Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Reichsspiegel

Hollwcg danach trachten würde, gerade den ideellen Bestrebungen in der Nation
gerecht zu werden und alles das zu fördern, was geeignet sei, den Materialismus
zurückzudrängen. Statt dessen zeigt sich der Kanzler als ein Anhänger der
Politik von Fall zu Fall, ohne ein bewußt verfolgtes höheres Ziel. sein Plan
liegt allem Anscheine nach nicht darin, die offen zutage liegenden Schäden
abzustellen und verständige Wünsche der Nation zu befriedigen, sondern einzig
in der Absicht, den lautesten Schreiern oder wenigstens den einflußreichsten den
Mund zu stopfen. Bis zu einem gewissen Grade gelingt solches auch. Es
wird vielleicht auch mit deu angewandten Mitteln möglich werden, eine Stimmung
für die bevorstehenden Wahlen zu schaffen, die von einer gewissen Beruhigung
im Lande zeugt. Aber wie wird die Ruhe aussehen, und um welche Opfer
foll sie erkauft werden?

Elsaß-Lothringen ist das erste Opfer. Ein zwingender Grund, dessen
Verfassung noch während der laufenden Legislaturperiode zu ändern, lag nicht
vor; weder die Liberalen noch anfänglich das Zentrum haben den Kanzler,
gedrängt. Es hätte mit den Verhandlungen bis zum Zusammentritt des neuen
Reichstags Zeit gehabt. Die Nachrichten, die kürzlich verbreitet wurden, wonach
die Frage in den Hafen allseitigen Einverständnisses eingelaufen sei, greifen
allerdings den Tatsachen vor. In der abgelaufenen Woche haben wohl seitens
des Herrn Reichskanzlers mit den maßgebenden Parteiführern Besprechungen
stattgefunden, die die Möglichkeit eines Kompromisses verheißen, aber noch sind,
trotz weiten Entgegenkommens von freikonservativer und liberaler Seite, die
Hindernisse nicht völlig beseitigt.

Ein eigenartiges Licht fällt auf die Stellung der deutschen Reichs- und
preußischen Staatsregierung zum Ultramontanismus durch die Lösung der Frage,
ob die irdischen Reste des Grafen Ledochowski im Dom zu Posen bei¬
gesetzt werden sollen oder nicht. Wie halbamtlich gemeldet wird, hat der Vor¬
mund seineu Antrag auf Beisetzung zurückgezogen, nachdem die Regierung auf
die Erregung in der Presse hingewiesen. Ein moralischer Sieg der Polen!
Denn was die ultramontanen Schürer erreichen wollten, haben sie wenigstens
zum größten Teil erreicht. Sie können uuter Bezugnahme auf die Erörterungen
in der deutschen Presse den Haß der Polen gegen die Deutschen schüren. Das
Verhalten der Regierung, die sich um eine Entscheidung herumdrücken konnte,
werden sie als das kennzeichnen, was es ist, und sich selbst als die Herren der
Lage aufspielen.

Am deutlichsten tritt die neuerliche Schwenkung der Regierungspolitik in
den Ausführungen des preußischen Landwirtschaftsministers in der
Budgetkommission des Abgeordnetenhauses über die Anwendung des Enteignungs¬
gesetzes zutage. Es war eine glatte Absage an den Ostmarkenverein, noch dazu
in so verletzender Form, als sei sie an Reichsfeinde gerichtet. Und doch gehören
dem Verein die besten Männer des Landes an! Gerade aus der Form geht
aber hervor, daß die Regierung bewußt den seit Caprivi verlassenen Weg der


Grenzboten II 1911 36
Reichsspiegel

Hollwcg danach trachten würde, gerade den ideellen Bestrebungen in der Nation
gerecht zu werden und alles das zu fördern, was geeignet sei, den Materialismus
zurückzudrängen. Statt dessen zeigt sich der Kanzler als ein Anhänger der
Politik von Fall zu Fall, ohne ein bewußt verfolgtes höheres Ziel. sein Plan
liegt allem Anscheine nach nicht darin, die offen zutage liegenden Schäden
abzustellen und verständige Wünsche der Nation zu befriedigen, sondern einzig
in der Absicht, den lautesten Schreiern oder wenigstens den einflußreichsten den
Mund zu stopfen. Bis zu einem gewissen Grade gelingt solches auch. Es
wird vielleicht auch mit deu angewandten Mitteln möglich werden, eine Stimmung
für die bevorstehenden Wahlen zu schaffen, die von einer gewissen Beruhigung
im Lande zeugt. Aber wie wird die Ruhe aussehen, und um welche Opfer
foll sie erkauft werden?

Elsaß-Lothringen ist das erste Opfer. Ein zwingender Grund, dessen
Verfassung noch während der laufenden Legislaturperiode zu ändern, lag nicht
vor; weder die Liberalen noch anfänglich das Zentrum haben den Kanzler,
gedrängt. Es hätte mit den Verhandlungen bis zum Zusammentritt des neuen
Reichstags Zeit gehabt. Die Nachrichten, die kürzlich verbreitet wurden, wonach
die Frage in den Hafen allseitigen Einverständnisses eingelaufen sei, greifen
allerdings den Tatsachen vor. In der abgelaufenen Woche haben wohl seitens
des Herrn Reichskanzlers mit den maßgebenden Parteiführern Besprechungen
stattgefunden, die die Möglichkeit eines Kompromisses verheißen, aber noch sind,
trotz weiten Entgegenkommens von freikonservativer und liberaler Seite, die
Hindernisse nicht völlig beseitigt.

Ein eigenartiges Licht fällt auf die Stellung der deutschen Reichs- und
preußischen Staatsregierung zum Ultramontanismus durch die Lösung der Frage,
ob die irdischen Reste des Grafen Ledochowski im Dom zu Posen bei¬
gesetzt werden sollen oder nicht. Wie halbamtlich gemeldet wird, hat der Vor¬
mund seineu Antrag auf Beisetzung zurückgezogen, nachdem die Regierung auf
die Erregung in der Presse hingewiesen. Ein moralischer Sieg der Polen!
Denn was die ultramontanen Schürer erreichen wollten, haben sie wenigstens
zum größten Teil erreicht. Sie können uuter Bezugnahme auf die Erörterungen
in der deutschen Presse den Haß der Polen gegen die Deutschen schüren. Das
Verhalten der Regierung, die sich um eine Entscheidung herumdrücken konnte,
werden sie als das kennzeichnen, was es ist, und sich selbst als die Herren der
Lage aufspielen.

Am deutlichsten tritt die neuerliche Schwenkung der Regierungspolitik in
den Ausführungen des preußischen Landwirtschaftsministers in der
Budgetkommission des Abgeordnetenhauses über die Anwendung des Enteignungs¬
gesetzes zutage. Es war eine glatte Absage an den Ostmarkenverein, noch dazu
in so verletzender Form, als sei sie an Reichsfeinde gerichtet. Und doch gehören
dem Verein die besten Männer des Landes an! Gerade aus der Form geht
aber hervor, daß die Regierung bewußt den seit Caprivi verlassenen Weg der


Grenzboten II 1911 36
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0293" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/318576"/>
            <fw type="header" place="top"> Reichsspiegel</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1400" prev="#ID_1399"> Hollwcg danach trachten würde, gerade den ideellen Bestrebungen in der Nation<lb/>
gerecht zu werden und alles das zu fördern, was geeignet sei, den Materialismus<lb/>
zurückzudrängen. Statt dessen zeigt sich der Kanzler als ein Anhänger der<lb/>
Politik von Fall zu Fall, ohne ein bewußt verfolgtes höheres Ziel. sein Plan<lb/>
liegt allem Anscheine nach nicht darin, die offen zutage liegenden Schäden<lb/>
abzustellen und verständige Wünsche der Nation zu befriedigen, sondern einzig<lb/>
in der Absicht, den lautesten Schreiern oder wenigstens den einflußreichsten den<lb/>
Mund zu stopfen. Bis zu einem gewissen Grade gelingt solches auch. Es<lb/>
wird vielleicht auch mit deu angewandten Mitteln möglich werden, eine Stimmung<lb/>
für die bevorstehenden Wahlen zu schaffen, die von einer gewissen Beruhigung<lb/>
im Lande zeugt. Aber wie wird die Ruhe aussehen, und um welche Opfer<lb/>
foll sie erkauft werden?</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1401"> Elsaß-Lothringen ist das erste Opfer. Ein zwingender Grund, dessen<lb/>
Verfassung noch während der laufenden Legislaturperiode zu ändern, lag nicht<lb/>
vor; weder die Liberalen noch anfänglich das Zentrum haben den Kanzler,<lb/>
gedrängt. Es hätte mit den Verhandlungen bis zum Zusammentritt des neuen<lb/>
Reichstags Zeit gehabt. Die Nachrichten, die kürzlich verbreitet wurden, wonach<lb/>
die Frage in den Hafen allseitigen Einverständnisses eingelaufen sei, greifen<lb/>
allerdings den Tatsachen vor. In der abgelaufenen Woche haben wohl seitens<lb/>
des Herrn Reichskanzlers mit den maßgebenden Parteiführern Besprechungen<lb/>
stattgefunden, die die Möglichkeit eines Kompromisses verheißen, aber noch sind,<lb/>
trotz weiten Entgegenkommens von freikonservativer und liberaler Seite, die<lb/>
Hindernisse nicht völlig beseitigt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1402"> Ein eigenartiges Licht fällt auf die Stellung der deutschen Reichs- und<lb/>
preußischen Staatsregierung zum Ultramontanismus durch die Lösung der Frage,<lb/>
ob die irdischen Reste des Grafen Ledochowski im Dom zu Posen bei¬<lb/>
gesetzt werden sollen oder nicht. Wie halbamtlich gemeldet wird, hat der Vor¬<lb/>
mund seineu Antrag auf Beisetzung zurückgezogen, nachdem die Regierung auf<lb/>
die Erregung in der Presse hingewiesen. Ein moralischer Sieg der Polen!<lb/>
Denn was die ultramontanen Schürer erreichen wollten, haben sie wenigstens<lb/>
zum größten Teil erreicht. Sie können uuter Bezugnahme auf die Erörterungen<lb/>
in der deutschen Presse den Haß der Polen gegen die Deutschen schüren. Das<lb/>
Verhalten der Regierung, die sich um eine Entscheidung herumdrücken konnte,<lb/>
werden sie als das kennzeichnen, was es ist, und sich selbst als die Herren der<lb/>
Lage aufspielen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1403" next="#ID_1404"> Am deutlichsten tritt die neuerliche Schwenkung der Regierungspolitik in<lb/>
den Ausführungen des preußischen Landwirtschaftsministers in der<lb/>
Budgetkommission des Abgeordnetenhauses über die Anwendung des Enteignungs¬<lb/>
gesetzes zutage. Es war eine glatte Absage an den Ostmarkenverein, noch dazu<lb/>
in so verletzender Form, als sei sie an Reichsfeinde gerichtet. Und doch gehören<lb/>
dem Verein die besten Männer des Landes an! Gerade aus der Form geht<lb/>
aber hervor, daß die Regierung bewußt den seit Caprivi verlassenen Weg der</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II 1911 36</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0293] Reichsspiegel Hollwcg danach trachten würde, gerade den ideellen Bestrebungen in der Nation gerecht zu werden und alles das zu fördern, was geeignet sei, den Materialismus zurückzudrängen. Statt dessen zeigt sich der Kanzler als ein Anhänger der Politik von Fall zu Fall, ohne ein bewußt verfolgtes höheres Ziel. sein Plan liegt allem Anscheine nach nicht darin, die offen zutage liegenden Schäden abzustellen und verständige Wünsche der Nation zu befriedigen, sondern einzig in der Absicht, den lautesten Schreiern oder wenigstens den einflußreichsten den Mund zu stopfen. Bis zu einem gewissen Grade gelingt solches auch. Es wird vielleicht auch mit deu angewandten Mitteln möglich werden, eine Stimmung für die bevorstehenden Wahlen zu schaffen, die von einer gewissen Beruhigung im Lande zeugt. Aber wie wird die Ruhe aussehen, und um welche Opfer foll sie erkauft werden? Elsaß-Lothringen ist das erste Opfer. Ein zwingender Grund, dessen Verfassung noch während der laufenden Legislaturperiode zu ändern, lag nicht vor; weder die Liberalen noch anfänglich das Zentrum haben den Kanzler, gedrängt. Es hätte mit den Verhandlungen bis zum Zusammentritt des neuen Reichstags Zeit gehabt. Die Nachrichten, die kürzlich verbreitet wurden, wonach die Frage in den Hafen allseitigen Einverständnisses eingelaufen sei, greifen allerdings den Tatsachen vor. In der abgelaufenen Woche haben wohl seitens des Herrn Reichskanzlers mit den maßgebenden Parteiführern Besprechungen stattgefunden, die die Möglichkeit eines Kompromisses verheißen, aber noch sind, trotz weiten Entgegenkommens von freikonservativer und liberaler Seite, die Hindernisse nicht völlig beseitigt. Ein eigenartiges Licht fällt auf die Stellung der deutschen Reichs- und preußischen Staatsregierung zum Ultramontanismus durch die Lösung der Frage, ob die irdischen Reste des Grafen Ledochowski im Dom zu Posen bei¬ gesetzt werden sollen oder nicht. Wie halbamtlich gemeldet wird, hat der Vor¬ mund seineu Antrag auf Beisetzung zurückgezogen, nachdem die Regierung auf die Erregung in der Presse hingewiesen. Ein moralischer Sieg der Polen! Denn was die ultramontanen Schürer erreichen wollten, haben sie wenigstens zum größten Teil erreicht. Sie können uuter Bezugnahme auf die Erörterungen in der deutschen Presse den Haß der Polen gegen die Deutschen schüren. Das Verhalten der Regierung, die sich um eine Entscheidung herumdrücken konnte, werden sie als das kennzeichnen, was es ist, und sich selbst als die Herren der Lage aufspielen. Am deutlichsten tritt die neuerliche Schwenkung der Regierungspolitik in den Ausführungen des preußischen Landwirtschaftsministers in der Budgetkommission des Abgeordnetenhauses über die Anwendung des Enteignungs¬ gesetzes zutage. Es war eine glatte Absage an den Ostmarkenverein, noch dazu in so verletzender Form, als sei sie an Reichsfeinde gerichtet. Und doch gehören dem Verein die besten Männer des Landes an! Gerade aus der Form geht aber hervor, daß die Regierung bewußt den seit Caprivi verlassenen Weg der Grenzboten II 1911 36

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/293
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/293>, abgerufen am 09.06.2024.