Hügel zu Hügel ging der klägliche Schrei des starren Vogels übers Land, eine Panik in der blaugoldenen Luft. Die Landschaft atmete tiefen Frieden. Wie lange noch? Dann wird jeder Weinstock lebendig, in seinen Blntter- fingern hält er nicht die süße Traube, sondern blitzende Bajonette; in langen Kolonnen eilt es von den Höhen herab : Soldaten! „Ninon, Nana, Lolotte, Ninette, Marianne, Susanne, Babette--1" Selbst die friedfertigsten Seelen gerieten außer sich über die Nachricht, daß Militär nach den südlichen Provinzen geschickt werden solle, um die „Ruhe" wieder herzustellen. In allen Straßen, in allen Orten, wo zwei Menschen zusammentrafen, war die eine Frage: „Warum? Warum?" Perpignan war überflutet von Menschen. Die Führer waren verhaftet, Marcellin war in die Höhle des Löwen gegangen, die „Garantien" zu holen; statt „Garantien" sollte Militär geschickt werden. Grausamer Hohn! Neue Führer waren aufgetaucht und redeten von den Dächern herab. Jeder wollte die Wonnen der Macht genießen, der Macht über Hunderttausende Beifall brüllender Menschen. „Mitbürger, haben wir mehr verlangt als unser Recht? Nein! Haben wir den Frieden gestört? Sind wir Revolutionäre? Nein! Wir sind friedliebende Bürger. Revolutionäre sind jene, die unser Recht mit Füßen treten und die mit bewaffneter Hand in unsere Gärten einbrechen wollen. Müssen wir uns die Schmach gefallen lassen? Nein! Räuber sind sie und Mörder. Wir werden uns zu schützen wissen, Gott mit uns!" „Sie kommen!" schrie einer, von Angst erfaßt. „Sie kommen!" schrie das Echo hundertfach; ein Drängen, Stoßen, Flüchten begann. „Trapp, trapp! Horcht, der Boden zittert unter den Tritten!" Einige legten das Ohr an die Erde. „Einbildung!" „Siehst du nichts?" trompeteten die Winzerhörner. „Ich sehe nichts!" klang es von den fernen Hügeln herüber.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/179
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/179>, abgerufen am 17.06.2024.