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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Botaniker, daß die Autogamie die normale und
ausreichende Bestäubungsweise der Zwitter¬
blüten wäre, war schon durch das Knightsche
Gesetz und später bor allem durch Darwin
berworfen worden. Kirchner zeigt, wie höchst
mannigfaltig sich die verschiedenen Arten der
Blütenpflanzen nach neueren Erfahrungen
gerade in der Ausbildung und Verwendung
der beiden Bestäubungsformen, der Auto¬
gamie und der Allogmnie, verhalten. Als
Vermittler der Bestäubung kommen bei fast
80 Prozent der mitteleuropäisclien Blüten-
Pflanzen Insekten in Betracht. Augenfälligkeit
und Düfte sind es, die für die Blumen die
Reklame besorgen, dagegen kann erst die dar¬
gebotene Nahrung, der Nektar und der Pollen,
die Tiere zu regelmäßigen! Besuch und zur
allmählichen Anpassung an die Bluteneinrich-
tungeu veranlassen, wofür die Blumengäste
dann dem wichtigen Borgang der Bestäubung
dienstbar gemacht werden. In der Tierklasse
der Insekten kommen hauptsächlich Hautflügler,
Schmetterlinge, Zweiflügler und Käfer in
Betracht, die sich bald sehr stark, bald in
weniger ausgeprägter Weise der Gewinnung
bon Blumennahrung angepaßt haben. Große
Vollkommenheit zeigen die Immen, deren in¬
telligenteste Vertreter, dieBienen und Hummeln,
hier einer näheren, sehr lehrreichen Betrachtung
unterzogen werden. Die weitere Untersuchung
der Anpassung bon Blumen und Insekten an¬
einander führt auch Kirchner zur Aufstellung
der schon bon H. Müller umgrenzten Blumen¬
klassen. Es lassen sich zunächst zwei große
Hauptgruppen erkennen, deren erste diejenigen
Blumenklassen umfaßt, bei denen besondere
Anpassung an einen engeren Kreis von Be¬
suchern noch nicht hervortritt und die Blumen
den Insekten der verschiedensten Ordnungen
zugänglich sind. Die zweite Hauptgruppe
wird von Blumen gebildet, welche Anpassung
an bestimmte, begrenzte Besucherkreise unter
mehr oder weniger vollständigem Ausschluß
anderer Insekten zeigen, also auf einer höheren
Anpnssungsstufe stehen. Aus dem gewaltigen
Beobachtungsmaterial über die Bestäubungs¬
einrichtungen der Blüten und die Arten, Aus¬
rüstungen und Gewohnheiten der Besucher,
das sich seit der Aufstellung der Darwinschen
und H. Müllerschen Theoreme angesammelt
hat, zieht Kirchner nur besonders typische und

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interessante Einzelheiten zur näheren Be¬
trachtung heran. Zahlreiche frühere An¬
schauungen werden nach dem veränderten
Standpunkt des Wissens neu formuliert. Als
gesichertes Ergebnis der blumenstatistischen
Zusammenstellungen wird die Feststellung der
überall herrschenden Harmonie zwischen Blu¬
meneinrichtung und Blumenbesuchern, nicht
nur im einzelnen, sondern auch zwischen
Blumenklassen und Besucherklassen, hingestellt.
Die Frage nach den Ursachen gegenseitiger
Anpassung von Blumen und Insekten hat seit
Beginn der Blumenforschuug je nach dem
Stande naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu
verschiedenen Lösungsversuchen geführt. Wie
alle Zweige der biologischen Wissenschaften, so
wurde auch die Blütenökologie besonders im
Zeichen der von Darwin begründeten Selek-
tionslohre weiter entwickelt. Kirchner kommt
zu der Ansicht, daß eine rein mechanische Er¬
klärung für die Entstehung der gegenseitigen
Anpassung bon Blumen und Insekten, wie sie
H. Müller mit großem Scharfsinn versucht
hat, das Rätsel nicht zu lösen imstande ist,
sondern daß in den Organismen selbst liegende
Kräfte, mögen sie als "Vervollkommnungs¬
trieb", als "Empfinden eines Bedürfnisses"
und als "zweckmäßiges" Reagieren darauf
oder anders bezeichnet werden, mitwirkend in
Tätigkeit treten. Die überall vorzügliche Ver¬
ständlichkeit der Darstellung wird dem Werke
auch in Laienkreisen zahlreiche Freunde er¬
werben. Die vielen und fast alle vom Ver¬
fasser nach der Natur gezeichneten Abbildungen
veranschaulichen die Ausführungen in sehr
p. geschickter Weise.

Eine Frage, die schon manchem gewissen¬
haften Arzte schweres Kopfzerbrechen gemacht
hat, ist die, wieweit ein ernstlich Kranker über
die Natur seines Leidens und die Möglich¬
keiten des Verlaufes aufzuklären sei. Und
sofern er nicht nur Krankheiten kennt, sondern
Kranke, wird er oft auf die Gefahr hin, bei
ungünstiger Wendung blamiert zu scheinen,
es vorziehen, seine Besorgnisse größtenteils
für sich zu behalte", nur um seinen? Patienten
Lebensmut und Hoffnung nicht zu rauben;
denn diese beiden kennt er als seine mäch¬
tigsten Bundesgenossen. -- Noch weit bren¬
nender wird diese Frage demjenigen ans die

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Botaniker, daß die Autogamie die normale und
ausreichende Bestäubungsweise der Zwitter¬
blüten wäre, war schon durch das Knightsche
Gesetz und später bor allem durch Darwin
berworfen worden. Kirchner zeigt, wie höchst
mannigfaltig sich die verschiedenen Arten der
Blütenpflanzen nach neueren Erfahrungen
gerade in der Ausbildung und Verwendung
der beiden Bestäubungsformen, der Auto¬
gamie und der Allogmnie, verhalten. Als
Vermittler der Bestäubung kommen bei fast
80 Prozent der mitteleuropäisclien Blüten-
Pflanzen Insekten in Betracht. Augenfälligkeit
und Düfte sind es, die für die Blumen die
Reklame besorgen, dagegen kann erst die dar¬
gebotene Nahrung, der Nektar und der Pollen,
die Tiere zu regelmäßigen! Besuch und zur
allmählichen Anpassung an die Bluteneinrich-
tungeu veranlassen, wofür die Blumengäste
dann dem wichtigen Borgang der Bestäubung
dienstbar gemacht werden. In der Tierklasse
der Insekten kommen hauptsächlich Hautflügler,
Schmetterlinge, Zweiflügler und Käfer in
Betracht, die sich bald sehr stark, bald in
weniger ausgeprägter Weise der Gewinnung
bon Blumennahrung angepaßt haben. Große
Vollkommenheit zeigen die Immen, deren in¬
telligenteste Vertreter, dieBienen und Hummeln,
hier einer näheren, sehr lehrreichen Betrachtung
unterzogen werden. Die weitere Untersuchung
der Anpassung bon Blumen und Insekten an¬
einander führt auch Kirchner zur Aufstellung
der schon bon H. Müller umgrenzten Blumen¬
klassen. Es lassen sich zunächst zwei große
Hauptgruppen erkennen, deren erste diejenigen
Blumenklassen umfaßt, bei denen besondere
Anpassung an einen engeren Kreis von Be¬
suchern noch nicht hervortritt und die Blumen
den Insekten der verschiedensten Ordnungen
zugänglich sind. Die zweite Hauptgruppe
wird von Blumen gebildet, welche Anpassung
an bestimmte, begrenzte Besucherkreise unter
mehr oder weniger vollständigem Ausschluß
anderer Insekten zeigen, also auf einer höheren
Anpnssungsstufe stehen. Aus dem gewaltigen
Beobachtungsmaterial über die Bestäubungs¬
einrichtungen der Blüten und die Arten, Aus¬
rüstungen und Gewohnheiten der Besucher,
das sich seit der Aufstellung der Darwinschen
und H. Müllerschen Theoreme angesammelt
hat, zieht Kirchner nur besonders typische und

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interessante Einzelheiten zur näheren Be¬
trachtung heran. Zahlreiche frühere An¬
schauungen werden nach dem veränderten
Standpunkt des Wissens neu formuliert. Als
gesichertes Ergebnis der blumenstatistischen
Zusammenstellungen wird die Feststellung der
überall herrschenden Harmonie zwischen Blu¬
meneinrichtung und Blumenbesuchern, nicht
nur im einzelnen, sondern auch zwischen
Blumenklassen und Besucherklassen, hingestellt.
Die Frage nach den Ursachen gegenseitiger
Anpassung von Blumen und Insekten hat seit
Beginn der Blumenforschuug je nach dem
Stande naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu
verschiedenen Lösungsversuchen geführt. Wie
alle Zweige der biologischen Wissenschaften, so
wurde auch die Blütenökologie besonders im
Zeichen der von Darwin begründeten Selek-
tionslohre weiter entwickelt. Kirchner kommt
zu der Ansicht, daß eine rein mechanische Er¬
klärung für die Entstehung der gegenseitigen
Anpassung bon Blumen und Insekten, wie sie
H. Müller mit großem Scharfsinn versucht
hat, das Rätsel nicht zu lösen imstande ist,
sondern daß in den Organismen selbst liegende
Kräfte, mögen sie als „Vervollkommnungs¬
trieb", als „Empfinden eines Bedürfnisses"
und als „zweckmäßiges" Reagieren darauf
oder anders bezeichnet werden, mitwirkend in
Tätigkeit treten. Die überall vorzügliche Ver¬
ständlichkeit der Darstellung wird dem Werke
auch in Laienkreisen zahlreiche Freunde er¬
werben. Die vielen und fast alle vom Ver¬
fasser nach der Natur gezeichneten Abbildungen
veranschaulichen die Ausführungen in sehr
p. geschickter Weise.

Eine Frage, die schon manchem gewissen¬
haften Arzte schweres Kopfzerbrechen gemacht
hat, ist die, wieweit ein ernstlich Kranker über
die Natur seines Leidens und die Möglich¬
keiten des Verlaufes aufzuklären sei. Und
sofern er nicht nur Krankheiten kennt, sondern
Kranke, wird er oft auf die Gefahr hin, bei
ungünstiger Wendung blamiert zu scheinen,
es vorziehen, seine Besorgnisse größtenteils
für sich zu behalte», nur um seinen? Patienten
Lebensmut und Hoffnung nicht zu rauben;
denn diese beiden kennt er als seine mäch¬
tigsten Bundesgenossen. — Noch weit bren¬
nender wird diese Frage demjenigen ans die

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[0287] Maßgebliches und Unmaßgebliches Botaniker, daß die Autogamie die normale und ausreichende Bestäubungsweise der Zwitter¬ blüten wäre, war schon durch das Knightsche Gesetz und später bor allem durch Darwin berworfen worden. Kirchner zeigt, wie höchst mannigfaltig sich die verschiedenen Arten der Blütenpflanzen nach neueren Erfahrungen gerade in der Ausbildung und Verwendung der beiden Bestäubungsformen, der Auto¬ gamie und der Allogmnie, verhalten. Als Vermittler der Bestäubung kommen bei fast 80 Prozent der mitteleuropäisclien Blüten- Pflanzen Insekten in Betracht. Augenfälligkeit und Düfte sind es, die für die Blumen die Reklame besorgen, dagegen kann erst die dar¬ gebotene Nahrung, der Nektar und der Pollen, die Tiere zu regelmäßigen! Besuch und zur allmählichen Anpassung an die Bluteneinrich- tungeu veranlassen, wofür die Blumengäste dann dem wichtigen Borgang der Bestäubung dienstbar gemacht werden. In der Tierklasse der Insekten kommen hauptsächlich Hautflügler, Schmetterlinge, Zweiflügler und Käfer in Betracht, die sich bald sehr stark, bald in weniger ausgeprägter Weise der Gewinnung bon Blumennahrung angepaßt haben. Große Vollkommenheit zeigen die Immen, deren in¬ telligenteste Vertreter, dieBienen und Hummeln, hier einer näheren, sehr lehrreichen Betrachtung unterzogen werden. Die weitere Untersuchung der Anpassung bon Blumen und Insekten an¬ einander führt auch Kirchner zur Aufstellung der schon bon H. Müller umgrenzten Blumen¬ klassen. Es lassen sich zunächst zwei große Hauptgruppen erkennen, deren erste diejenigen Blumenklassen umfaßt, bei denen besondere Anpassung an einen engeren Kreis von Be¬ suchern noch nicht hervortritt und die Blumen den Insekten der verschiedensten Ordnungen zugänglich sind. Die zweite Hauptgruppe wird von Blumen gebildet, welche Anpassung an bestimmte, begrenzte Besucherkreise unter mehr oder weniger vollständigem Ausschluß anderer Insekten zeigen, also auf einer höheren Anpnssungsstufe stehen. Aus dem gewaltigen Beobachtungsmaterial über die Bestäubungs¬ einrichtungen der Blüten und die Arten, Aus¬ rüstungen und Gewohnheiten der Besucher, das sich seit der Aufstellung der Darwinschen und H. Müllerschen Theoreme angesammelt hat, zieht Kirchner nur besonders typische und interessante Einzelheiten zur näheren Be¬ trachtung heran. Zahlreiche frühere An¬ schauungen werden nach dem veränderten Standpunkt des Wissens neu formuliert. Als gesichertes Ergebnis der blumenstatistischen Zusammenstellungen wird die Feststellung der überall herrschenden Harmonie zwischen Blu¬ meneinrichtung und Blumenbesuchern, nicht nur im einzelnen, sondern auch zwischen Blumenklassen und Besucherklassen, hingestellt. Die Frage nach den Ursachen gegenseitiger Anpassung von Blumen und Insekten hat seit Beginn der Blumenforschuug je nach dem Stande naturwissenschaftlicher Erkenntnis zu verschiedenen Lösungsversuchen geführt. Wie alle Zweige der biologischen Wissenschaften, so wurde auch die Blütenökologie besonders im Zeichen der von Darwin begründeten Selek- tionslohre weiter entwickelt. Kirchner kommt zu der Ansicht, daß eine rein mechanische Er¬ klärung für die Entstehung der gegenseitigen Anpassung bon Blumen und Insekten, wie sie H. Müller mit großem Scharfsinn versucht hat, das Rätsel nicht zu lösen imstande ist, sondern daß in den Organismen selbst liegende Kräfte, mögen sie als „Vervollkommnungs¬ trieb", als „Empfinden eines Bedürfnisses" und als „zweckmäßiges" Reagieren darauf oder anders bezeichnet werden, mitwirkend in Tätigkeit treten. Die überall vorzügliche Ver¬ ständlichkeit der Darstellung wird dem Werke auch in Laienkreisen zahlreiche Freunde er¬ werben. Die vielen und fast alle vom Ver¬ fasser nach der Natur gezeichneten Abbildungen veranschaulichen die Ausführungen in sehr p. geschickter Weise. Eine Frage, die schon manchem gewissen¬ haften Arzte schweres Kopfzerbrechen gemacht hat, ist die, wieweit ein ernstlich Kranker über die Natur seines Leidens und die Möglich¬ keiten des Verlaufes aufzuklären sei. Und sofern er nicht nur Krankheiten kennt, sondern Kranke, wird er oft auf die Gefahr hin, bei ungünstiger Wendung blamiert zu scheinen, es vorziehen, seine Besorgnisse größtenteils für sich zu behalte», nur um seinen? Patienten Lebensmut und Hoffnung nicht zu rauben; denn diese beiden kennt er als seine mäch¬ tigsten Bundesgenossen. — Noch weit bren¬ nender wird diese Frage demjenigen ans die

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/287>, abgerufen am 09.06.2024.