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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr.

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noch ein gleiches Maß- und Gewichtssystem! Deutschland war noch ein rein
agrarischer Staat ohne nennenswerte Industrie, ohne entwickelten Bergbau, ohne
Aussuhrhandel. Man muß sich diese Tatsachen vergegenwärtigen, um das
richtige Augenmaß für die ungeheure Umwälzung zu finden, die sich seitdem
in Deutschland vollzogen hat. Fünfzig Jahre bedeuten in der geschichtlichen
Entwicklung eines Volkes nur eine verschwindend kleine Spanne Zeit -- und
doch hat dieselbe ausgereicht, unser Volk auf eine vollständig andere politische,
wirtschaftliche und finanzielle Basis zu stellen, unser Land zu einem Industrie¬
staat ersten Ranges umzuwandeln und es zu befähigen, dem weltbeherrschenden
Albion den Rang streitig zu machen. Ein solcher Umschwung ist ohne Beispiel
in der Weltgeschichte; ist es verwunderlich, wenn er sich nicht ohne Erschütte¬
rungen und Kämpfe nach innen wie nach außen vollzieht? Der scharfe Gegensatz
der landwirtschaftlichen Interessen zu den Ansprüchen von Handel und Industrie,
welcher unser wirtschaftliches und politisches Leben beherrscht, nicht minder das
Wachstum und die Macht der Sozialdemokratie finden in ihm ihre Erklärung.
Aus der Einsicht in diese Zusammenhänge erwächst uns aber die Gewißheit,
daß heute scheinbar unversöhnbare Interessengegensätze mit der Zeit einen Aus¬
gleich finden werden. Es ist die Pflicht aller einsichtigen Wirtschaftspolitiker,
auf dieses für die Wohlfahrt des Ganzen unerläßliche Ziel hinzuarbeiten, so
wenig dankbar eine solche Aufgabe für den Augenblick auch sein mag. Auch
der Deutsche Handelstag, der heute alle zur Vertretung von Handel und
Industrie berufenen Körperschaften umfaßt, ist von dem mächtigen Zwiespalt
der Interessen nicht immer unberührt geblieben: als unsere Wirtschaftspolitik
zum Schutzzoll überging, traten die Ostseeplätze aus; als den industriellen
Schutzzöllen in den achtziger Jahren die Erhöhung der Getreidezölle folgte, ahmten
wichtige Handelskammern des Binnenlandes, wie Thorn, Nürnberg, Bielefeld,
dieses Beispiel nach. Doch obwohl damals der Präsident Adalbert Delbrück
angesichts dieser Fahnenflucht seinen Rücktritt nehmen wollte, gelang es, den
Handelstag zusammenzuhalten und die abtrünnigen Mitglieder wiederzugewinnen.
Außerordentlich umfangreich und vielseitig ist die Tätigkeit, welche der
Handelstag unter Präsidenten von der Bedeutung eines David, Hansemann,
Delbrück, Frentzel auf dem gesamten Gebiet der wirtschaftlichen Gesetz¬
gebung geleistet hat. Freilich darf eines nicht verschwiegen werden: das
Schwergewicht seiner Gutachten ist im Laufe der Jahre kleiner, sein Einfluß
auf die Gesetzgebung auch in tiefgreifenden Fragen geringer geworden. Die
Proteste des Handelstags in Sachen der Reichssteuergesetze in den neunziger
Jahren, des Börsengesetzes, der Reichsfinanzreform sind ungehört verhallt.
Unzweifelhaft liegt der Grund für diese Erscheinung darin, daß die politischen
Parteien in wachsendem Maße Interessenvertretungen geworden sind, und in
wirtschaftlichen Fragen nach bestimmten Programmpunkten entscheiden, ohne sich
durch die Stellungnahme einer freien Körperschaft, mag sie noch so viel Sach¬
kunde in sich vereinen, im mindesten beeinflussen zu lasse". In, ersten Jahrzehnt


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noch ein gleiches Maß- und Gewichtssystem! Deutschland war noch ein rein
agrarischer Staat ohne nennenswerte Industrie, ohne entwickelten Bergbau, ohne
Aussuhrhandel. Man muß sich diese Tatsachen vergegenwärtigen, um das
richtige Augenmaß für die ungeheure Umwälzung zu finden, die sich seitdem
in Deutschland vollzogen hat. Fünfzig Jahre bedeuten in der geschichtlichen
Entwicklung eines Volkes nur eine verschwindend kleine Spanne Zeit — und
doch hat dieselbe ausgereicht, unser Volk auf eine vollständig andere politische,
wirtschaftliche und finanzielle Basis zu stellen, unser Land zu einem Industrie¬
staat ersten Ranges umzuwandeln und es zu befähigen, dem weltbeherrschenden
Albion den Rang streitig zu machen. Ein solcher Umschwung ist ohne Beispiel
in der Weltgeschichte; ist es verwunderlich, wenn er sich nicht ohne Erschütte¬
rungen und Kämpfe nach innen wie nach außen vollzieht? Der scharfe Gegensatz
der landwirtschaftlichen Interessen zu den Ansprüchen von Handel und Industrie,
welcher unser wirtschaftliches und politisches Leben beherrscht, nicht minder das
Wachstum und die Macht der Sozialdemokratie finden in ihm ihre Erklärung.
Aus der Einsicht in diese Zusammenhänge erwächst uns aber die Gewißheit,
daß heute scheinbar unversöhnbare Interessengegensätze mit der Zeit einen Aus¬
gleich finden werden. Es ist die Pflicht aller einsichtigen Wirtschaftspolitiker,
auf dieses für die Wohlfahrt des Ganzen unerläßliche Ziel hinzuarbeiten, so
wenig dankbar eine solche Aufgabe für den Augenblick auch sein mag. Auch
der Deutsche Handelstag, der heute alle zur Vertretung von Handel und
Industrie berufenen Körperschaften umfaßt, ist von dem mächtigen Zwiespalt
der Interessen nicht immer unberührt geblieben: als unsere Wirtschaftspolitik
zum Schutzzoll überging, traten die Ostseeplätze aus; als den industriellen
Schutzzöllen in den achtziger Jahren die Erhöhung der Getreidezölle folgte, ahmten
wichtige Handelskammern des Binnenlandes, wie Thorn, Nürnberg, Bielefeld,
dieses Beispiel nach. Doch obwohl damals der Präsident Adalbert Delbrück
angesichts dieser Fahnenflucht seinen Rücktritt nehmen wollte, gelang es, den
Handelstag zusammenzuhalten und die abtrünnigen Mitglieder wiederzugewinnen.
Außerordentlich umfangreich und vielseitig ist die Tätigkeit, welche der
Handelstag unter Präsidenten von der Bedeutung eines David, Hansemann,
Delbrück, Frentzel auf dem gesamten Gebiet der wirtschaftlichen Gesetz¬
gebung geleistet hat. Freilich darf eines nicht verschwiegen werden: das
Schwergewicht seiner Gutachten ist im Laufe der Jahre kleiner, sein Einfluß
auf die Gesetzgebung auch in tiefgreifenden Fragen geringer geworden. Die
Proteste des Handelstags in Sachen der Reichssteuergesetze in den neunziger
Jahren, des Börsengesetzes, der Reichsfinanzreform sind ungehört verhallt.
Unzweifelhaft liegt der Grund für diese Erscheinung darin, daß die politischen
Parteien in wachsendem Maße Interessenvertretungen geworden sind, und in
wirtschaftlichen Fragen nach bestimmten Programmpunkten entscheiden, ohne sich
durch die Stellungnahme einer freien Körperschaft, mag sie noch so viel Sach¬
kunde in sich vereinen, im mindesten beeinflussen zu lasse». In, ersten Jahrzehnt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_318282/345>, abgerufen am 17.06.2024.